Schön ist die Jugend / alte Short-Stories (gerade im Archiv wiedergefunden)

von:roseville

Es war sechs Uhr früh. Die Hitze bereits unerträglich. Da hatte doch vor etwa zwei Stunden jemand angerufen, da säße irgendwo am Straßenrand so ein komischer Typ. Anscheinend besoffen oder so. Jedenfalls säße er dort. Auf dem Bordstein, in blutverschmierten Kleidern und in sich zusammengesunken. Der Anrufer war auf dem Weg zur Frühschicht, als er die Gestalt bemerkte. Die Angst saß noch in seiner Stimme. Er wolle mit der Sache nichts zu tun haben. Hastig gab er der Polizei den Straßennamen und die ungefähre Hausnummer durch und hängte ein.

Tatsächlich hockte an der beschriebenen Stelle eine schmächtige Gestalt. Der Kopf war auf die Knie gesunken.
Neben dem anscheinend schlafenden oder toten Jungen stand eine in Seidenpapier eingewickelte Flasche. Eine Literflasche Wein, Mosel. Der Typ neben der Flasche roch merkwürdig. „Eingetrocknetes Blut,“ stellte einer der Beamten fest. Der Typ wurde schnell wach und wollte die Flucht ergreifen. Der Typ war ein auffallend dünner, ja schmächtig wirkender mittegroßer dunkelblonder Junge, das Haar bemerkenswert kurz g eschnitten, um nicht zu sagen von beinah militärischer Akuratesse. Dabei mochte der Junge nicht älter als 16 Jahre oder so sein. „Mensch, hast nen duften Wein da“, sagte einer der Beamten, „hätt ich jetzt auch Lust drauf, hab gerade Feierabend, auch wenn es grad früh am Morgen ist..gibt’s sowas hier in der Nähe? So‘ n Imbiß? So’n Büdchen, das schon offen hat?“

„In der Nähe ist ein Flaschenverkauf“, antwortete der Junge automatisch. Dann wurde er blass und schwieg abrupt.

„Wir wollen uns das Bürschlein mal etwas näher anschauen, “ brummte der ältere Beamte.

„Komm, Kleiner, zeig uns mal Deine Papierchen, Du hast doch welche..?“

„Ich bin überfallen worden“, sagte der Junge, „die haben mir die Papiere geklaut.“

„Aha. Komm, sei brav, und zeig uns mal, was Du in den Hosentaschen da hast und zieh auch mal Deine Schuhe aus…“

Die Hosentaschen gaben ein blutverkrustetes Taschentuch her, sonst nichts.

In den Schuhen fanden sich sieben Hundertmarkscheine.

„Wie nett, „, sagte der ältere Beamte.

„Dürfen wir fragen, woher Du das Geld hast?“

Der Junge wollte sich auf den Beamten stürzen.

„Sachte, Schätzchen“, sagte der ältere, gemütlich wirkende Beamte.

Und das Schätzchen krümmte sich schmerzverzerrt.

„Okay“, sagten die zwei jüngeren Beamten, „wir sehen uns mal nach dem Laden um“.

Der Junge wurde von dem älteren Beamten mit den Händen auf dem Rücken in den Streifenwagen verbracht und hineingehievt. „Wir fahren mal aufs Revier..“ lächelte der gemütlich wirkende, ältere Beamte. „Bist Du immer so schweigsam?“ fragte er, während sein Kollege sich auf den Straßenverkehr konzentrierte und stur geradeaus schaute. Der Junge schwieg. „Ich kann auch anders, wenn wir auf dem Revier sind“, sagte der ältere Beamte. „Ich kann auch anders. Das kannst Du mir glauben. “

Der Junge schwieg.

Im Verhörraum verließ den Beamten die Geduld.

„Schau mich an!“ schrie der freundliche Beamte, nahm den Kopf des Jungen zwischen seine zwei Hände, als ob er den Schädel des Jungen zerquetschen wollte –

„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“

Der Junge hob das Gesicht, hob den gesenkten Blick, und sah dem Beamten in die Augen.

Der Beamte sah die Augen des Jungen. Er ließ spontan von ihm ab. Ein jähes, ein entsetzliches, ein unerklärliches Schuldgefühl durchfegte für den Bruchteil einer störenden Sekunde sein Hirn. Sein eigener Sohn schien vor ihm zu stehen. Und er spürte den Gedanken in sich, oder die Frage, ob er nicht zu streng mit seinem Sohn sei.

