Nacht der Schutzengel oder – Anatomie eines Verkehrsunfalls –

Nacherzählung einer wahren Begebenheit. Diesen Text hat feminissima auf vielfachen Wunsch von Euch auch aus dem letzten Sommer wieder nun – ja, hier ist er wieder – jetzt soll er noch ein paar, nicht alle – „Gelesen-„Punkte von damals erhalten..damit er nicht wieder ganz von unten anfangen muß…mit dem Angeklicktwerden..Wäre ja unfair dem Text gegenüber, nicht wahr….?? So – hier beginnt er:
Die Nacht der Schutzengel

Von fem/Rona (Sommer 2002)

Ich hatte den Führerschein noch nicht lange. Vielleicht zwei oder drei Monate.

Mein Freund hatte mir seinen Wagen geliehen. Stolz tauchte ich am Wochenende aus meiner Uni-Stadt daheim auf: ungefähr 300 Kilometer entfernt. Es war so wunderbar, dieses kleine Auto zu fahren. Mit Mutter und Großmutter kutschierte ich an den Rhein. Die Mutter fuhr seit ein paar Jahren nicht mehr, weil sie kein Auto mehr besaß. Kein Geld mehr und so. Als ich ihr das Steuer anbot, lehnte sie dankend ab: so viel Verkehr inzwischen. Sie sei aus der Übung, fühle sich unsicher.

Aber anerkennend meinte sie, ich führe gut. Ja, ich fühlte mich so sicher an diesem Steuer.

Am Sonntagabend mußte ich zurück. Eigentlich fuhr ich ungern in der Dunkelheit.

Aber es wurde noch Kaffee getrunken, geplaudert, dies und das, wie das nun mal so ist.

Es war Anfang März. Und es wurde noch früh dunkel. Die Lichter der entgegenkommenden Wagen auf der Autobahn waren unangenehm. Ich drückte aufs Gaspedal. Mein Freund wartete sicher schon auf seinen Wagen. Und natürlich auf mich. Es lagen noch zwei bis drei Stunden Fahrt vor mir.

Ich war etwa einhundert Kilometer von zuhause entfernt, als es zu nieseln begann. Schiete, dachte ich.

Wäre ich doch früher gestartet! So dunkel und einsam, und dann noch dieses Nieselzeug, das einem die Sicht versperrte. Die Scheibenwischer waren auch nicht mehr der letzte Schrei. Und vor mir der Penner, warum fuhr der so langsam. Ich war im Überholen noch nicht so geübt. Und dann noch auf der Autobahn. Es gab ja solche Typen, die gerade dann, wenn man sie überholen will, Gas gaben.

Verdammt, ich hatte Überholen doch gelernt und die Prüfung auch beim ersten Anlauf bestanden!

Also Blick in den Rückspiegel, Blinker raus – und auf die Überholspur.

Der Wagen auf der rechten Seite, er ließ mich nicht vorbei!

Und mehr als 120 gab die Karre meines Freundes nicht her.

Im Rückspiegel näherte sich eine Lichthupe.

Schlagartig fiel mir mein Cousin ein, der in seinem noch hochgetunten Alt-BMW über die Autobahn zischte, daß einem angst und bange wurde.

„Was machst Du denn, Du Idiot, wenn mal plötzlich jemand ausschert – fährst Du dann drauf, oder was?“

Er hatte gelacht. Beste Bremsen. Und hatte es mir vorgeführt.

„Solchen Leuten wie Dir hätte man nie den Führerschein geben dürfen“,

fluchte ich, blaß im Gesicht, als er so dicht auf den Vordermann zugerast war, daß ich dachte, jetzt fetzt er drauf.

Die Lichthupe hinter mir näherte sich wie ein Ungeheuer.

Doch der Wagen neben mir ließ mich nicht vorbei.

Und mehr PS hatte ich nicht drauf.

Ich war eingekesselt.

Von hinten bretterte ein Vollidiot auf mich zu. Und neben mir spielte ein Irrer seine Macht aus.

In blinder Panik trat ich auf die Bremse. Und die Erde hob sich.

Ich schien nicht mehr in einem Auto auf der Autobahn.

Ich drehte am Ruder eines Schiffs auf hohen Wellen.

Mein Herz begriff schneller als mein Hirn.

Ich war ins Schleudern geraten.

Die Autobahn glitschig.

Irgendwie gelang ich auf die rechte Spur, die Rücklichter dieser beiden Autofahrer schon von der nebligen Nacht verschluckt.

Wieso jetzt schon? Dachte etwas in mir. Wieso schon so früh? Gedanken überschlugen sich. Der Kaffee, der Kuchen am Nachmittag. Ich sah die lächelnden Gesichter. Ich spürte den Geschmack des Kuchens. Ich sah mich als kleines Mädchen in dem flachen Fluß baden. Spürte die Sonne auf meiner Haut. Sah das Winken meiner Mutter.

Wieso ist so früh alles zu Ende? Keine Zukunft mehr, kein Studium mehr, keine Heirat, keine Kinder, jeden Augenblick würde ein Wagen gegen mich prallen, die Wellen mich zerfetzen.

Ein Satz meines Vaters sprang mir ins Hirn -„weg , runter von der Autobahn“.

