ja, damals war FEMINISSIMA noch nicht online…1998..und hieß auch anders: LAND & LEUTE – Lahn-Dill-Revue..
Aus FEMINISSIMA frührer PRINT-Zeitschrift,
der bundesweit ersten und bislang wohl einzigen Hochglanz-RegionalZeitschrift:
LAND & LEUTE – Lahn-Dill-Revue –
regional-überregional-international.
Der Text von HEFT 2 /Frühjahr 1998
Report Regional
10 Land & Leute
Report Regional
Leiden wir nicht immer ein wenig mit?
Wenn wir die Todesanzeigen in der Tageszeitung
lesen?
Auch wenn es Fremde sind?
Der namenlose Schmerz. Das Plötzliche.
Das Unerwartete. Der oder die nach kurzer
oder langer schwerer Krankheit
Dahingeschiedene. Die jähe Leere, Verzweiflung.
Die Sinnlosigkeit des eigenen
Seins. Ein Mensch, ein vertrauter, ein geliebter,
der von einer Sekunde auf die andere
nicht mehr lacht, liebt, redet, nie
mehr anwesend: der fern ist, für immer.
Da ist noch sein Duft in seinem Zimmer.
Was sagte er zuletzt?
Wenn ein Mensch stirbt, gleich wie alt,
welcher Herkunft, ist es als breite sich
Dunkelheit über das Leben der Verbliebenen
aus. Ein Drama.
Trauer, die sich in den wahnwitzigsten
Reaktionen äußert.
Der Tod, er tritt auf, so viefältig wie das Leben.
Am verzeihlichsten scheint sein Kommen,
wenn er Hochbetagte trifft.
Dann liest man vom „Heimgehen“ vom
„friedlichen Ruhen“, nach einem
„erfüllten Leben“. Man nimmt teil an der
Dankbarkeit der Hinterbliebenen, für das
lange Leben des oder der Verstorbenen;
seiner oder ihrer Aufopferung für die Familie.
Und trotzdem: es tut weh, sich mit
dem endgültigen Abschied abzufinden.
Der Tod, er hat seine Rituale. Man trägt
Schwarz. Als sichtbares Zeichen des
Verlusts, den man erlitten hat. Die Umgebung
ist milde, verständnisvoller als gewöhnlich.
Die Beerdigung. Die Trauerfeier.
Der oder die Tote wird noch einmal
geehrt. Ein vielfältiger letzter Gruß
wird ihm oder ihr zuteil. Der Tod, er führt
zuweilen auch wieder zusammen, was
vorher vielleicht zerstritten war. Der Tod,
ja, er hat seine eigenen Gesetze. Die
des Schmerzes. Und die der Tradition.
Dies alles, das Verständnisvolle, das
Behutsame, das Psychoanalytische,
die Würde, die Stille, die Vornehmheit,
die Ehrerbietung: damit ist es schlagartig
vorbei, wenn ein Mensch das Pech
hat, in einen Tod, seinen eigenen, verwickelt
zu werden, der sich außerhalb
der etablierten Norm ereignet, vollzieht.
Jener junge Mann aus Leun. Anfang
Zwanzig. So vielversprechend in seinem
Sportverein. Beruflich in der Laufbahn.
Sein Herz verschenkt. An seine
Verlobte. Die Heirat absehbar. Der Augapfel
seiner Eltern.
Der einzige Sohn. Das einzige Kind.
Vorfreude auf die Enkel.
Anfang Juni 1996. Kirmes in
Ehringshausen-Dillheim. Wie immer
trifft einen aus der Clique das Los: okay,
Du mußt „trockenbleiben“. Darfst in diesem
Jahr nur Mineralwasser trinken,
denn du bist der Fahrer.
Das ist Tradition. Das ist üblich. Holger
ist in diesem Jahr nicht der Fahrer. Die
Stimmung ist gut, die Stimmung ist high.
Es ist eine Sommernacht, lau und alles
stimmt. Die Bruchstücke von Sekunden,
die über den weiteren Lebensweg
oder den Tod
entscheiden…wer kennt sie vorher?
Niemand.