In diesem Augenblick stürmten die beiden jüngeren Beamten in den Raum. Der eine, wie im Film, rannte gleich zur Toilette. Die Hand vor dem Mund und so. Er mußte sich schon wieder übergeben.

Er war noch nicht abgebrüht. Noch nicht lange im Dienst. Noch jung.

Sie hatten den privaten Flaschenverkauf gefunden. Auch die Besitzer. Ein Ehepaar. Beide tot. Ermordet. Zerstückelt. Mit einer Axt erschlagen.

Eingeschüchtert blickte der Junge zu Boden.

„Er ist verstockt, aber wir werden ihn schon noch zum Reden bringen..“ sagte der ältere Polizist, der seinen Sohn schon wieder vergessen hatte.

Der Junge schwieg.

„Hast Du das Ehepaar umgebracht?“ fragte der Beamte.

„Und wenn – warum hast Du es getan?“

„Welchen Grund gab es dafür?“

„Grundlos bringt man doch niemanden um, nicht wahr?“

„Und erst recht n icht so ein älteres, eher schwächliches Ehepaar, das so freundlich ist, nach Ladenschluß noch Getränke, Zigaretten und Salzstangen zu verkaufen?“

„Oder?“

Der Junge saß apathisch am Tisch und hielt den Blick gesenkt.

Ein weiterer Beamte kam in den Raum.

Er lehnte mit gekreuzten Armen an der Wand und sah dem Verhör zu.

„Du willst ihn aber nicht foltern..“ hörte er sich sagen, als er sah, und deswegen war er in den Raum gekommen, wie sich sein älterer Kollege in eine Rage hineinbewegte, in eine Art Machtrausch steigerte,

die ihn unberechenbar und gefährlich für andere werden lassen konnte.

„Du hast zwei Erwachsenen ihre Eltern geraubt, den Enkeln ihre Oma und ihren Opa!“

Der Junge war kurz zusammengezuckt.

„Rede! Rede endlich!“ brüllte der Beamte und sein Kollege blickte indigniert. Diese altmodischen , drittklassigen Nazifilmen abgeguckten Verhörmethoden waren ihm zuwider. Ja, sie ekelten ihn an. Und er fragte sich oft, was seine Kollegen an eigener Gewaltverdrängung bei solchen sogenannten

Täter-Verhören ungeniert und im Namen des Gesetzes abreagierten. Und ein Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, den ihm seine Tochter kürztlich mittags zum Nachtisch auf den Tisch geknallt hatte –

„Meine Freundinnen sagen, Polizisten können niemanden leiden. Stimmt das, Papa? Und sie sagten auch, niemand kann Polizisten leiden. Warum denn nicht, Papa?“

Ja, vielleicht gingen wirklich viele zur Polizei, weil die Zeit der Blockwarte vorüber war.

Und sie nach Ersatz dafür suchten.

Der Junge stand unerwartet auf.

Hielt sich mit beiden Händen, wie um sich abzustützen, an der Tischkante fest.

„Vielleicht ist es gut, wenn die Kinder keine Eltern mehr haben!“ sagte er.

„Vielleicht sind sie erleichtert. Jemand hat sie von ihnen befreit.!“

Der ältere Beamte, nach einem für ihn endlos langen Augenblick des Schweigens, fragte –

„Wie meinst Du das?“

„Wenn Ihr meinen Eltern nichts verratet, erzähle ich Euch alles,“ erklärte der Junge feierlich.

Und lacht. Natürlich ist dies kein Lachen. Wie könnte es Lachen sein. Sie lachen immer. So liest man oder sieht man es in schlechtgemachten Filmen. Keiner lacht in solch einem Augenblick. Es kann n ur der Ausdruck von Wahnsinn sein, der wiederum ein Ausdruck von Flucht aus einer nicht ertragbaren Realität.

Es war also nicht auszumachen, ob der Junge lachte, weinte, schluchzte, stotterte, schrie oder um sich schlug.

Denn er fiel in Ohnmacht. Er kippte einfach um.

„Schade“, sagte der Alte ungerührt,

„Wir hatten ihn gerade!“

„Kannst Du einen starken Kaffee organisieren?“ fragte er seinen an der Wand lehnenden Kollegen.

„Und vielleicht kühles Minieralwasser?“

Die Hitze.

