…und wieder hat FEMINISSIMA einen „alten“ – Text für Euch & uns und die Nachwelt zum AUFBEWAHREN…und nicht nur das – gefunden.
Denn hierzulande ist ein Artikel vom „letzten Jahr“ ja schon „alt“…
Wie leben wir eigentlich unser Leben…?
Dieser Artikel aus der BERLINER ZEITUNG über das Abschiebe-Gefängnis in Berlin-Grünau ist nicht nur ein eindringliches Zeitdokument, sondern auch …ja, so sollte Literatur sein, denkt FEM, politisch und – unter die Haut gehend.
Der Artikel wirkt wie ein modernes Theaterstück.
Hat es etwas geändert?
So darf man nicht fragen.
Sonst könnte man gleich sein Leben beenden.
Datum: 28.06.2004
Ressort: Blickpunkt
Autor: Wolfgang Kohrt
Seite: 03
Gefängnis der Gescheiterten
In Berlin-Grünau sitzen Menschen in Abschiebehaft. Sie treten vor Richter, die irgendwie helfen sollen, die Migrationsströme dieser Welt zu beherrschen
BERLIN, im Juni. Die Endstation ist ein kahler Raum. Ein paar Schreibtische stehen drin, auch zwei kleinere Tische mit Stühlen. An der Wand hängt eine Weltkarte wie ein Symbol für das, was hier geschieht. Die Reisenden, die hier gestrandet sind, sind irgendwo in der Welt aufgebrochen, um die Festung Europa zu erobern. In der Betonbaracke auf dem Gelände des Abschiebegewahrsams Berlin-Grünau müssen sie in der Regel erkennen, dass sie mit ihrem Plan gescheitert sind. In der Endstation werden sie zur Abschiebung vorbereitet. Die Ausländerbehörde hat einen Haftantrag gestellt, und ein Richter bestimmt in dieser Baracke, wie lange die Haft dauern soll. Jedes Jahr ziehen ungefähr 4 000 Menschen durch den Raum. Sie erzählen ihre Geschichten, und manche davon stimmen und manche nicht.
Viele Migranten haben vielleicht auf das neue Zuwanderungsgesetz gehofft. Doch eine Bleiberechtsregelung für die rund zweihunderttausend geduldeten Ausländer in Deutschland wird es nicht geben. Erleichterte Zuzugsmöglichkeiten sind nur für Höchstqualifizierte und Selbständige vorgesehen.
Die Leute, die durch die Außenstellen-Baracke des Amtsgerichts Schöneberg ziehen, gehören eher nicht dazu. Ein junger kahlköpfiger Ukrainer sitzt in dem kahlen Raum auf einem fest geschraubten Stuhl vor einem fest geschraubten Tisch. Manchmal gibt es hier Randale. Nach der Aufforderung durch Richter Dietrich Lexer erzählt er aus seinem Leben. „Ich wurde im Dorf Rychtytchi geboren. Ich ging neun Jahre in die Mittelschule des Dorfes Rychtytchi. Nach der neunten Klasse ging ich auf ein Technikum für die Ölverarbeitung. 1996 ging ich zur Armee und diente im Gebiet Poltawa im Ort Saturino. 1998 im Frühling wurde ich entlassen. Im Jahr 2000 kam ich nach Deutschland und stellte einen Asylantrag.“
Der Ukrainer kam ohne Pass und Visum. Er sagt, dass er bei seiner Botschaft ein Dokument beantragt, aber bisher keins bekommen hat. „Haben Sie sich denn zwischenzeitlich danach erkundigt?“, fragt der Richter. „Ich war vier mal dort“, sagt der Ukrainer. Schon seit dem 26. Januar dieses Jahres sitzt er in der Haftanstalt Grünau. Richter Lexer verlängert die Haft bis Mitte Juli. Vielleicht ist der Pass bis dann da. Dann kann der Ukrainer abgeschoben werden.
