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Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön
Von Martin Mosebach
Wider das heutige Bauen
Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön
Gerade hat Deutschland den „Tag der Architektur“ gefeiert. Wieder wurde das Recht unserer Zeit auf eigenen, unverwechselbaren Ausdruck beschworen. Doch was ist all das in Beton gegossene Millimeterpapier unserer bauwütigen Epoche gegen die Schönheit der verschwindenden europäischen Stadt?
Von Martin Mosebach
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28. Juni 2010
Alles hat seine Zeit, und so kann man auch die Jahre, in denen die schönsten bürgerlichen Wohnungen gebaut wurden, klar bestimmen. Wie jede große Zeit in dem unruhigen, veränderungssüchtigen Europa dauerte sie nicht lang, etwa zwischen 1880 und 1910. Diese Jahre werden Gründerzeit genannt, weil damals die großen deutschen Industrieunternehmen und Banken gegründet wurden, es waren goldene Jahre in der an glücklichen Epochen armen deutschen Geschichte.
Chesterton nennt das eigentliche Zeitalter der Demokratie das neunzehnte Jahrhundert. Die Gründerzeitwohnungen sind dann auch die Übertragung des Schloss-Ideals in bürgerliche Verhältnisse. Jeder sollte in einem Schloss wohnen können. Nun, nicht jeder, aber doch viele, jedenfalls unvorstellbar viel mehr Menschen als in allen vorangegangenen Jahrhunderten. Was bis dahin nur zu einem Schloss gehörte – die hohen Decken, der reiche Stuck, die Flügeltüren, das knirschende Parkett, die Enfilade, die Suite der Repräsentationsräume und die davon geschiedenen privaten Zimmer -, das wurde nun in großen Wohnvierteln tausendfach für Beamte und Professoren, für Ärzte und Anwälte verwirklicht, die bis dahin, auch wenn sie wohlhabend waren, in den beschränkten Kammern und Stübchen der ehrwürdigen dichtgedrängten Altstadthäuser gelebt hatten, in bestrickend schönen und phantasieanregenden Gemäuern, denen aber die ständische Subalternität deutlich an die schmalbrüstigen Fassaden geschrieben war.
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Skyline von Frankfurt – im Vordergrund das Westend, dahinter die Innenstadt mit den Bank-Hochhäusern
Skyline von Frankfurt – im Vordergrund das Westend, dahinter die Innenstadt mit den Bank-Hochhäusern
Und nun dies herrliche Meer von Platz um die Bewohner. Jeder Raum war in seinen Proportionen genau konzipiert: Die Stuck-Panneux an den Wänden rahmten die in ihnen gehängten Bilder ein zweites Mal und waren auch ohne Bilder ein Schmuck und eine Gliederung der Flächen; der Stuck akzentuierte die Deckenmitte und bildete einen Sockel für den Kronleuchter. Mit kassettierten Türen und Lamperien, Holzwerk um die Fenster und kaminförmigen Heizungsverkleidungen waren die Zimmer eingerichtet, ohne dass ein einziges Möbel in ihnen stand.
Eindrucksvolle Skulpturen
Aber dies innenarchitektonische Konzept bewährte sich aufs beste in den auf die Gründerzeit folgenden ästhetischen Moden. Geschaffen waren diese Wohnungen für den teuren Theaterprunk der Makart-Dekorationen, aber in den folgenden schlankeren Zeiten bewährten sie sich womöglich erst richtig. Ein Grundgesetz des Bauens offenbarte sich in ihnen: dass sich der architektonische Wert eines Gebäudes erst erweist, wenn es in vollkommen gewandelten ästhetischen und politischen Verhältnissen nicht nur standhält, sondern ihnen sogar noch entgegenkommt.
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In unserer Gegenwart will ja eigentlich niemand eine andere als eine Gründerzeitwohnung haben; selbst ehrgeizige Architekten, die ihrer Klientel millionenteure Villen hinsetzen, ziehen für sich selbst eine Gründerzeitwohnung vor. Die Matratzenlager studentischer Wohngemeinschaften, die Chintzsofas und Ahnenporträts der Aristokraten, die dreißig Meter langen Bücherwände asketischer Intellektueller und die schwarzen Ledersofas von Cy-Twombly-Sammlern fügen sich bestens in Gründerzeitwohnungen ein.
Ich habe diese Wohnungen, diese Häuser zweimal im Zustand der Zerstörung gesehen. Das erste Mal in meinen Kinderjahren zwischen 1955, als wir von Königstein nach Frankfurt zogen, und 1965. Das Frankfurter Westend hatte während der Bombardierungen einige schlimme Treffer abbekommen, gehörte im Ganzen aber zu den weniger zerstörten Stadtvierteln. In unserem Haus wohnte im Souterrain eine verwachsene Putzfrau, die vom Hauseigentümer ein lebenslanges Wohnrecht zum Dank dafür erhalten hatte, dass sie während der Angriffe auf dem Dach herumgekrochen war und gelöscht hatte. So hatte dies Haus den Krieg überstanden, ein großer neugotisch dekorierter Kasten, dessen kupferne Wetterfahne die Jahreszahl 1897 zeigte.
