everybody is looking for love – oder: downtown Berlin

von RoSaN / live-Life-Lebens-Momente…des Augenblicks..und so…

Ich hatte mir den Namen Ellen gegeben. Falls mich jemand fragt.

Dieser April ist kalt. Kurz vor Mitternacht in die U-Bahn am Kottbusser Damm in Kreuzberg eingestiegen. Kaum Platz frei. Alle auf dem Weg zu Events. Kommst Du  mit? Danke, komme gerade von zwei Events. Auch getrunken für guten Zweck, zu viele Promille jetzt und zu wenig Euro, jetzt, denn das Trinken hat gekostet. Für einen Zweck, einen guten, verstehst Du? Kein Problem. Nein, nein. So viele Eindrücke. Jetzt nur noch heim. Und das alles wirken lassen.

U-Bahnhof Zoo jetzt. Umsteigen überflüssig. Weil schon am Wittenbergplatz. Vor der U1 in die U2 umgestiegen. In die so beruhigende U2 nach Charlottenburg. Wenn da die Station Bahnhof-Zoo nicht wäre. Eine Sekunde Zögern, dann spring ich doch raus. Viel Betrieb. Mitternacht an einem Freitagabend in Berlin! Drei irgendwie Uniformierte laufen auf und ab. Mit einem Hund, der an Hannibal-Lecter aus dem Film, wie hieß er noch, erinnert. Wegen seines Maulkorbs. So großräumig und aus Gitterstäben.

Ellen nähert sich locker-beiläufig-angelegentlich den Uniformierten mit dem so verbarrikadierten Schäferhund Die Hundeführerin blickt an mir vorbei. Sie ist das wohl schon gewöhnt. Dass jemand stehenbleibt, den Hund anstarrt, und was sagen will.

„Leidet der Hund denn nicht, sicher ne Hündin, so ergeben wie das Tier dreinschaut?“ fragt Ellen auf diese naiv-unbedarfte Art, der niemand widerstehen kann. Noch ehe die Frau mit dem Hund, einem graumelierten Schäferhundmischling, leicht angefettet, antworten kann- springt ein Typ sie fast an, brüllt ihr ins Gesicht:

„Und jetzt hab ich die Bahn verpasst. Weil die Arschlöcher mich gefilzt-kontrolliert-haben! Scheiß BVG!“

Die Frau mit dem Hund ihre zwei Begleiter sagen nichts. Der Mann brüllt immer weiter. Dann stößt er noch einen Fluch aus und verzieht sich.

„Ja, der Hund ist gefährlich,“ sagt die Frau jetzt lässig.

„Nervosität und so, bei dem Lärm und Krach hier, oder?“ nickt Ellen solidarisch und weiß eigentlich auch nicht, was sie will, worauf sie hinaus will.

Kein Nachdenken, erst recht nicht der psychoanalytischen Art,  keine Zeit – denn der nächste Frustrierte brüllt die drei Menschen an, weil sie ne Uniform tragen, und den Hund bei sich, mit dem unübersehbaren Metall-Beißhemmer vor den Lefzen.

„Scheiße“ – ist das Wort, das in der Wortkaskade irgendwie immer-wieder.

Die Uniformierten sagen nichts. Und der Hund auch nicht. Kann der überhaupt mit Maulkorb bellen?

„Wo krieg ich denn hier Zigaretten, fragt Ellen. Um nicht nur blöd herumzustehen.

Geradeaus, dann links und dann – ja, danke!

Aber Ellen sieht direkt halblinks geradeaus eine Art Büdchen, also nicht nötig, hoch in den Bahnhof Zoo –

„Reisebedarf und mehr“ – ich merke gerade, dass ich nicht mehr ganz nüchtern bin, was will ich eigentlich dort. Ich wohne doch in Berlin. Ach so, die Kippen.

Drinnen wollen drei fette junge Typen lauter klitzekleine Süßigkeiten. Immer einzeln. Bezahlen wiehernd. Die ältere Frau hinter dem Tresen und der ältere Mann neben ihr, sicher ihr Beschützer, wechseln einen Blick. Freundlich bleibt die Frau. Sehr, sehr freundlich. Reicht eine Süßigkeit nach der anderen auf den Tresen, tippt den Betrag in die Kasse ein, gibt Geld raus.