Der Junge kam wieder zu sich. Er trank den Kaffee, trank das Mineralwasser und aß ein halbes Croissant.

Er stand wieder von seinem Stuhl auf.

Fuhr sich mit zehn Fingern durch die akkurat kurzgeschnittenen Haare und ging mit nach vorne gebeugtem Oberkörper in dem Raum auf und ab. Ab und auf.

Dann hob er den Zeigefinger.

„Das ist der Vater! Der Vater denkt beim Gehen. Er denkt viel. Und daher geht er viel.

Immer auf und ab. Und er darf nicht gestört werden, beim Denken. Denn seine Gedanken sind wichtig. Von Wert. Lebenswert. Wert für das Leben der anderen. Der Vater ist der werte Herr Jugendrichter dieser Stadt, den jeder lieber nicht kennen möchte…nicht wahr!“

Der Junge beugte den Oberkörper weiter nach vorne.

Sein Schritt wurde schwerer.

„Wenn der Herr Jugendrichter sich einer Entscheidung nähert, wird sein Schritt gewichtig.

Noch gewichtiger als für gewöhnlich. Das Haus hält den Atem an. Der Herr Jugendrichter darf nicht gestört werden. Erst wenn die Schritte aufgehört haben, beginnt das Leben wieder…der Hund bellt, der Vogel singt, die Blumen richten sich auf, die Mama beginnt mit ihren Fingerübungen am Klavier. “

„Der Herr Jugendrichter, ich, ich war wohl das Ergebnis einer seiner so seltenen schwachen Sekunden…denn er ist ein Herr der Beherrschung, vor allem anderer, er ist schon ein alter Mann. Ein Mann der alten Schule, wie man so sagt.

„Als Männer noch Männer waren!

Und was das bedeutete, war klar! Wenigstens ein Schmiß auf der Wange. Das war das Wenigste.

Reiten, pah, lächerlich, mindestens Polo….Im Winter Skilaufen, im Herbst zur Jagd und all das Getue.“

Der Junge setzte sich wieder.

„Schuldig. Ich war von Anfang an schuldig. Ich habe die musische Art meiner mozartbesessenen wagnerianischen Mutter geerbt…sie hat mich verhätschelt, wie der Herr Vater Jugendrichter zu sagen pflegt.

„Sie hat einen Weichling aus mir gemacht, und keinen Mann!“

„Er bestand darauf, daß ich meine schulterlangen Haare abschneiden ließ, als er zum Landgerichtspräsidenten oder wie das lächerlich aufgeblähte Zeug so heißt, einen Empfang bei uns im Haus gab.

„So wie Du aussiehst, wie ein Gammler, kommst Du mir nicht über die Schwelle. Deine Mutter mache ich dafür verantwortlich, wenn Du heute Abend vor verschlossener Türe bleibst – falls Du Dich weigerst, Dir die Haare ordentlich schneiden zu lassen!“

Ja. Die Haare werden abgeschnitten. Die Gitarre wird weggeworfen.

Denn der Sohn, dieser Schwächling, der schert sich einen Dreck um Mozart und Wagner, der haßt diese Typen, der will in Wirklichkeit Rock-Gitarrist werden. Tja, nur die Mutter wußte das.

Ein Geheimnis. Er übte woanders, der Sohn und tat daheim als übe er Klavier..Etüden, klassische..gemeinsam mit der Frau Mama.

„Er kennt sich aus. Der Herr Jugendrichter-Vater. Er weiß wie man mit dem laschen G esindel, das sich heutzutage „jugendlich“ nennt, umzugehen hat.

„Wegsperren! Alle!“

Jeder, der anders denkt , als er selbst.

Der Junge greift nach dem Mineralwasser, hält sich die Flasch an den Mund.

„Naja, und dann kam die Chance der Chancen.“

Die Eltern verrreisten. Für ein Wochenende mal wieder.

Endlich. Eine kleine Jagd-Partie.

Und ich schmiß ne Party. Erstmals in meinem Leben.

Ich war so verknallt in diese Süße aus der 9. Klasse…

Es war alles so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte, wie es sein müßte, wenn man jung sein dürfte…

Und nicht ganz arm – ein Haus, voll mit Menschen und Lachen und Musik und so.

Ja, so war es auch.

Wir waren um die dreißig Leute.

Und dann gingen irgendwann die Getränke aus.