Mit seinen Zweihundert-Quadratmeter-Wohnungen war es während dieser Angriffe noch nicht einmal fünfzig Jahre alt gewesen, aber schien aus weit zurückliegenden Epochen zu stammen. In seiner Nachbarschaft lagen einige Ruinen, die in den mehr als zehn Jahren nach dem Krieg das Verletzte, Verbrannte, Schockierende aber verloren hatten. Die Steinhaufen hinter den Fassaden mit den leeren Fensterhöhlen waren bewachsen, Bäumchen und kräftig wucherndes Unkraut bedeckten die Verwundungen, es war sogar schon eine dünne Erdschicht entstanden. Aus den Schutthalden ragten prachtvolle Buntsandsteinquader in dem dunklen Rot, das für die älteren Frankfurter Häuser bezeichnend ist. Die häufig erhaltenen Eingangstore, die nun ins Leere führten, waren zu eindrucksvollen Skulpturen geworden. Erhaltene Stücke des Backsteinmauerwerks zeigten sorgfältig gemauerte Bögen und Lisenen, Kunstwerke des Maurerhandwerks. Hier zu spielen war, als klettere man im Gemäuer einer verfallenen Ritterburg herum.
Etwas Sakrilegisches
Die zweite Zerstörung der erhaltenen gebliebenen Westend-Häuser begann in den sechziger Jahren. Die von der Stadtregierung angeheizte Bodenspekulation bediente sich der willigen Hilfe der Kunsthistoriker, um das innenstadtnahe Wohnviertel in ein „City-Erweiterungsgebiet“ zu verwandeln. Der Landeskonservator durfte die Häuser für „künstlerisch wertlos“ erklären, einer „eklektischen, geschmacksunsicheren Epoche“ entstammend, eine bürgerlich rückständige Gesinnung befördernd – das schwatzte sich gegen den Augenschein Begriffsklumpen zusammen, die in Deutschland immer ein leichtes Spiel gegen die Evidenz haben. Während die Feuersbrunst den Häusern einen würdigen Tod beschert hatte, prägte die große Abrissphase mir Bilder der Schändung ein: Erst standen die zum Verschwinden bestimmten Häuser noch jahrelang verwahrlost herum, mit herausgerissenen Fenstern und Türen, ein übler Geruch drang aus ihnen. Dann schließlich wurden sie auseinandergerissen wie ein Aas, über das sich die Hyänen hermachen.
Meine Schule war das Lessing-Gymnasium, im Krieg schwer getroffen, aber ein Flügel mit kirchenhohen Klassenzimmern, deren Fenster denen eines Malerateliers glichen, im Sommer von einer dichten Reihe alter Kastanien beschattet, war erhalten und auch die Eingangshalle mit elefantendicken graupolierten Granitsäulen stand noch. Alfred Hrdlicka erzählte mir, dass er in den Nachkriegsjahren eine Reihe solcher Säulen aus kriegszerstörten Ringstraßenpalais für seine Arbeit bekam; die gotisch qualvoll verdrehte Form seiner Skulpturen erklärte sich auch aus der Säule, in der sie gesteckt und aus der heraus er sie hervorgeholt hatte. Jede schöne geschwungene Säule mit ihrer Bauchigkeit und ihrem Kapitell ist eine Menschenstatue – Karyatiden sind im Grunde eine eigentlich unnötige Verdeutlichung dieser Tatsache; das hätte ich mit vierzehn Jahren, als ich Zeuge wurde, wie die Granitsäulen dieser Schulhalle von Baumaschinen umgeworfen wurden, nicht so benennen können, aber das Gefühl, dass mit dieser Zertrümmerung etwas Sakrilegisches geschah, beherrschte mich. Ich erinnere mich, damals erste Stimmen der Empörung gehört zu haben.
Das brave Bürgertum, das von wissenschaftlicher Seite doch so nachhaltig über die Wertlosigkeit dieser Architektur aufgeklärt worden war, sah immer mehr billige Betonhäuser an die Stelle der für Jahrhunderte gebauten Gebäude rücken und konnte sich über die Erbärmlichkeit, die die Straßen zu säumen begann, mit allen schönen Fortschrittsdevisen nicht mehr hinwegtäuschen. Wie es immer in der Geschichte ist: Winzige Fortschritte in durch Erkenntnis verändertem Handeln müssen mit gewaltigen Opfern erkauft werden; Hoffnung auf die angemessene Wertschätzung darf nur das beinahe schon Verschwundene, noch nicht Ausradierte pflegen. Wenn die verbliebenen Reservate der Gründerzeit-Mietshäuser aber jetzt auch Schonung genießen und als Geldanlage weit mehr gefragt sind als das luxuriöseste Apartmenthaus – eine Konsequenz haben Architekten und Bauherren aus ihrer neuen Liebe nicht gezogen.
Die alten hohen Räume erscheinen unseren zeitgenössischen Plutokraten als geradezu sündhaft, sollten sie selber solche bauen. Die letzten bewohnbaren großzügigen Gründerzeitwohnungen wurden unter Stalin von deutschen Kriegsgefangenen hingestellt: In Moskauer Wohntürmen der fünfziger Jahre findet man Intarsien-Parkett, Empire-Stuck und Flügeltüren mit Spiegeln und Kassetten. Zur selben Zeit ließen die Stadtplaner der westdeutschen bombenzerstörten Städte Schneisen durch die Altstädte schlagen und säumten sie mit den Schuhschachteln, in die gedrückte Fensterlöcher geschnitten waren. Wäre es die schiere Not der Kriegsverlierer gewesen, die sich in diesen Nach-Verwüstungen, diesen unfeurigen Flächen-Bombardements geäußert hätte, wer wollte darüber richten. Aber wir wären nicht in Deutschland, wenn wir uns das Verstümmeln unserer Städte und Wohnungen nicht eine Zeitlang zu etwas Schönem, Notwendigem und auf jeden Fall Zeitgemäßem hochgeredet hätten.