Rechts, nach rechts, links war ja die Mittelplanke – rechts , rechts, ein riesiges Schiff quer gegen die Wellen – und dann flog ich.

Ich flog, weit . Das war es jetzt, mein Leben, meine Eltern taten mir leid, sie lebten schon lange getrennt, warum eigentlich, wie kurz das Leben sein konnte,warum mußte man die Zeit noch mit Streit vergeuden, das eine Leben, man hat nur das eine, kein zweites, mein Freund tat mir leid, er würde mich vermissen, mein Leben tat mir leid, das ich nun nicht mehr kennenlernen würde, ich war am Anfang, eine junge Frau, und hier auf der Autobahn, spätabends, im März, zwei Monate nach der Führerscheinprüfung , kurz vor meiner Verlobung, endete es …mein Herz, mein Herz, plötzlich spürte ich nur noch mein Herz, mit all seiner Sehnsucht, ich existierte nicht mehr, da war nur noch dieses Herz, das so heftig schlug, es schlug so kräftig, es war jung und unverbraucht…dann prallte das Schiff, der Wagen, gegen einen Widerstand, überschlug sich, mein Herz registrierte alles wie in Zeitlupe, wo war ich, mein Hirn schrie mir zu, das war wieder die Stimme meines Vaters, er hatte mir alle nur denkbaren Instruktionen vor dem Führerschein mit auf den Weg gegeben, wie mich das angeödet hatte, jetzt hörte ich seine Stimme – „Weg vom Lenkrad, es kann Dich durchbohren.“ Angeschnallt war ich natürlich auch nicht. Wie gut jetzt. Ich rutschte weg vom Lenkrad , nach unten, nach unten, nach tief tief unten, zwischen die Pedale von Gas, Kupplung und Bremse.

Stille. Stille. Totale Stille. Dann ein Schrei. Ich war das.

Ich lebte? Ich lebte. Raus aus dem Wagen. Der Satz meines Vaters hämmerte in mir:

„Der Wagen kann jede Sekunde explodieren“.

Der Wagen lag auf dem Dach.

Die Seitentüren klemmten, und die Scheiben ließen sich auch nicht bewegen.

Ein Luftzug streifte mich.

Die Heckscheibe gab es nicht mehr.

Ich kroch aus dem Auto.

Ich stand im Freien. Auf einem Acker. Ich rannte, stolperte über die aufgeworfenen Schollen, blieb liegen. Rappelte mich wieder hoch. Weg, nur weg!

Der Wagen explodierte nicht.

Ich schrie in die Nacht. Ich weinte und lachte.

Mir war nichts passiert. Gar nichts.

Ich erreichte die Autobahn.

Winkte mit beiden Armen rudernd den vorbeifahrenden Wagen.

Ob die mich überhaupt sahen.

Doch, jemand sah mich. Hielt an. Scherte halb in den Acker.

„Unfall“ – keuchte ich. Und wies auf den Wagen, der im Acker auf dem Dach lag, wie ein Käfer, hilflos, verloren, die verzogenen Räder bizarr im Licht der Taschenlampe des Fremden.

„Ihnen ist nichts passiert?!“

„Nein!“

„Ich fass es nicht!“ rief der Mann aus –

„ich fahre diese Strecke täglich – da vorne beginnt das Brückengeländer und sonst sind auch überall Leitplanken. Nur vor diesem Ackerstück ist keine Leitplanke, weiß der Himmel warum….und der Acker ist weich und aufgetaut, von all dem Regen der letzten Tage…! Verflucht noch mal – was hatten Sie bloß für einen Schutzengel !“

Ich setzte mich auf den Acker, streichelte mit allen zehn Fingern die aufgeweichte Erde und begann zu weinen. Vielleicht betete ich auch.

Niemand brauchte um mich zu trauern.

Ich sah das Licht meiner Zukunft wieder, ich spürte wieder den Geschmack des Kuchens vom Nachmittag, sah mein glückliches Lächeln, als ich den Führerschein in Empfang nahm. Ich wachte in einem Krankenhaus auf.

Am Tropf.

„Wieso?“ fragte ich.

„Kleine Kreislaufkrise“, beruhigte mich die Schwester.

„Der Schock“.

„Aber sonst habe ich nichts?“

„Nein – “ antwortete die Krankenschwester,

„Sie müssen einen Schutzengel gehabt haben…“

Mama kam und sogar Papa. Sie tauchten zusammen auf.

Papa hatte Mama im Wagen mitgenommen.

Ruckartig setzte ich mich auf.

Wie besorgt, wie blaß sie waren.

Ja, sie schienen aus ihrer üblichen Fassung gebracht.

„Ich habe ein für allemal begriffen, daß ein Auto kein Spielzeug ist…“ murmelte ich.

„Ich hatte ja keine Ahnung von der Dynamik einer Vollbremsung bei 120 Sachen auf einer glitschigen Fahrbahn..“

Mama setzte sich auf den Bettrand und weinte. Streichelte meine Hand.

Das hatte sie seit meiner Kindheit nicht mehr getan. Schade eigentlich.

Mama und Papa versöhnten sich nicht wieder.

Auch mein Freund und ich verloren uns nach und nach aus den Augen.

Es blieb mein einziger Unfall.

Behalten habe ich ein Gespür für Gefahr….und meinen Glauben an Schutzengel.

Von: Rona