DER MYSTISCHE WALD/9/09

vom 1./2. September:
1. / 2. September – Der mystische Wald – 23 Uhr 45/ 0 Uhr 45 –

Eines Tages,
es war Sommer,
nachdem sie das Grab der Mutter
mit frischen Pflanzen,
mit Wasser versorgt,
den Grabstein von Grünspan gereinigt hatte,
nach Minuten der Andacht,
schien die Frau erstmals
jenes Kreuz gesehen zu haben.

Es war ein überdimensioniertes Holzkreuz,
oberhalb des Friedhofs,
am Fuße eines aufsteigenden Wäldchens.

Sie verließ den Friedhof
durch die obere Friedhofspforte,
stieg ein paar verwittert wirkende Steinstufen hoch,
und fand sich vor diesem Holzkreuz,
das sie ja
schon so lange kannte.
Wurde ihr jäh bewußt.
Seit ihrer Kindheit,
eigentlich.
Aber die lag lange zurück,
wie auch ihr Leben in dieser
Kleinstadt.

Erstmals, so schien ihr,
stand sie direkt vor diesem Holzkreuz.
Das über mehrere Meter hoch war,
so hoch,
dass sie den Kopf in den Nacken legen mußte,
um seine Spitze zu sehen.

Und zu Füßen des Holzkreuzes
las sie die Inschrift,
die sie nie zuvor
hatte sehen und
lesen wollen.

Es war ein Kriegsgräberkreuz.
Es gemahnte der Toten
der beiden Weltkriege.

Es unterschied nicht,
bei der Trauer um die Toten der Weltkriege,
zwischen den Toten der Täter
und der Toten der Opfer.

Es war ein Mahnmal gegen den Krieg.

Sie fühlte sich seltsam ergriffen,
diese Frau.

Wie lange war es her,
dass sie zuletzt vor diesem Kreuz gestanden hatte?
Oder hatte sie es früher
bloß aus der Ferne gesehen,
ohne es wirklich wahrzunehmen?
Auch zu Zeiten,
da sie noch in der
Kleinstadt gelebt hatte?

Es gehörte irgendwie zu dieser Stadt.
Dieses Mahnmal.
Es thronte über der Stadt.
Über dem Friedhof.
Der an einem Hügel lag,
vor einem Mischwald,
der hinter dem Kreuz anstieg.

Sie begriff nicht,
wieso sie niemals
dieses Kreuz aus der Nähe angeschaut hatte.
Sie erkannte, jetzt,
da waren Figuren in das Holz geschnitzt.
Eine große Figur und ein kleine,
die einander
umarmten.

Hinter dem Kreuz
führten weitere Stufen in den Wald.

Sie folgte den Stufen.
Sie wurden kleiner, schmaler, enger.
Dann stand sie vor einem
schmiedeeisernen runden Tor.
Es war kaum mannshoch,
ließ Platz nur für eine Person,
zum Eintreten.

Die Frau drückte auf die Klinke der Pforte,
sie gab nach.
Das Tor war offen, geöffnet.

Es war Nachmittag.

Die Frau sah die Sonne,
wie erstmals an diesem Tag.
Filgran,
wie durch ein Sieb von Spinnenweben gefiltert,
tief-golden,
zugleich wie durch einen Schleier, fern, unwirklich.

Ein eigenartiger Duft
hing über dem Hügel des Waldes,
jenes Waldes,
den du durch eine schmale kleine Pforte betreten hattest.
Er wirkte kühl,
dieser Duft.
Und modrig.
Trotz der warmen Sonne des Sommernachmittags.
Draußen, außerhalb des Waldes.

Lag es an den hohen Baumstämmen,
die sich himmelswärts lichteten?

Waren die Sonnenstrahlen
niemals nach unten,
bis auf den Waldboden gelangt?
Von daher dieser Duft
von fremder Kälte und Moder?