Das hat die Schönheit so an sich
Die Sprache ist aber mächtiger als jedes Bild, ihre Suggestionen schieben verformende Linsen vor die Phänomene. Wir sehen, was wir gehört haben. Der berühmte Turiner Autodesigner Giugiaro hat es mir einmal so erklärt: „Mein Vater war Dekorationsmaler; er malte den Leuten herrliche Architekturen, marmorne Säulen, reiche Ornamente, raffinierte Farben in die Salons ihrer Villen. Das war teuer, aber es entsprach hohen ästhetischen Ansprüchen einer gar nicht so kleinen, gebildeten, den Handwerkskünsten ein Äußerstes abverlangenden Bürgerschicht, und es sollte ein Leben lang oder mehrere Leben halten. Dann nahm das industrielle Zeitalter Fahrt auf, es entstanden andere Systeme, Kosten zu berechnen, und nun wurde das Teure zu teuer. Weil der ästhetische Anspruch der Bourgeoisie aber fortdauerte, setzte man die Theoretiker einfach daran, die Leere, die weiße Wand, die Schmucklosigkeit, die Industriefertigung für Emanationen der höchsten Schönheit zu erklären. Wir ertragen nicht, uns einzugestehen, dass Schönheit uns zu teuer ist, und nennen deshalb den Wegwerfplunder, die Kiste, die Null-Lösung schön.“
Aus diesen Worten des erfolgreichen, mit der industriellen Kultur bestens zurechtkommenden Autodesigners sprach noch etwas von der Verzweiflung des Handwerker-Künstlers, der sein Vater war; der alte Giugiaro konnte den Mentalitätswechsel nach dem Sieg der industriellen Revolution nur als Riesen-Betrugsmanöver begreifen. Wir wissen, dass es sich wohl etwas komplizierter verhält, aber die Empfindungen vieler Menschen, die auf den Ruin unserer Städte blicken, dessen Zwangsläufigkeit in einer auf Reichtum, ja Überfluss gerichteten Wirtschaft sie nicht akzeptieren wollen, gehen in eine ähnliche Richtung. Was ist es nur gewesen, das uns die Wertlosigkeit als höchsten Wert, die Formlosigkeit als höchste Form, die Unbrauchbarkeit als höchste Funktionstüchtigkeit, die Lumpigkeit als Kostbarkeit verkauft hat? Wie konnte die europäische Menschheit eine ihrer hervorstechendsten Begabungen verlieren: das Städte- und Häuserbauen?
Dass die industrielle Architektur des zwanzigsten Jahrhunderts unfähig ist, mit den Bauwerken eines anderen Jahrhunderts ein Ensemble zu bilden, ist offensichtlich – und zwar vollständig unabhängig von der Qualität des jeweiligen Baus. Es ist immer dasselbe: Neben einem Mietshaus von 1880, einer Barockkirche oder auf einem Platz mit Häusern aus mehreren Jahrhunderten – die Sparkasse, das Apartmenthaus, das Verwaltungsgebäude aus Stahl und Beton wirken hier stets als Störung, als Loch im Gewebe. Die zornigen Gemeinplätze, die diese Evidenz hervorruft, pflegen sich in folgende empörte Fragen zu kleiden: Ob nicht in jeder Epoche unbekümmert um den Wert der vorangegangenen Leistungen weitergebaut worden sei? Ob man nicht bedenkenlos einen barocken Turm auf die romanische Kathedrale gesetzt habe? Ob nicht jede Zeit das Recht haben müsse, am Ensemble einer Stadt weiterzubauen? Ob etwa alle Bauten der Vergangenheit von höchstem, ergo schützenswertem Niveau gewesen seien, ob nicht vielmehr auch viel verbautes Pfuschwerk aus der Vergangenheit auf die Gegenwart gekommen sei? Ob die womöglich sogar gelungenen Ensembles der Vergangenheit nun auf ewig museal eingefroren werden sollten? Ob man die Willkür nicht bemerke, nach der das Schützenswerte und zur Konservierung bestimmte Alte gegenüber den Gegenwartsentwürfen definiert wurde? Ob man glaube, die Gegenwart sei zu einer Schönheit der Architektur unfähig?
Es ist für zur Ungeduld neigende Temperamente zur quälenden Pflichtübung geworden, alle diese Fragen in der öffentlichen Diskussion über das Verhältnis überlieferter Ensembles zu Neubauten industrieller Herstellungsweise stets aufs Neue abzuarbeiten: Ja, jede baugeschichtliche Epoche hat mehr oder weniger sorglos Vorangegangene verändert, abgerissen, verschönert oder umgewidmet; ja, jede Gegenwart hat ihr eigenes Recht, sich nach ureigenem Gusto auszutoben, es gibt keine Instanz, die das verhindern könnte; ja, auch in der Vergangenheit gab es schlechte Architektur, Unbegabtheit und lächerliche Ambition. Nein, das sogenannte museale Einfrieren von historischen Ensembles hat etwas Trauriges – obwohl der pejorative Gebrauch des Begriffs „museal“ in einer Zeit überraschen muss, die unablässig neue Museen gründet und sogar das eben Fertiggewordene, noch nicht ganz Getrocknete in Museen stellt. Ja, auch die Gegenwart kennt schöne Architektur, wenn auch nicht eben viel, aber das hat die Schönheit so an sich.
