Früher Abend. Fast noch Nachmittag. Einer dieser gemächlichen Tage. Ich hatte einen Espresso getrunken, in meinem Lieblings-Café mit den einst weiß lackierten, inzwischen leicht verwitterten Korbsesseln, saß jetzt auf einer der grün lackierten Bänke mit Blick auf das Hauptportal der ockerfarbenen Kirche, und tat nichts. Mir gegenüber ein Brunnen in filigranem Jugendstil. Taubenpärchen jagen sich. Ein paar Treppen führen zu einer der Straßen für die Flaneure, die Fußgänger, die Touristen, die Müßiggänger, zur zentralen Plaza del Charco. Ein belebter, großzügiger Platz unter Palmen. Gesäumt von Restaurants aller Art, die Kneipen heißen „Tasca“. Abends dröhnt das Nachtleben. Der Alte Hafen, die Mole, das Meer..nur ein paar Schritte entfernt.
Ich halte ein Buch in der Hand, aufgeschlagen, ohne es zu lesen. Auf einer Bank schräg gegenüber sitzt eine junge Frau und schminkt sich. Oder ist es ein Junge? Der Oberkörper unter einem Leibchen, das den Bauchnabel frei lässt, ist schmächtig, die Oberarme wirken sehnig. In der einen Hand hält sie ein Stück Spiegel, mit der anderen trägt sie Mascara auf. Ein junger Spanier kommt vorbei – holà! drückt ihr einen Geldschein in die Hand und entfernt sich, sich mehrmals umdrehend, und ihr zuwinkend. Sie ruft ihm ein paar kesse Worte hinterher, lachend, und schminkt sich weiter.
Auf den Stufen der Treppen scheint ein Gitarrist zu sitzen. Ich sehe ihn nicht. Höre ihn nur. Gehe hin, werfe eine Münze in den offenen Gitarrenkasten. Der Mann lächelt flüchtig. Seine Augen sehen mich nicht an. Sein zerfledderter Hut ist tief in sein Gesicht gezogen. Ich gehe zurück zu meiner Bank, setze mich wieder. Die junge Frau gegenüber auf der Bank schminkt sich noch immer. Nein, sie lackiert jetzt ihre kurzen Fingernägel, nehme ich hinter meiner Sonnenbrille wahr, die ich aufgesetzt habe, weil ihre Gläser meine Kurzsichtigkeit korrigieren.
Gegenüber der Kirche die beiden Hotels, vor allem von deutschen Touristen gebucht. Ab 19 Uhr spielen zwei kanarische Musiker, Gitarren und Harfe, den Gästen auf der Terrasse auf. Ich frage mich, was sie wohl früher gemacht haben. Oder ob die Auftritte jeden Abend vor wechselnden Touristen schon immer zu ihrem Leben gehörten.
Gegen 18.30 Uhr – packt der Gitarrist auf den Treppenstufen seine Gitarre ein. Schade eigentlich. Diese stille Gitarre, ein wenig Aranjuez, ein wenig Anklänge von Flamenco. Eine hochgewachsene Frau mit auffallend schmalen Hüften, um die sie einen breiten Gürtel aus Stoff geknotet hat – probierte neben ihm ein paar Flamenco-Tanzfiguren, mit einer graziösen Hand, und hielt sich mit der anderen an einem halbhohen Ziergitter fest, das die Blumen der Plaza vor Zugriff oder Zutritt schützen soll. Die Frau ist von undefinierbarer Nationalität, vielleicht Französin? ihr Alter schwer schätzbar. In welcher Sprache sie spricht, nein sie murmelt, man versteht sie eigentlich gar nicht, hängt ab von ihrem Zustand, ist sie betrunken? Nimmt sie Drogen? Sie scheint weit entrückt, wann immer ich sie sehe. Wenn sie um eine Zigarette fragt, lächelt sie ein verschwommenes Lächeln, aber es ist zugleich ein achselzuckendes Lächeln, und murmelt, sie sei jeden Tag hier …auf eine der anderen Bänke vor der Kirche weisend. Direkt neben jener, auf der die Frau des Bettlers sitzt, mit ihrer quirligen Einjährigen, während ihr Mann an der Kirchentür steht, seinen Plastikbecher in der Hand, die mageren Schultern gebeugt, den Kopf auch, als wolle er sich ganz und gar unsichtbar machen.