Mit zunehmendem Alkohol stellt sich
ja nicht immer nur Streit ein. Sondern
das Gegenteil: wachsende Verbrüderung.
Und das wie kindliche
Sehnen, ach, nie wieder Alltag! Die
Nacht ist so schön, diese Nacht! sie
soll ewig dauern! Soll nie zu Ende
gehen. Jeder hat solche Nächte erlebt.
So läßt sich Holger breitschlagen,
von einem Freund oder Halbfreund,
man weiß es nachher nicht mehr so
genau, einem emotionalen Freund,
Spätaussiedler, im Volksmund hier
auch „die Deutsch-Russen“ genannt,
noch „mitzugehen“. Dorthin,
wo er wohnt, mit anderen seiner Herkunft
wohnt, um noch irgendwie, wie
auch immer, weiterzufeiern. Holger
widersteht dem Drängen seiner
Freunde, seiner Clique, nun im Wagen
mit „heimzufahren“, zurück
nach Leun. Nein, er will seinen „russischen
Freund“ begleiten.
Was dann geschieht, die wirkliche
Wahrheit, um diesen Pleonasmus zu
benutzen, und falls es denn wirklich
eine gibt, wird wohl nie das Licht des
Tages erblicken. Wer wann was, wieviel
und warum vertuscht hat, ob es
„echte“ Zeugen gab, sicherlich, aber
die sehen vielleicht nur „ihre“ Wahrheit,
es gibt nur Rekonstruktionen.
Fakt ist, gegenüber des Hauses für
die Spätaussiedler wohnen türkische
Familien. Oder eine Familie.
Oder wie auch immer. Die Stimmung
ist nicht gut. Die Türken fühlen sich
von dem Lärm und den Festen der
„Russen“ oft belästigt. Umgekehrt
gibt es ebenfalls Beschwerden. Offenbar
mußte beim Kontrast dieser
Mentalitäten in der Vergangenheit
schon mehrfach die Polizei eingreifen.
Oder wurde wegen beidseitiger
„Ruhestörung“ gerufen.
Wie auch immer. Holger, der keine
Aussagen mehr machen kann, der
UNTERLASSENE
HILFELEISTUNG:
Gelten für Ärzte und
Polizisten andere Gesetze?
von Roswitha Schäfer-Neubauer
11 Land & Leute
Report Regional
ins Freie trat, vielleicht wurde im
Haus der „Russen“ noch gefeiert,
gelacht, getrunken, gestritten, wir
wissen es nicht, waren nicht dabei,
alles Gemunkel: Holger betritt die
Straße, die im Juni um diese Uhrzeit
den Schimmer des Tages trägt, des
aufkeimenden Tageslichts, vielleicht
will er irgendwo ein Taxi rufen, doch
lieber nach Hause fahren, vielleicht
ist ihm jetzt, um diese Uhrzeit, auch
alles zu laut, oder er fühlt sich nicht
gut, weil er doch getrunken hat, in
dieser langen Kirmesnacht und
dann noch bei dem russischen
Freund. Er ist müde. Er will nach
Hause. Die Nacht ist zu Ende.
Holger konnte nicht ahnen, daß es
die letzte Nacht seines Lebens war.
Schicksal? Zur falschen Zeit, am falschen
Ort? Jäh involviert in einen
Konflikt, der nicht ihn betrifft. Offenbar
stürzen sich zwei junge Türken auf ihn,
schlagen ihn nieder. Oder nur einer.
Oder mehrere.
Vielleicht halten sie ihn für einen der
verhaßten Russen, man weiß es nicht.
Vielleicht ist da auch ein Haß auf Deutsche,
man weiß das ebenfalls nicht.
Ehringshausen, eine der dunkelsten
NPD-Ecken im Dillkreis.
Niemand weiß, was genau vielleicht jener
türkischen Familie bereits an Gehässigkeiten
und Ausländerhaß
entgegengeschlagen ist. Ob es Holger
„traf“, weil er Deutscher war, oder weil
man glaubte, er sei einer der „Russen“,
mit denen ständige Fehde angesagt
war. Man weiß es nicht.
Wer eigentlich die Polizei und die
Rettungssanitäter rief, auch das, in dem
Wust von Papieren, Unterlagen, nicht
wirklich rekonstruierbar.