Ein unerträglicher Missklang
Hier ist vielleicht ein Punkt erreicht, an dem sich die Gewalt dieses vorwurfsvollen Frage-und-Antwort-Rituals erstmals unterbrechen lässt: weil es nämlich bei der Fähigkeit der neuzeitlich-industriellen Architektur zur Ergänzung historisch gewachsener Ensembles gar nicht in erster Linie um Schönheit im Sinne der Eigenschaft eines einzelnen Kunstwerks geht. In einem Ensemble vermag auch ein weniger schönes, sogar ein unschönes Gebäude eine vorzüglich Funktion zu übernehmen. Es sind sogar Fälle vorstellbar, wo herausragende individuelle Schönheit die Ausgewogenheit eines Ensembles vernichten könnte. Und weil es bei der Bewahrung und womöglich gar Erweiterung von Ensembles nicht in erstes Linie um Schönheit geht, lässt sich nun auch die einzige bisher nicht beantwortete Frage ins Auge fassen: Nach welchen Gesichtspunkten denn entschieden werden solle, welches Bauwerk fähig sei, sich in das Ensemble einzufügen, da die Schönheit als Maßstab nun einmal ausfalle.
Die Frage beantwortet sich, wenn wir an die Ensembles einer großen alten Stadt denken, die nicht in rothenburghafte Geschichtslosigkeit gesunken ist, sondern deren Vitalität andauert. Paris ist dafür ein einleuchtendes Beispiel, weil hier das Bauen und Umbauen der Stadt, gelegentlich in das alte Geflecht bis zur Brutalität einschneidend, nie ein Ende hatte. Aber der berühmte Stein von Paris, hellgrau in vielen Tönen spielend, schmilzt die Zeugnisse der verschiedenen Epochen zu einem großen Bild zusammen, und auch die einheitliche Traufhöhe sorgt für eine Harmonie, in der Gotik und Klassizismus, Belle Epoque und Art déco bis zu den neoklassizistischen Bauten der dreißiger Jahre zusammenklingen.
Gerade hier wird aber auch einzigartig deutlich, wann die Architektur diese Fähigkeit zum epochenübergreifenden Zusammenklang verliert – vielleicht sogar unwiederbringlich verloren hat. Warum fügt sich ein Art-déco-Wohnblock mühelos neben eine gotische Kirche, warum stellt der Siebziger-Jahre-Wohnblock an derselben Stelle einen fast unerträglichen Missklang dar? Auch der Art-déco-Wohnblock ist ja kein Meisterwerk, wenngleich nicht ganz so mies wie der Siebziger-Jahre-Wohnblock, der einfach nur in Beton gegossenes Millimeterpapier ist. Nein, die ästhetische Qualität soll hier nicht die entscheidende Rolle spielen – ich behaupte, dass auch der bestgelungene Beton-Wohnblock der Welt, den Zeitschriften abbilden und feiern, neben der gotischen Kirche versagen wird, sie kümmerlicher aussehen lassen wird, sie zu armem Gerümpel macht.
Wir müssen uns endlich an den Gedanken gewöhnen, dass die Architektur durch das Bauen mit Stahl und Beton eine Revolution im Sinne eines scharfen und endgültigen Schnitts zwischen zwei Menschheitsepochen erlebt hat. Die eine davon dauerte vom Anbeginn der Welt von Hütten und Pfahlbauten und Trulli und Iglus bis in die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die andere hat danach begonnen, und zwischen ihnen gibt es keine Verbindung, weil diese beiden Epochen des Bauens auf vollkommen verschiedenen Prinzipien aufbauen.
Mit ungefügen Förmchen Kuchen backen
Aus Steinen gemauerte Wände auf der einen, in ein Pfeilergerüst gesetzte Beton-, Glas- oder Metall-Tafeln auf der anderen Seite. Hier gemauerte Gewölbe, da gegossene Platten. Ein erkennbares System von Tragen und Lasten auf der einen, eine Unsichtbarkeit der Lasten, körperlich nicht nachvollziehbare Lastenverteilung auf der anderen Seite. Bauen unter dem Gesetz des Materials, in vom Material erzwungenen, aus der Materialität herauswachsenden Proportionen, Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten, die durch das Material gezogen werden, das war die alte Welt. Scheinhafte Befreiung von jeder Materialgesetzlichkeit, theatralische Aufhebung von physikalischen Gesetzen – das ist das Prinzip in der Luft schwebender Riesenmassen, die von unsichtbaren Trossen gehalten werden. Architektur der Räume, der Hallen und Gehäuse, das war einmal – Aufhebung der Räumlichkeit, der Grenzen zwischen innen und außen, das sind die Ziele der neuen Architektur. Ihre illusionäre Grenzenlosigkeit, ihre Befreiung von den Gesetzen des Materials, kennt auch keine notwendige Proportion mehr; am besten kommt sie in Riesenvolumina zur Geltung.
Man kann die Freiheitsempfindung der neuen Architektur eine Ideologie nennen, man kann ihre Formen sensationistisch, illusionistisch, zwanghaft innovativ, modisch, willkürlich nennen, aber man wird nicht leugnen können, dass sie durch die neuen Materialien Beton und Stahl und Glas tatsächlich weitgehend von einer Notwendigkeit der Form befreit ist und zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte jedes erdenkliche Modell realiter bauen kann: Bauwerke wie zerknülltes Butterbrotpapier oder zerknautschte Bierbüchsen oder Gürteltierpanzer sind nun keine Phantasiegebilde mehr. Man mag sich über deren Monstrosität und Lächerlichkeit amüsieren, gegen die jede Schrebergartenhütte ein großes episches Denkmal der Menschheitsgeschichte darstellt – aber man wird anerkennen müssen, dass die vollkommene Freiheit uns auf eine Probe stellt, auf die wir nicht vorbereitet sind und für die wir wahrscheinlich noch lange nicht gerüstet sein werden: Schönheit unserer Willkür abverlangen zu müssen, anstatt sie den naturgegebenen Materialien abzulauschen.