In dieser Art geht es ein paar Stunden. An diesem Tag wie an jedem anderen. In jeder Woche. Es kommt ein Mann aus Bosnien, der wegen vieler Einträge im Strafregister abgeschoben wird. Nach eigenen Angaben hat er kein Geld, um selbst nach Hause zu reisen. Es kommt ein Mann aus Chile, der nach Hause will und am nächsten Tag abgeschoben werden soll. Eine junge Frau aus dem Iran redet ohne Pause. Sie wird immer lauter, zum Schluss schreit sie nur noch. Sie möchte Jacques Chirac sprechen. Und George Bush soll ihr zu den 35 Millionen Dollar verhelfen, die ihr Vater für sie in Südamerika hinterlegt hat. Sie hat keine Dokumente. Drei Monate Haft, sagt der Richter. Ein junger, smarter Chinese ist vor einem Jahr illegal nach Deutschland gekommen und bei einer Kontrolle verhaftet worden. Inzwischen hat er einen gültigen Pass. Er möchte nach Hause und verfügt nach eigenen Angaben über 5 000 Euro. Er soll sich ein Flugticket besorgen und die Haftkosten, 62 Euro pro Tag, bezahlen. „Was hinter dem steckt, weiß ich nicht“, wird Richter Lexer später sagen. „Mit so viel Geld in der Tasche. Bei den Chinesen gibt es die Triaden, der Mann wird nie was erzählen, was er nicht erzählen darf.“
Ein Mann aus dem Irak kommt herein, Baumwollhemd, helle Hose. Er bekommt drei Monate Abschiebegewahrsam. Er war illegal aus Griechenland eingereist und wollte zu seiner Ehefrau in der Pfalz. Drei Monate kann es vielleicht dauern, bis seine persönlichen Verhältnisse geklärt sind. Seine Frau soll der Ausländerbehörde die Heiratsurkunde faxen. „Der Mann ist miserabel dran“, sagt Dietrich Lexer. „Seine Frau kam nicht illegal und wird nicht so schnell abgeschoben. Aber er ist illegal hier, muss zurück und kann dann offiziell die Familienzusammenführung versuchen. Das ist jemand, der möglicherweise durch alle Roste fällt.“
Es kommt nicht oft vor, dass Lexer so mitfühlend redet. Er ist sechzig und ein großer, schlanker Herr. Er trägt einen dreiteiligen Anzug und ein weißes Hemd mit Fliege. Ein Mann, vielleicht kann man es so sagen, von altem Schrot und Korn. Hier in dieser Baracke soll er seinen Teil dazu beitragen, die Migrationsströme dieser Welt zu beherrschen. „Ich bin sicher nicht kleinlich in meinen Ansichten“, sagt er. „Also ich breche nicht vor Rührung in Tränen aus, wenn ein Ausländer den Raum betritt.“ Kürzlich gab es vor der Haftanstalt eine Demonstration gegen Abschiebehaft. Aus Zeitgründen konnte sich Lexer das leider nicht ansehen. Aber er wäre gern hin gegangen, hätte die Flüstertüte genommen und gefragt, was erwartet ihr eigentlich von eurer Demonstration?
Lexer ist der Meinung, dass er einen Teil seines Gehalts dafür bekommt, dass die Delinquenten ihn belügen und auch ausrasten dürfen. Die Mongolen, hat er gehört, lügen aus Spaß, selbst wenn es ihnen weder schadet noch nutzt. Dafür sind sie aber, wie Chinesen und Vietnamesen, höflich. Zentralafrikaner treten eher anmaßend auf. Bei einem Araber kommt man nie zu einem Ergebnis, weil unendlich palavert wird. Zigeunerinnen können auf Knopfdruck hyperventilieren. So gehen diese Geschichten.
Lexer erzählt gern von einer Nigerianerin, die in ihr Heimatland abgeschoben werden sollte. Dreimal hat sie sich in einem Linienflugzeug so gewehrt, dass der Pilot sie und die BGS-Beamten von Bord verwies. Es ist nicht mehr nachprüfbar, was sie in Nigeria erwartete. „Schließlich jedenfalls“, sagt Lexer, „wurde für 48000 Euro ein Learjet gechartert. Falls sie noch einen zweiten Nigerianer gefunden haben, hätten sich die Kosten auf die Hälfte reduziert. Ich finde, man könnte dieser Frau im Linienflugzeug nur mal das Klebeband zeigen.“ Pro Asyl hat ein Faltblatt herausgegeben: „Wichtiger Hinweis für Flugreisende. Schauen Sie nicht weg.“ Darin steht, was dem Bundesgrenzschutz verboten ist. Zum Beispiel mundverschließende Hilfsmittel wie Knebel und Klebebänder.
Die Nigerianerin hat in der Abschiebehaft Grünau gesessen. Dort, wo der junge Ukrainer, die Frau aus dem Iran, der Chinese und der Mann aus dem Irak jetzt noch sind. Wenn Richter Lexer oder einer seiner Kollegen gesprochen hat, werden sie von der Baracke durch einen Gang wieder hinüber gebracht in das graue Betongebäude mit den Gittern an den Fenstern. Dort in der Abschiebehaft warten sie darauf, wie alles weiter geht.