Die Polizei und die Rettungssanitäter
wüßten es, aber sie unterliegen der üblichen
Schweigepflicht. Es ist ja auch
alles heikel. Ein deutsch-russisch-türkisches
Debakel. Denn Holger, der sich,
obwohl selbst Sportler und körperlich
topfit, aufgrund seines Alkoholkonsums
kaum wehren konnte, er scheint
schwerverletzt. Jedenfalls erkennen
dies, soviel scheint verbürgt, Polizei nd
Rettungssanitäter unisono.
Mit Blaulicht wird Holger, es ist um die
fünf Uhr morgens, nach Ehringshausen
ins Krankenhaus gebracht. Typische
Wochenendsituation:
ein einziger Arzt, ein Assistenzarzt, der
für das gesamte Krankenhaus verantwortlich
ist.
Damit stehen die Verwaltung, die Führung,
steht der Chefarzt am Pranger.
Bequemes Leben für die Etablierten.
Die jungen, eher unerfahrenen Ärzte
haben Rund-Um-die-Uhr-Dienste zu
leisten.
Nicht ungewöhnlich, sondern die
Norm. Nicht nur in ländlichen Krankenhäusern.
Der Assistenzarzt, von den Rettungssanitätern
alarmiert, tut zunächst das
Richtige: Holger soll in die Notfall-Aufnahme
gebracht werden.
Der dort diensthabende Arzt fällt in der
Dämmerung des frühen Morgens und
auf die Schnelle die falsche Diagnose:
Holger leide an einer Alkohol-Intoxikation,
also Alkoholvergiftung, er müsse
zurück auf Station.
Die Sanitäter hatten ihrerseits betont,
vermutlich habe Holger eine Schädel-
Hirn-Verletzung. Diese Anmerkung, sie
stieß morgens um Fünf und bei dem
Atem von Markus, der Alkoholgenuß
verriet, bei Notfall-Arzt als auch Stations-
Assistenzarzt: auf taube Ohren.
Zurück mit Holger also auf Station. Fünf
Uhr morgens. In Ehringshausen. Wochenende.
Damit Marginalbesetzung.
Auch das üblich. Und nicht nur in ländlichen
Provinzkrankenhäusern. Vielleicht
war es nicht der junge Arzt, der
die für Holger tödliche Fehl-Entscheidung
traf. Vielleicht war er es doch, vielleicht
waren es auch Einflüsterungen:
„Ach, das kennen wir, hier in der Provinz,
die saufen wie verrückt bei so einer
Kirmes, der soll erst mal seinen
Rausch ausschlafen, dann sehen wir
weiter!“
Holger, der nicht bei Bewußtsein war,
was auf seinen Alkoholpegel zurückgeführt
wurde: er wurde nicht untersucht.
Keine Vitalreflex-Kontrolle, kein Röntgen
seines Schädels, keine Aufnahme
seiner Personalien: nichts. Stattdessen
wurde er, so wie er war, in seinen
Jeans, in seinen Klamotten, auf einer
Art Bahre, verdreckt, mit Blutspuren,
und ohne Bewußtsein, in einen Laborraum
geschoben, und dort sich selbst
überlassen.
Es war rund sechs Stunden später.
Sonntagmorgen. Als ein Oberarzt der
nächsten Schicht, ohne von der Nachtschicht
über die Anwesenheit von Holger
im Laborraum informiert worden zu
12 Land & Leute
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sein, zufällig an diesem Raum vorbeiging
und Stöhnen hörte.
Dort fand er Holger. Ungereinigt, in seinen
Exkrementen liegend, jenseits des
Stöhnens kaum bei Bewußtsein.
Da Holger nicht offiziell „aufgenommen“
worden war, war nicht beweisbar,
daß er sich im Krankenhaus befand
und wer er eigentlich war. Zufall, daß
der Arzt wußte, daß es Holger war: er
kannte dessen Vater, der, nun im Ruhestand,
Rettungssanitäter in der chirurgischen
Unfall-Ambulanz der Uniklinik
Gießen gewesen war.