Vielleicht, hoffentlich gelingt es der Menschheit in ferner Zukunft, auch mit den neuen Materialien, den gegossenen, die sich jedem Formeinfall anverwandeln, zu jenem in der Vergangenheit so fruchtbaren Kampf mit dem Material zu gelangen, der der Ursprung unseres überlieferten und in uns immer noch lebendigen Schönheitsbegriffs war. Doch noch befinden wir uns im Kleinkindalter der neuen nachrevolutionären Epoche, wo wir im Schlamm spielen und im sterilen Unrat mit ungefügen Förmchen Kuchen backen. Deswegen kommt es bei einem Gegeneinandersetzen von vorrevolutionären und nachrevolutionären Gebäuden immer zu diesem kreischenden, verletzenden Gegensatz: Entwickelte kollektive Form steht gegen formlose Willkür; materialgebundene Proportion gegen leere Voluminosität, eine Ästhetik der humanen Körperlichkeit mit ihrem physisch nachvollziehbaren Spiel aus Tragen und Lasten stößt auf Luftballons aus Beton, die sich müde von den Fundamenten heben.
Beim Aufeinanderprallen dieser beiden Architekturen geschieht beiden Unrecht: Die alte wird in ihrer zartgliedrigen Verletzlichkeit, die neue in ihrer toten Gewalttätigkeit sichtbar. Wo solch ein Nebeneinander nicht zu vermeiden war, ist es schon schlimm genug – aber auch noch ein Prinzip daraus zu machen, das heißt, die psychopathologischen Kategorien des Sadismus und des Masochismus im öffentlichen Raum verankern zu wollen. Sollten wir nicht versuchen, uns diesen bedrückenden und beunruhigenden Übergang, in dem das Neue nur in seiner verwüstenden Gewalt erlebbar ist, so wenig qualvoll wie möglich zu machen?
Ein Crescendo des Schreckens
Herr Mosebach, wo bleibt das Positive? Das ewige Schimpfen darüber, wie es falsch gemacht wird und worden ist, macht nicht satt. Das Kind ist in den Brunnen gefallen, nun sitzt es tief unten im stinkenden Schlamm und fühlt sich, wie es der infantilen Mentalität entspricht, sogar noch ganz wohl. Wer diesen geistigen Status erreicht hat, mag keine kritischen Worte darüber mehr hören. Tatsächlich ist gegenwärtig nichts so verpönt wie Skepsis gegenüber unserer Lebensform. Jede Erinnerung an die Verluste, die sie gekostet hat, wird als Sentimentalität und Nostalgie gebrandmarkt; die Erforschung dessen, was wir sind, woher wir kommen, welche Gesetze unsere Städte geformt haben, steht unter dem Verdacht übelster Reaktion, wenn nicht von Schlimmerem.
Die an Borniertheit unüberbietbare Selbstzufriedenheit wird inzwischen von begründeter Zukunftsangst unterwandert, die aber nicht Revision des eigenen Standpunktes zur Folge hat, sondern ein verkrampftes Festhalten am Status quo. Jetzt darf nicht mehr ausgesprochen werden, wie gnadenlos unsere Städte seit den Kriegsbombardements verhunzt worden sind. In der Perversion historischer Gesinnung legen wir uns mitten in einer grundsätzlichen rauschhaften Geschichtsvergessenheit eine eigene hochwissenschaftliche Kunstgeschichte für jedes einzelne Jahrfünft des Wiederaufbau-Jammers zu; wir führen penibel Buch über jedes theorienabgestützte, in Wahrheit aber von Habsucht und Politikunfähigkeit gezeichnete Städtebauprojekt. Die Verzerrung des wissenschaftlichen Blicks, die jede ästhetische Wertung ächtet, erhebt jeden hohlen armseligen Pappkarton, der trotz seiner Nichtigkeit wie eine Bombe in die gewachsenen Kataster eingeschlagen ist, zumBaudenkmal. Die verspielten Mätzchen der Fünfziger-Jahre-Bauten mit ihren schrägen Dächern, ihren verschämten kleinen Gespreiztheiten, die von der Dürftigkeit des Grundentwurfs kaum ablenken, werden mit der Akribie untersucht, die Renaissance-Portalen zukäme.
Als das wiederaufstrebende Deutschland in die verbliebenen Häuser des Barock und der Gotik riesige Schaufensterlöcher für Raiffeisenkassen und Waschmaschinengeschäfte baute, entstanden zugleich diese zahmen mickrigen Neubauten, die das Grau in unsere Städte brachten: die Gleichförmigkeit, von allen Geschichtslasten befreit, um der schieren Notdurft zu dienen – und deshalb auch nicht einmal dazu in der Lage.
Inzwischen wird jeder Appell an das Geschichtsbewusstsein, sei es bei der Erhaltung, sei es bei der Wiedergewinnung für das Gemeinwesen unersetzlicher Bauwerke, mit dem höhnischen Hinweis auf die unbestreitbare Geschichtlichkeit dieser Elendsepoche unterlaufen. Als sei es selbst bei entfesselter Bauwut und unbegrenzten Mitteln jemals möglich, die Zeugnisse der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre – ein Crescendo des Schreckens – sämtlich wieder auszulöschen! Diese Zeit wird noch in Jahrhunderten sichtbar sein, ja sogar den vorherrschenden Eindruck unserer Städte darstellen, auch wenn sich ihre Bauwerke dann im traurigsten Verfall befinden.