Ich raffe allmählich meine Sachen, hatte den hellblauen Rucksack dabei, der eigentlich für den Laptop gedacht ist, trage immer viel zu viele Bücher mit mir herum, die ich doch nicht lese, am Strand, denn eigentlich hatte ich an den Strand gehen wollen, aber wie so oft, wie meistens, bleibe ich irgendwo unterwegs im Leben hängen, auf dem Weg zum Meer.
Die beiden Musiker auf der Terrasse des Hotels schräg gegenüber der Kirche beginnen mit ihrem Sound-Check.
Soll ich noch an den Strand, Playa Jardin? Ungefähr eine halbe Stunde zu laufen, von hier. Von der Mauer, die den Strand in Richtung Puerto Cruz abgrenzt, kann man den Sonnenuntergang sehen. Die weite Bucht vor sich. Bei klarem Wetter sogar die Umrisse des Leuchtturms bei Buena Vista del Norte, am Fuß des Teno-Gebirges gelegen. Wenn du mit einem der kleineren Busse der Titsa, so heißt das staatliche Busunternehmen, das die Menschen bis in die entlegensten Winkel der Insel transportiert, die schier endlosen Serpentinen hochfährst, und in dem Ort MASCA aussteigst, glaubst Du Dich in einer anderen Welt.
Ein winziger Ort zwischen zerklüfteten Felsen. Bars, Restaurants, wilde hungrige Katzen, die dir nachlaufen, Souvenirlädchen, Restaurants, für größeres und auch kleineres Geld, eine kleine Plaza unter immergrünen Bäumen mit Blättern, groß wie Fächer.. die Luft, wie Seide.
Man sollte bei klarem Wetter fahren, sonst hängt alles im Nebel der Wolken und du blickst nur auf die grünen Abhänge…mir geht flüchtig durch den Kopf, ja, bald mal wieder nach Masca! unbedingt, schlendere weiter und merke, dass ich nun vor dem Hotel mit der Terrasse stehe – und ja, warum soll ich nicht einen Augenblick bleiben. Die Kellnerin erkennt mich, ich war schon einmal da, bis zum letzten Ton buchstäblich, um 23 Uhr, sie ruft mir ein freundliches „buenas“..zu, Kurzform von „buenas tardes“
Ich wähle einen Tisch in der Mitte der Terrasse, mit Blick auf die Musiker und zugleich zur Fußgängerpromenade. Ein Kommen und Gehen. Wogende Menschenströme. Ins Auge fallen vier junge Spanierinnen, in pastellfarbenen Chiffon-Gewändern, knöchellang. Hochhackige Sandaletten. Wie schwarze Tinte, die langen schwarzen Haare der jungen Mädchen. Wohin sie wohl eilen mögen?
Langsam füllt sich die Terrasse.
Zwei deutsche Damen, frisch onduliert, nehmen zwei Tische weiter Platz. Vielleicht Mitte bis Ende Fünfzig oder älter, ich kann schlecht schätzen. Ich sehe den glattrasierten Nacken der einen, sie wirkt etwas gebrechlich, wie sie sich bewegte, und das Gesicht der anderen, die mir quasi gegenübersitzt. In deren Augen etwas Vorwurfsvolles festsitzt. Ein Mund, von dem eine Härte auszugehen scheint. Ich überlege kurz, ob sie vielleicht irgendwo daheim in Deutschland ein Geschäft besitzt. Die Damen blicken sich um. Kein Kellner gerade weit und breit, innen im Hotel wird das Buffet für die Hotelgäste aufgebaut.