Dort werden sie verwahrt, wie es im Amtsdeutsch heißt. „Wir verwahren hier die Menschen zur Sicherung der Abschiebung“, sagt Frank Kiele. Er ist der Gewahrsamsleiter. „Das heißt, die Abschiebung ist beschlossen, und bis zur Passersatzbeschaffung und dem Datum der Abschiebung hat die Ausländerbehörde die Notwendigkeit gesehen, einen Haftbeschluss zu erwirken.“ Zum Beispiel, weil jemand nicht freiwillig Deutschland verlassen will. Oder weil die Ausländerbehörde befürchtet, dass er untertauchen könnte. So sitzen sie dann dort. Manchmal dauert es ein paar Stunden, oft aber ein paar Monate. In der Regel soll die Abschiebungsprozedur nach einem halben Jahr beendet sein, sie kann aber auch bis zu anderthalb Jahren gehen. In der Abschiebehaft sitzen Menschen mit etwa fünfzig verschiedenen Nationalitäten. Der Schwerpunkt liegt im Moment bei der Türkei, China und Ex-Jugoslawien.
Auch die Schülerinnen Arbeelila Halili und Besarta Hodaj stammen aus Ex-Jugoslawien. Sie sind Kosovo-Albanerinnen und vor elf Jahren mit ihren Familien nach Deutschland gekommen. Richter Dietrich Lexer hatte über diese Menschen gesagt, dass sie jetzt seit dreizehn oder vierzehn Jahren hier seien. Sie hätten es geschafft zu bleiben, obwohl nach seiner Erinnerung seit dem Jahr 1996 eine Pflicht zur Rückreise bestehe.
Die beiden Mädchen sind in diesen Tagen zu einer Kundgebung auf den Gendarmenmarkt gekommen. Arbeelila ist siebzehn, Besarta fünfzehn. Das ist kein Alter, in dem man sich in der Öffentlichkeit gern an ein Mikrofon stellt. Aber beide wollten nicht nur für Asyl in Deutschland demonstrieren, sondern auch laut darüber sprechen. Sie sprechen perfektes Deutsch. „Meine Familie bekommt seit sechs Monaten immer nur einen Monat Duldung“, sagt Besarta. „So leben wir ständig mit der Angst, dass die Polizei vor unserer Tür steht und wir am nächsten Tag ganz woanders sind.“
Woanders, das ist der Kosovo. Besarta Hodaj weiß nicht, was sie dort zu suchen hat. Hier geht sie zur Schule, hier sind ihre Freunde, und hier habe sich ihre Familie etwas aufgebaut. Doch ein Bleiberecht für lange in Deutschland lebende Flüchtlinge sieht das neue Zuwanderungsgesetz ja nicht vor.
Es ist sonnig an diesem Vormittag in Berlin. Im Freiluftrestaurant an der Friedrichstadtkirche werden die großen Schirme geöffnet. Auf den Holztischen liegen weiße, gestärkte Tischdecken. Kellner kommen mit Besteck und Gläsern. Ein paar Meter weiter, direkt vor dem Schauspielhaus, campieren etwa zwanzig dunkelhäutige Männer in weißen Umhängen und mit roten Stirnbändern auf dem Pflaster.
Es sind Flüchtlinge aus Togo im Hungerstreik. Die roten Stirnbänder symbolisieren das Blut, das in der Diktatur ihres Heimatlandes fließt. Sie fordern einen generellen Abschiebestopp nach Togo und bezeichnen das Zuwanderungsgesetz als „Raus-aus-Europa-Ausländergesetz“. Es ist möglich, so auf sich aufmerksam zu machen. Es ist erlaubt, die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Helfen wird es den meisten Männern aus Togo wahrscheinlich nicht. Sie wissen, dass zuletzt vor vier Wochen ein Abschiebeflug mit Flüchtlingen aus Togo, Kamerun und anderen afrikanischen Ländern vom Hamburger Flughafen abging.
Dietrich Lexer hätte auch diese Abschiebung wahrscheinlich in Ordnung gefunden. Dass damit das Problem prinzipiell gelöst wird, glaubt er nicht. „Man kann die Schrauben anziehen, man kann ein neues Gesetz machen.“ Aber die Schere zwischen arm und reich auf der Welt geht für ihn immer mehr auseinander. Wenn erst einmal die hier ankommen, die in der Sahel-Zone verdursten, na, großer Gott, denkt er sich.
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„Also ich breche nicht vor Rührung in Tränen aus, wenn ein Ausländer den Raum betritt.“ Ein Richter
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Foto: „Wir verwahren hier die Menschen zur Sicherung der Abschiebung“ – im Abschiebegewahrsam Berlin-Grünau.
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31. Januar 2005
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