Der Städtebau braucht Vorschriften
Und weil das so ist, dürfen die Wünsche frei schweifen, unbeschwert von der Verantwortung für ohnehin nicht zu ändernde Realitäten. In diese Wünsche soll sich das erwünschte Positive meiner kurzen Ausführungen nun kleiden. Es sind sämtlich unerfüllbare Wünsche, weil in unserer Lage die erfüllbaren Wünsche keine Lösung mehr bringen.
So wünsche ich mir als Erstes Bauherren und Architekten, die die Stadt, für die sie bauen und planen, als beseeltes Lebewesen erkennen, als einzigartige aus Geschichte und Landschaft geborene Individualität. Die in ihrem Bewusstsein das Römerlager oder die fränkische Pfalz oder das slawische Wehrdorf oder die Adelsresidenz oder den Marktflecken tragen, aus dem die gegenwärtige Stadt hervorgegangen ist. Die das Gesetz erforschen, unter dem die Stadt in die Welt getreten ist. Die die Stadt als ein Werk vieler Generationen begreifen, als Werk zahlloser Namenloser, die gemeinsam diese städtische Individualität zu immer größerer Deutlichkeit ausgebildet haben. Die wissen, dass nicht sie es sind, die diese Stadt erfunden haben. Die die Lage der Stadt in der Landschaft analysiert haben, ihr An-einen-Fluss-geschmiegt-Sein, ihr Thronen auf Hügeln, ihr Lagern in Ebenen. Die die Genialität der Stadtgründer verstanden haben, die Stadt gerade an diesen und keinen anderen Ort gesetzt zu haben. Architekten, die bewundern, wie die alte Stadt gleichsam aus sich selbst erbaut wurde: aus den Steinen ihres Bodens, aus den Hölzern der nahe gelegenen Wälder, aus Backsteinen in den Farben, die der Lehm der Landschaft hervorbrachte. Architekten, die in einer rheinischen oder hessischen oder bayrischen Stadt deshalb keinen Marmor aus Brasilien oder Sibirien verwenden, selbst wenn das ihr gefeiertes Markenzeichen ist.
Ich ersehne Architekten, die nach Vorbild des großen Ruskin, der keineswegs, wie so gern behauptet wird, gescheitert ist, bloß weil die Zeitgenossen seinen richtigen Einsichten nicht gefolgt sind – es sind vielmehr die Zeitgenossen, die durch ihre Dummheit und Geldgier gescheitert sind -, Architekten, die wie Ruskin das Wetter der Gegend, in der sie bauen wollen, prüfen, um zu den für diese Region genau passenden Gesims-Form zu gelangen – was natürlich voraussetzt, dass sie überhaupt Gesimse bauen und gebildet genug sind, die Notwendigkeit von Gesimsen an einem Bauwerk zu erkennen. Architekten und Stadtplaner ersehne und beschwöre ich, die sich in den Kataster unserer alten Städte versenken und die einsehen, dass die Kleinteiligkeit dieses Katasters, diese Häuserfronten, die so breit sind wie ein kräftiger langer Holzbalken, der Straße etwas von der flüssigen Beweglichkeit eines Kettenpanzers geben, der sich an den Körper schmiegt. Die wissen, dass ein Eingriff in diesen Kataster ein Angriff auf das organische Straßengeflecht ist, und die deshalb sogar wagen, solche Angriffe in der Wiederaufbauzeit, solche Gefühllosigkeiten rückgängig zu machen.
Ganz besonders aussichtslos ist die Forderung nach Stadtplanern und Politikern, die für ihre Stadt ein striktes Materialgebot aufstellen: die begreifen, dass das kollektive Kunstwerk Stadt eine rigide Vorschrift, was das Material angeht, braucht. Wir bestaunen die Backsteinstädte Siena und Toulouse, die Kalksteinstadt Paris, den istrischen Travertin von Venedig, den gelben Sandstein von Bath. Warum sind die Frankfurter Stadtväter etwa, die in ihren Ferien bewundernd in diesen Städten herumlaufen, nicht imstande, zu befehlen, dass in Frankfurt nur mit rotem Sandstein gebaut werden darf? In Jerusalem steht kein einziges baukünstlerisch bemerkenswertes Haus, aber das englische Besatzungsstatut, in Jerusalem dürfe ausschließlich mit weißem Kalkstein gebaut werden, hat eine staunenswert schöne Stadt hervorgebracht.
Die Liebe des Architekten
Es ist eine schreckliche Einsicht für Architekten, aber eine Wahrheit: Im kollektiven Kunstwerk Stadt ist das richtige Material, der zur Region gehörende Stein bei weitem wichtiger als gute Architektur. Es bedarf ohnehin für eine Straße keiner Meisterwerke, sondern vor allem die Demut, sich dem Vorhandenen bescheiden einzufügen und die vorgegebene Atmosphäre möglichst wenig zu stören. Ich ersehne Architekten, die ihren Geschmack bis zu dieser Demut entwickelt haben.
Stadtplaner und Bauausschüsse betragen sich heute wie die zu verrücktem Geld gekommenen Investmentbanker, die von New York bis Moskau alle einen Damien Hirst oder einen Andy Warhol haben müssen, und verschreiben ihren Städten in diesem Geist einen Gehry, einen Libeskind, einen Foster oder Meier, anstatt zu begreifen, dass es nicht die Solitäre sind, die die Stadt machen, sondern das Ensemble und dass ein x-beliebiges Backsteinhaus einer Stadt einen größeren Dienst erweisen kann als die tollste auf dem grünen Rasen gelandete fliegende Untertasse.