Die Drei gehen schließlich wieder.

„Was los hier, heute Abend, oder?“ fragt Ellen angelegentlich.

„Nee, wie immer! Die sind hier immer krass drauf. Egal, ob am Tag oder nachts!“

„Wirklich?“ echot Ellen wie ungläubig-unbedarft.

„Ja, hier lässt jeder seinen Frust ab. Scheiß-Pflaster!“

„Ist doch ne tolle Stadt, oder?“ flötet Ellen.

„Scheiß-Pflaster!“ so die Wiederholung.

Ellen murmelt: Bin neu hier, finde es toll hier!

Der Mann brummt was von: „Blind-oder-wie?“

Ellen bezahlt die Zigaretten, denkt an den Aushang in Kreuzberg, an einer Mauer, was alles amerikanische Produkte sind, die man nicht mehr kaufen soll, auch Penatencrème gehört dazu, wer hätte-das-jemals-gedacht und noch einiges und auch Milka. Die Schokolade. Wieso Milka? Ist die nicht aus der Schweiz? Na, auch egal, jedenfalls soll man das alles nicht mehr kaufen, wegen dem saublöden Einmarsch der Yankees in den Irak – vor wenigen Tagen.

Ellen steckt die Zigaretten ein. Nickt freundlich-solidarisch und geht zurück zum Bahnsteig der U2. Die mit dem Hund sind jetzt weg. Es wirkt sympathischer irgendwie, harmonischer. Ohne die Uniformierten und den verbarrikadierten Hund.

Fünf in den Steinboden verankerte harte Kunststoff-Sitze laden die Wartenden zum Warten ein.

Die Leuchtschrift sagt, die nächste U2 kommt in vier Minuten.

Es ist nach Mitternacht.

Ellen, leicht benebelt vom solidarischen Trinken auf der politisch-motivierten Vernissage in Kreuzberg, will sich auf einem der vergrätztroten Schalensitze niederlassen.

Und da siehst du drei Sitze entfernt von Dir, also eigentlich direkt neben dir, diese überquellenden und irgendwie schon wie vertraut-wirkenden-Plastiktüten, dann den dazugehörigen Menschen.

Du siehst eigentlich erst einmal nur die Hände. Die wie gleichzeitig in den drei Plastiktüten herumsuchen und aus einer dann – aus deren Tiefe, von ganz weit unten, etwas herausholen. Papier. So etwas wie Schriftstücke.

Die Hände versuchen, das Papier, das aussieht wie ein offizielles Papier, glatt zu streichen, auseinanderzufalten. Die Hände wirken ungelenk, steif. Die Hände falten schließlich das Papier auseinander. Streichen es glatt.

Dein Blick wandert automatisch die Hände hoch bis zum Kopf der Person. Du siehst, dass Du den Kopf nicht siehst. Dass Du den Kopf nicht sehen k a n n s t. Den Kopf nicht, und auch das Gesicht nicht. Die farblose Mütze über dem weißen Haar ist tief ins Gesicht gezogen und der Kopf beugt sich beinah in die Plastiktüten hinein. Dieser Mensch existiert, aber macht sich unsichtbar.

Du siehst wieder die Hände, die das Schriftstück-Papier wieder in eine der drei Plastiktüten zurückdrängen. Dann siehst Du, wie der Kopf der unsichtbaren Person noch tiefer sinkt. Fast auf die Knie. Und Du siehst, wie eine der Hände an der dunklen Hose zupft, als wolle sie einen Fussel entfernen.

Und in der Sekunde weißt Du, es handelt sich um eine Frau. Diese Bewegung, sie ist so weiblich.

Und Du kannst Dich nicht mehr zurückhalten – du weißt irgendwo in deinem Inneren, dass Du viel riskierst, aber, du kannst nicht mehr innehalten, Deine eigenen Hände sind so vorsichtig, als wüßten sie – sie berühren die fremde Person sacht an der Schulter.