Die Musiker sind noch beim Sound-Check.
Fast automatisch frage ich – Kann ich helfen?
Wir möchten etwas trinken und vielleicht auch essen, sagt die Frau mit den vorwurfsvollen Augen. Ich stehe auf, gehe ins Hotel und bitte den Kellner, die Damen wollten wohl etwas trinken und essen und scheinen kein Spanisch zu sprechen. Der Kellner kommt an den Tisch der beiden Damen. Gut, sie möchten die Karte.
Was heißt denn „BEBIDAS?“ fragt mich die Frau, die mir über einen Tisch hinweg gegenüber sitzt
Das sind GETRÄNKE, antworte ich.
Ach so, murmelt sie – Vorne haben wir doch eine Tafel gesehen, dass es hier ERDINGER WEISSBIER gibt. Wir wollten gerne ein ERDINGER WEISSBIER – aber steht hier nicht unter – „BEBIDAS“ (Getränke).
Moment. Ich stehe wieder auf, wieder ins Hotel an die Kaffeebar, und frage den Kellner nach dem deutschen Bier. Ja. Es koste aber 5 Euro, die Flasche. Das ist viel, für Teneriffa. Aber es ist ja auch ein Extra-Service für die deutschen Gäste.
Ich gehe zurück zu den beiden Damen und sage entschuldigend – „Es kostet 5 Euro, eine Flasche!“
Oh, das macht doch nichts. Das macht doch gar nichts. Da ist ja viel drin in der Flasche! und wir haben so einen Durst jetzt auf das Erdinger Weißbier.
Ich gehe wieder ins Hotel an die Kaffeebar und sage (auf Spanisch) – die Damen möchten auf jeden Fall das spezielle Bier. Aber fragen Sie lieber noch einmal nach.
Der Kellner geht wieder zu den beiden Deutschen und fragt, bemüht, den deutschen Namen des Biers richtig auszusprechen, ob es das sein darf.
Die beiden Deutschen nicken. Als der Kellner wieder gegangen ist, fragt die Dame mit dem ausrasierten Nacken unter dem dunkelroten Kurzhaarschnitt, sich zu mir umdrehend –
„Ist das immer alles so langatmig, hier auf der Insel?“
Nicht, wenn man Spanisch spricht, bemerke ich und verkneife mir einen Unterton. Endlich kommt der Kellner mit den beiden Flaschen deutschen Spezialbieres, und den entsprechenden Gläsern, schenkt ein. Die beiden Damen nicken erfreut und prosten sich zu. Sie scheinen endlich glücklich.
Sie möchten aber auch etwas essen. Sie blicken fragend zu mir herüber.
„Wenn Sie etwas weiter blättern – die Karte hat auch eine deutsche Seite!“
Natürlich sind die Übersetzungen für Neuankömmlinge ohne Spanischkenntnisse durchaus gewöhnungsbedürftig, wenn z.B. die PAPAS ARRUGADAS CON MOJOS als „Runzelkartoffeln mit 2 kanarischen Soßen“ wiedergegeben – klingt dies nicht wirklich einladend.
Und QUESO ASADO – gebackener Käse – vielleicht ohne entsprechende Übersetzung?
Jedenfalls, als der Salat des Hauses mit „Queso asado“ serviert wird, raunt die Deutsche, die mir über einen Tisch entfernt, gegenübersitzt :
„Der Käse ist ja warm. Stell Dir vor. Er ist ja lauwarm. Ich hatte gedacht, der Salat wird mit Käsestreifen serviert.“
Aber er schien dann doch zu munden der Salat.
Die beiden kanarischen Musiker haben jetzt ihre Plätze hinter ihren Instrumenten und ihrem Mikrophon eingenommen, lächeln in die Terrasse hinein – und fangen an zu spielen.
Rosa S.-N.