Ich fordere die Architekten auf, sich mit der Geschichte ihres Fachs zu beschäftigen und bei der Betrachtung der bedeutendsten Bauten der Vergangenheit zu studieren, unter wie viel Vorgaben und Beschränkungen aller Art sie zustande gekommen sind, wie diese Vorgaben und Beschränkungen sie anspornten und zu geradezu unmöglichen Lösungen führten. Eines der schönsten Gebäude der Weltgeschichte, das Erechtheion auf der Akropolis, war mit so vielen religiösen und liturgischen Auflagen belegt, dass dem Architekten, einem der größten Meister seines Faches, beinahe kein Planungsspielraum blieb – und deshalb sollen die Architekten die Hindernisse und Auflagen, die ihnen das Gemeinwesen auferlegt, nicht als Last empfinden, sondern lieben lernen.
Schließlich wünsche ich mir, dass die Liebe überhaupt im Baugeschäft die entscheidende Rolle spiele: dass der Architekt die Stadt, für die er bauen darf, für ihre Lebenden und Toten und für die Ungeborenen, von ganzem Herzen liebt und es als höchste Ehre empfindet, ihrem Organismus etwas hinzuzufügen, und deshalb von Anfang an im Bewusstsein an seine Aufgabe geht, für die Jahrhunderte zu bauen, und wenn es auch nur ein Zeitungskiosk ist, den er entwerfen darf, weil etwas, das nicht in der Absicht gebaut wird, für die Jahrhunderte zu gelten, überhaupt nicht das Recht hat, gebaut zu werden.
Häuser zu Kraftbatterien
Genug des Schwelgens im Utopischen. Fügen wir uns der nicht erst marxistischen Erkenntnis, dass auch die geistvollste Ästhetik durch die Ökonomie bestimmt wird. Wie wäre es denn, wenn der Fiskus sich zum ästhetischen Erzieher entwickeln würde? Gegenwärtig können die Baukosten eines Geschäftshauses höchstens zwanzig Jahre lang abgeschrieben werden, danach ist das Gebäude im Grunde abbruchreif und reißt jedenfalls ein Riesenloch in die Bilanz. Müsste es in einem Gemeinwesen, das auf sich stolz ist, nicht eigentlich so sein, dass billiges auf die nächsten zwei Jahrzehnte berechnetes Bauen steuerlich nicht nur nicht ermutigt werden sollte, sondern eigentlich bestraft werden müsste? Was geschähe, wenn es sich einfach nicht mehr lohnte, Wegwerf-Architektur zu bauen oder besser, weil bauen dafür ein viel zu edles Wort ist, hinzurotzen? Wäre es vielleicht doch noch möglich, durch bloße finanzielle Erpressung zu menschenwürdigeren Städten zu gelangen?
Lohnt es sich überhaupt noch, sich über die Rettung der europäischen, besonders der deutschen Städte den Kopf zu zerbrechen? Ist da in der Substanz noch etwas zu retten, mehr als nette kleine Schminkungen der schlimmsten Greuel? Sind wir in der Lage, für die Stadt der Zukunft noch irgendetwas Sinnvolles beizutragen, die wir in unserem Begriff von der Stadt, der gelungenen schönen Stadt doch ganz und gar an Städtebilder gebunden sind, die ihre Entstehung vorindustriellen Zeiten verdanken? Es besteht doch gar kein Zweifel, dass die Schönheit der alten Städte sich gerade auch einem Bauwerk verdankt, das für uns heute das allerundenkbarste, das allerlästigste wäre: der Stadtmauer, die die Stadt nicht nur in Form hielt, sondern sie geradezu zusammenpresste, unter Hochdruck hielt.
Jeder Platz in der ummauerten, vom Land streng geschiedenen Stadt war eine Sensation, ein Luxus für jedermann bis hin zum Ärmsten. Im engen Raum ballten sich die Häuser zu Kraftbatterien, sie schossen in die Höhe und verdunkelten den Himmel, während in ihren stillen Innenhöfen ein reines Himmelsviereck herunterschien. In diesen überfüllten Städten waren Riesenbauwerke nur die Kirchen. Ihre von Kunstwerken erfüllten Hallen standen jedermann offen, sie waren dem Bodenschacher für alle Zeiten entzogen. Hier herrschte eine Raumverschwendung, die den kostbarsten Besitz des Gemeinwesens bildete.
Die weltliche Macht verkörperte sich in Schlössern und Palästen, Rathäusern und Zunfthäusern, sie war anschaubar, kein gespensterhaftes Bürokratieungeheuer mit Tausenden Funktionären, deren Verantwortung ins Gestaltlose verdampft. Der Fall der Stadtmauern, der den Stadtbrei ins Grenzenlose fließen ließ, war der erste große Anschlag auf die Stadt, der zweite war die Erfindung der Eisenbahn, die den Kreis der Vorstädte ins Uferlose wachsen ließ. Nicht einmal die Verwaltungsgrenzen vermögen seitdem mehr die Linie zu bezeichnen, an der die Stadt aufhört.