Die Frau blieb stehen.
Sie schaute sich um.
Nie zuvor, so schien ihr,
hatte sie in
einem solchen Wald gestanden.
Und warum diese Pforte?
Der Wald war doch gar nicht umzäunt?
Und wie künstlerisch diese Pforte
gestaltet war.
Als würdest du in eine andere
Welt eintreten.

Urplötzlich überkam sie das Gefühl,
in einer Kathedrale
zu stehen.
Nie zuvor dieser klare, hohe Gesang der Vögel.
Diese Unberührtheit.
Ein goldenes Spinnenetz vor ihr,
eine Spinne,
inmitten dieses
Netzes ,
die nicht instinktiv flüchtete,
als ihr Netz erzitterte,
beim Nähertreten der menschlichen Person.

Kamen nie Menschen in diesen Wald?

Nach einer Weile bemerkte die Frau,
der bewaldete Hügel
schien ein Muster zu besitzen.
Wie einen Rhythmus.
Sie wußte dies zunächst nicht
einzuordnen.
Was sie glaubte zu sehen,
mehr zu spüren.
Sie fühlte sich benommen.

Zogen sich nicht eigenartige, konzentrische Kreise nach oben,
hin zur Spitze,
zum Gipfel des Waldes?
War da nicht eine Ordnung sichtbar,
in diesem Waldboden,
der diese Kälte ausstrahlte,
während die Sonne über die Wipfel
der hügelwärts aufsteigenden Bäume stach?

Sie kniete nieder,
die Frau.
Betrachtete den Waldboden aus der Nähe.
Irgendetwas war ihr doch aufgefallen!

Sie schob ein paar Grashalme, Auswucherungen von Gebüsch beiseite.

Und ihre Hände stießen auf etwas
Hartes, Kaltes.

Die Handtasche wollte ihr von der Schulter rutschen.
Sie stellte sie ab,
neben sich auf den Waldboden,
und befreite nun mit beiden Händen
das Kalte, Harte,
das sich unter den Gräsern verbarg.

Es war eine Metallplatte.
Ungefähr 30 Zentimeter breit
und 30 Zentimeter hoch.
Die Frau holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche,
und begann,
die Metallplatte von Erde und Staub und Moder
zu reinigen.

Dann sah sie die Inschrift:

..“Geboren am…
Gefallen ..am…“

Die Frau rechnete nach,
wie betäubt.

Gefallen im Frühjahr 1945.
Geboren…1930….!
„Für das deutsche Vaterland“.

Und jetzt sah sie es.
Sah alles genau, ganz genau.
Die Vertiefungen im Waldboden.
Der Abstand voneinander
weniger als ein Meter:
Grabplatten, lauter Grabplatten.

Sie stand auf einem Friedhof
von Kriegsgefallenen!
Des Nazi-Krieges!

Ihre Hände rissen den Staub und die Gräser ab,
es waren Jugendliche,
fast noch Kinder,
und Greise,
hochbetagte, uralte Männer,
Hitlers letzte „Reserve“,
im Frühjahr …1945 …..
allesamt in den Tod geschickt,
verheizt,
in einem mörderischen, verbrecherischen Krieg.
Bis in die letzten Wochen vor dem endgültigen
Zusammenbruch.

Bis zum Gipfel des Hügels….

mochten es dreihundert..
vierhundert…Gefallene sein?
Sie war außerstande,
genau zu zählen.

Am Gipfel des Waldes
erwartete sie eine Lichtung,
mit einem Kreis von Steinen,
und einer steinernen Bank.

Die Luft war hier oben weniger dumpf,
die Sonnenstrahlen
schienen weniger verschwommen,
die Bank aus Naturstein
von den Sonnenstrahlen erwärmt.
Die Frau ließ sich auf der Bank nieder.
Sank in sich zusammen.

Hatten diese Opfer ….
als
Täter….
ihr Leben
lassen müssen….?