Unverzüglich rief er den Vater an, Dein
Sohn liegt hier. Der schrie: „Bringt ihn
sofort nach Gießen, in die Neurochirurgie!“
Aber es geschah nichts, bis der Vater
von Leun herbeigerast kam.
Und erschüttert feststellen mußte, daß
sein Sohn, sein einziges Kind, im
Laborraum abgelegt worden war, als
sei er kein Mensch, sondern irgendein
beliebiges Objekt, das man weglegt
und vergißt.
Sechs bis sieben Stunden „zu spät“,
gelangt Holger endlich in die Neurochirurgie
der Universitätsklinik Gießen.
Sein Schädelbruch, seine Hirnblutungen,
sie sind inzwischen zu weit
fortgeschritten, als daß Holger noch gerettet
werden könnte. Im Juni 1996.
Aus der Neurochirurgie Gießen verlautete
damals, Holger sei auf jeden Fall
zu retten gewesen, bei sofortiger Einlieferung
nach der „Schlägerei“. Wegen
des allerdings schwebenden Verfahrens,
der Anzeige der Familie gegen
das Ehringshausener Krankenhaus,
bzw. zwei Ärzte, dürfe man keine offizielle
Stellung beziehen.
Als nun, kurz vor Redaktionsschluß dieser
Ausgabe, L&L den Chef der Neurochirurgie
der Universitätsklinik Gießen,
Professor Dr. Böker, um ein Statement
zu „Holger“ bat, gab dieser die Antwort,
es werde keine Aussage gemacht.
Ein von der Verfasserin dieses Artikels
damals telefonisch angesprochener
Arzt im Ehringshausener Krankenhaus,
dessen Träger die Evangelische
Frauenhilfe, Bonn ist, Leiter: ein Pastor,
reagierte so:
„Sie wollen doch nicht hier ganze Familien,
Existenzen zerstören, indem Sie
dies an die große Glocke hängen? Das
kann doch überall passieren! Das war
doch keine Absicht! Das hat doch keiner
gewollt!“
„Und das Leben des jungen Mannes?
Sein Tod? Seine Familie? Seine Verlobte?
Seine Lebenspläne? Konnte
Holger dafür, daß zwei Ärzte eine
schnelle, falsche Diagnose stellten?
Ohne Untersuchung? „
Daraufhin wurde von der Gegenseite
der Hörer aufgelegt. Der Chef der
Evangelischen Frauenhilfe in Bonn war
niemals zu sprechen.
Die Ärzte – sie sind straffrei geblieben.
Das Ermittlungsverfahren wegen Unterlassener
Hilfeleistung und wegen Fahrlässiger
Tötung wurde von der Staatsanwaltschaft
Limburg, Zweigstelle
Wetzlar, eingestellt.
Auszüge aus der Begründung:
….“Die Einweisungsdiagnose von Dr. ….
lautete auf Alkoholintoxikation und war
somit, da unvollständig, falsch.
Auch die Behandlung des Patienten im
Krankenhaus in Ehringshausen war
kunstfehlerhaft. Das Gesetz bestraft jedoch
nicht den Kunstfehler selbst, sondern
ein kunstfehlerhaftes Verhalten,
das objektiv hätte verhindert werden
können, wenn nach den anerkannten
Regeln der ärztlichen Kunst gehandelt
worden wäre und dadurch eine körperliche
Beeinträchtigung vermieden worden
wäre oder das Leben des Patienten
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
zu retten gewesen
wäre….“
…“Ausweislich des Gutachtens des Instituts
für Rechtsmedizin der Justus-
Liebig-Universität in Gießen vom 14. 10.