Schluss mit der Selbstzufriedenheit
Ein großer Teil der Leute, die heute in einer Stadt arbeiten, haben mit dieser Stadt gar nichts mehr zu tun, sie wohnen an weit entfernten Orten, an die sie ebenso wenig gebunden sind. Das sind grob gesprochen die jedermann bekannten Bedingungen, unter denen sich unsere alten Städte verändern. Wir erleben den Zerfall dieser stolzen politischen Körperschaft Stadt, die für ihre einstigen Bewohner den einzigen denkbaren Ort ihres Lebens darstellte. Jede alte Stadt war eine Urbs, für ihre Bürger die Stadt schlechthin, eine ganze geschlossene Welt, eine Societas perfecta – aber was die neue Stadt sein wird, das wissen wir nicht, und weil wir es nicht wissen, können wir es eigentlich auch nicht unternehmen, da noch irgendetwas zu planen.
Zugleich sehen wir auf die Riesenmetropolen Asiens und Afrikas, in denen nichts geplant wird, mit Grausen, obwohl man in ihren Elendsvierteln manchmal mit Staunen organisch wachsende echt städtische Zellen entdecken kann: die ineinander verfilzten, wie Spatzennester aus hunderterlei Abfall zusammengesteckten und geflochtenen Hütten, die Treffpunkte um die wenigen öffentlichen Wasserhähne, die Tempel und Kirchen, die aussehen wie unfertige Autoreparaturwerkstätten, die ein glänzend lackiertes Götterbild oder eine Muttergottes aus Zement umgeben. Es ist wahrlich keine Sozialromantik, wenn der Betrachter beim Anblick solcher Siedlungen, die von geräuschvollem gemeinsamem Leben erfüllt sind, sich nicht sicher ist, ob den Erbauern dieser spätzeitlichen und zugleich frühzeitlichen Organismen wirklich ein Gefallen getan wird, wenn ihr selbstgeschaffenes Riesendorf dann eines Tages von Planierraupen zusammengeschoben wird und die Bewohner in Betonkasernen verfrachtet werden, die von ferne durchaus den Neubausiedlungen in unseren Vorstädten ähneln mögen. Es ist ergreifend zu sehen, wie diese Menschen auch in den Zwangskorsetts dieser Siedlungen alsbald wieder beginnen, ihre Fuchsbauten anzulegen und sie zu humanisieren.
Um es kurz zu sagen: Meine Ratlosigkeit in der Frage, was mit unseren Städten geschehen soll, kommt aus der Überzeugung, dass ihre Zerstörung sich irreversiblen industriellen, ökonomischen und politischen Prozessen verdankt, die zu gigantischen Verlusten geführt haben, ohne dass ihr ästhetischer Gewinn sich mir schon andeutete. Sich gegen das Irreversible aufzubäumen gilt als unweise – ist es nicht klüger, angesichts der kurzen Lebenszeit lieber dafür zu sorgen, so viel Geld zu akkumulieren, damit man viel Zeit in noch unzerstörten Erdenwinkeln und in noch nicht verwüsteten, womöglich sogar liebevoll geschützten halb musealen, jedenfalls aus der Zeit gefallenen Städtchen zubringen kann?
Als Romanschriftsteller habe ich mir ohnehin abgewöhnt, mich über die Zustände, von denen ich erzähle, zu beklagen. Ich habe freilich versucht zu ergründen, wie es zu dem gewaltigen Mentalitätswandel kommen konnte, der es möglich machte, die aufgrund der industriellen Revolution eingetretenen Stadtvergewaltigungen sogar in bürgerlich schönheitssinnigen Kreisen zu begrüßen und als wirklichen Fortschritt zu begreifen – in der ideologischen Definition dieses beliebten Begriffs, der sich das Voranschreiten einer Entwicklung immer nur als ein Erklimmen gesünderer und strahlenderer Verhältnisse vorstellen will. Ich bin in der Beschreibung dieses Sinneswandels aber nicht zu einer Erklärung gelangt.
Es scheint mir heute, dass die Sehnsucht der meisten Menschen darin besteht, mit ihrer Zeit in Übereinstimmung zu sein, und dass die Gesamtheit eines Volkes wie ein großes Tier oder ein Schwarm mit gemeinsamer Seele den sich rätselhaft vollziehenden Wandel der Geschichte erlauschen und ertasten kann und sich ihr in Blitzgeschwindigkeit adaptiert, und zwar unabhängig davon, ob der Einzelne zum denkenden oder zum wenig denkenden Teil der Menschheit gehört. Das Einzige, was mir deshalb erstrebenswert scheint, obwohl ich an den Chancen dieses Vorhabens zweifle, wäre, dass einige Architekten und Stadtplaner aus ihrer Selbstzufriedenheit erwachten; dass es einige Architekten und Stadtplaner gebe, die mit Reue und Abscheu auf das blickten, was sie bis dahin als ihr Lebenswerk zu bezeichnen gewohnt waren. Ich glaube an die Wirksamkeit geistiger Akte – und ich glaube an die Verwirklichung jedes Einzelnen mit dem großen Ganzen des Volkes und daran, dass das, was ein Einzelner denken kann, auch den vielen anderen nicht grundsätzlich verschlossen ist.
Mit diesem Beitrag eröffnete Martin Mosebach das internationale Symposium „Zwischen Traum und Trauma – Die Stadt nach 1945“ an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.
Wider das heutige Bauen: Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: H. Keller, Hagmann, Horst und Daniel Zielske, K. Meier-Ude, Michael Hauri
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Lesermeinungen zum Beitrag [21]
* Danke! 30. Juni 2010, 17:08
* Städte, seid nicht so feige! 30. Juni 2010, 16:12
* Bei aller Kritik an Mosebachs Artikel 30. Juni 2010, 12:35