Und das Befürchtete geschieht.

Die fremde, in sich zusammengesunkene Person, richtet sich jäh auf, will um sich schlagen,  ruft :

„Lasst mich in Ruh!“

Und sieht hoch. Mir in die Augen. Und ich in ihre Augen.

Und du blickst in helle Augen unter silbergrauweißem Haar, und du weißt, die Frau, sie kann deine Großmutter sein.

Und du fragst, entschuldigend, denn sie hat ja nicht gebettelt, und du willst sie nicht beleidigen, nicht, ganz und gar nicht:

„Bitte, bitte DARF ich Ihnen ein paar Euro schenken, bitte? Wenigstens?“

Und sie antwortet, gelassen –

„Aber nicht mehr als 2 Euro. Das wäre sonst zu viel!“

„Wieso?“ fragst Du schnell.

„Dafür gibt es ja noch kein Essen, nicht mal ein belegtes Brötchen, hier am Bahnhof?!“

Und du setzt hinzu, ohne es zu merken –

„Wo – wo schlafen Sie denn? Müssen Sie hier auf der Bank die Nacht verbringen?“

Und die alte Frau, sie beruhigt Dich – :

„Ich habe einen Platz! Ja. Wirklich. Wirklich!“

Aber es ist doch kalt. Dieser April ist so kalt.

Sie lässt sich vorsichtig von Dir umarmen, und du weißt, dass Du jetzt all die Bilder aus den Krimis in Deinem Kopf  vor Dir siehst, in denen die Unberührbaren nicht ohne diese dünnen Gummihandschuhe berührt, angefasst werden. Sie sind ja Aussätzige, nicht wahr. Die fasst man nur mit Handschuhen an, wenn überhaupt!

Und du hoffst, dass du nicht anfängst zu heulen, auf diesem rattengrauen U-Bahnsteig unter dem Bahnhof ZOO , in Berlin, kurz nach Mitternacht, in einer kalten Nacht im April, au der Rückfahrt von einer Vernissage, politisch korrekten Vernissage, wo du aus lauter Solidarität zu viel von dem Wein, das Glas 2 Euro, in dich geschüttet hast, weil alles so aufgesetzt wirkte.

Oder noch schlimmer: Dass du  jetzt nicht anfängst zu randalieren. Die Uniformierten anspringst, mit ihrem uniformierten Hund, sie anschreist:

„Was ist das denn alles für eine Scheiße hier? Dass alte Frauen, die meine Großmütter sein könnten, hier mit drei Tüten Habseligkeit auf einer Scheißbank auf Plastik hocken müssen, weil sie nicht wissen, wohin?“

Oder dass du anfängst, gegen die fest verankerten Schalensitze zu treten, um Dich zu schlagen. Die drei mit ihrem gekachelten Hund, ihrem maulgezwingerten Hund daherkommen, wie aus dem Nichts auftauchen und mit metallgrauen Stimmen sagen, etwas sagen, das du nicht verstehst, aber deine Wut ins Unermessliche steigert, und dann würden sie dich abführen. Irgendwohin, wo es vielleicht noch beschissener war, als auf diesem verdammten Bahnsteig der U2,  in einer kalten Aprilnacht, knapp zwei Monate, nachdem die Amis den Irak überfallen haben.

In diesem Augenblick nimmst Du wahr, dass die Obdachlose, die alte Frau, sie lächelt dich an. Als ob sie deine Gedanken gelesen hätte. Für den Bruchteil einer Sekunde der Stromschlag Glück.  Und du lächelst zurück.

Die U2 zischt heran. Bremst röhrend. Der Bahnsteig kommt in Bewegung. Ich bin schon auf dem Sprung. Will der alten Frau, der Obdachlosen, meine letzte 2-Euro-Münze – aber sie ist verschwunden. Die Frau. Wie vom Erdboden verschluckt. War alles nur eine Fata Morgana? Niemals. Ich springe in die S-Bahn, eh die Türen sich automatisch schließen.