Wir waren auch schon ganz gut angetörnt. Aber nichts Besonderes.

Tanzten, schmusten ein wenig, drehten die Musik auf, schlossen auch mal die E-Guitar an…

Ja, und dann ging es darum, wer noch was organisiert.

Ich wollte den Helden spielen.

Ich wußte, wo das Geld lag und wo es den Laden gab.

Ich hatte vergessen, daß es mitten in der Nacht war.

Was spielte die Uhrzeit für eine Rolle?

Ich war glücklich…ich war beschwipst, weniger vom Alkohol als von meiner ersten Liebe…ja…

Und dann klingelte ich wie verrückt, begeistert, nicht böse gemeint.

Ich wollte ihnen mein Glück entgegenjubeln. Ihnen mindestens hundert Mark Trinkgeld für das Trinkgeschäft anbieten…ach, ich wollte alles sein….der Prinz Eisenherz …der Ritter ohne Furcht und Tadel…

Was passierte?

Es war so banal.

Der alte Mann, so ganz alt, war er noch nicht, so um die Mitte 60 , noch sehr rüstig, er selbst haßte dieses Wort, es hatte schon so etwas Halbtotes, er fühlte sich fit und ohne Alter…er war im besten Alter, pflegte er zu sagen…und er spielte noch Tennis, nahm es mit jedem Jüngling auf, wenn es sein mußte.

Auf jeden Fall öffnete der Mann, im Schlafrock und rot vor Wut im Gesicht.

Das sei ja der Gipfel und all das Übliche, und das werde er dem Herrn Vater aber stecken, was sich da sein Bürschlein von Sohn so leiste…mitten in der Nacht und so viel Geld, sicher beim Vater geklaut..hahaha, lautes höhnisches Lachen, der Sohn des Jugendrichters selbst ein Dieb…hahaha….

„Ich verabscheue jede Gewalt!“

sagte der Junge.

„Aber da brach dieser Hass aus, der mich blind machte.

Es war, als ob ich endlich meinen eigenen Vater umgebracht hätte.

Endlich zum Schweigen für immer gebracht hätte.

Das Pech war, daß dann die Frau auch noch in den Kellerraum kam, um mal nachzuschauen, wo denn ihr Mann blieb.

„Da fing sie dann auch noch an. Fast noch schlimmer als ihr Alter …“

Ja, da lag sie Axt, sie lag dort, ich weiß ncht, warum sie dort lag, und was ohne diese Axt…

Ich schlug zu , immer wieder, auf beide. Als sie längst schon…….“

„Ich glaube, ich hielt die Axt lange in der Hand. Prüfend. Abwägend. Voller Angst.

Ich wußte, was eine Axt kann. Vielleicht wollte mir der Mann auch die Axt entreißen.

Das Merkwürdige ist, ich kann mich nicht mehr genau an den Ablauf erinnern. …

Die Spontan-Amnesie als Folge eines tiefen Schocks. Das Hirn hat viele Schutzmuster.

Lebensrettende. Wie das blitzschnelle Reagieren bei einem Sturz. Um ihn abzufedern.

Das menschliche Gehirn ist schneller als die Zeit. Viel schneller..

Es reagiert viel schneller und eben auch so vielschichtig, daß ein junger Doppelmörder nicht unter der Last seiner Tat sofort zusammenbricht, sondern erst einmal „vergisst“. Oder vor Erschöpfung auf dem Straßenrand einschlief.

„Es wird meiner Mutter das Herz brechen. Um meinen Vater tut es mir nicht leid.

Der wird sich so ärgern, daß es schon fast eine Genugtuung für mich ist…“

Der Junge hielt an.

Er hielt sich die Hand an den Magen.

Er wirkte im weißen Licht des Morgens so kalkig, plötzlich.

Er blickte noch einmal auf. Erstaunt. Der Junge.

Fasste sich an sein Herz. Und starb.

Kreislaufversagen, Schock, Todessehnsucht nach einer Tat, die er nie mehr würde vergessen können, die ihm niemand würde verzeihen können, ein Gebrandmarkter, Ausgestoßener, Verzweifelter, Ungeliebter, für immer. Es war vielleicht zu viel für sein jugendliches weiches Herz.

Der Arzt stellte den Totenschein aus.

Der Herr Jugendrichter war noch nicht zurück, von seinem Jagdausflug.

Die Beamten würden auswürfeln, wer es ihm beizubringen hatte.