1996 (Holger starb Anfang Juni 1996)
war das Leben des Patienten Holger H.
aber selbst bei sofortiger optimaler medizinischer
Versorgung nicht mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit
zu retten gewesen.“
Nun wird das Gutachten der Rechtsmedizin
zitiert:
….“kann die Größe des epiduralen Hämatoms
von uns nicht mehr beurteilt
werden, da dieses in der Neurochirurgischen
Klinik des Klinikums der JLU
Gießen operativ ausgeräumt worden
war.“
Das Gutachten räumt ferner ein:
„Eine entscheidende Rolle spielen
auch die zeitlichen Verhältnisse zwischen
dem Gefäßriß als Blutungsquelle
und der operativen
Intervention…..Wie bereits im Vorgutachten
ausführlich kommentiert,
kommt dabei der Untersuchung und
der Überwachung des Patienten eine
entscheidende Rolle bei. Für die Qualität
der Untersuchung ist selbstverständlich
neben der klinischen Beobachtung
der Einsatz moderner diagnostischer
Verfahren von Bedeutung…“
Holger wurde indessen nicht untersucht.
Sondern „liegengelassen“. Sich
selbst überlassen.
Das Gutachten zielt nach seinen einleitenden
Sätzen auf die „Wirksamkeit“
einer sogenannten Rechtsfigur ab, die
bei vielen Juristen, insbesondere
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Rechtsanwälten, seit langem auf Unbehagen
stößt.
Der Begriff lautet: ÜBERHOLENDE
KAUSALITÄT.
Dies bedeutet, sehr vereinfacht ausgedrückt:
Wenn jemand „sowieso“ gestorben
wäre, weil er so schwer verletzt
war, daß auch sofortige fachmännische
Hilfe nichts mehr genützt hätte, um jemandes
Leben zu retten, dann fällt
auch die Unterlassene Hilfeleistung als
strafbare Handlung juristisch unter den
Tisch! Und das Verfahren wird eingestellt.
Hätte das Gutachten hingegen argumentiert,
daß Holgers Leben bei sofortiger
fachkundiger Behandlung zu retten
gewesen wäre, dann stünden die beiden
Ärzte wegen der ja tatsächlich von
ihnen begangenen und strafbaren „Unterlassenen
Hilfeleistung“ vor Gericht.
So aber gelangen Hochrechnungen,
Zitate aus Wissenschaftlicher Literatur,
letztlich Spitzfindigkeiten, zum entgegengesetzten
Ziel und führen zur Straffreiheit
der Ärzte:
Zitat Gutachten:
„…Es handelt sich dabei um sehr
schwere Hirnverletzungen, die es geraten
erscheinen lassen, das individuelle
Letalitäts (Sterbe)-Risiko von Herrn H.
im oberen Bereich der genannten Zahlen
anzusiedeln…Aber selbst wenn man
dies nicht wollte, sondern die von Müller
(wissenschaftliche Literatur) bezeichnete
Letalitätsrate von 5% in Sonderfällen
heranzieht, hätte Herr H.
OHNE BERÜCKSICHTIGUNG DES BIS
ZUM TODE ZU BEOBACHTENDEN
KRANKHEITSVERLAUFS (es hatte nur
niemand diesen Krankheitsverlauf beobachtet…!)
eine Überlebenschance
von etwa 95 % gehabt.
DIE MIT AN SICHERHEIT GRENZENDE
WAHRSCHEINLICHKEIT LIEGT JEDOCH
BEI 99,73 %.“
Weil also in den Berechnungen des
Gutachtens, das sich überwiegend auf
„Literaturbeweise“ stützt, 4,73 % an Holgers
„mit an Sicherheit grenzender“
Überlebens-Chance fehlen, auf Grund
der Schwere seiner Schädel-Hirn-Verletzungen:
greift die überholende Kausalität
und die die Hilfe schuldig gebliebenen
Ärzte gelten als unschuldig.
Oder anders ausgedrückt: Jede „Überlebens-
Chance“, die unterhalb von
99,73 % liegt, zählt nicht, um Ärzte oder
Polizisten strafrechtlich wegen Unterlassener
Hilfeleistung und/oder Fahrlässiger
Tötung zur Verantwortung zu
ziehen!
Jedenfalls schließt die Staatsanwaltschaft
Limburg, Zweigstelle Wetzlar,
ihre Begründung zur Einstellung des
Ermittlungsverfahrens gegen die beiden
Ärzte mit dem netten Satz:
„DAS ERMITTLUNGSVERFAHREN
WAR DAHER TROTZ EINES NICHT
UNERHEBLICHEN TATVERDACHTS
EINZUSTELLEN.“
Die unverzügliche Beschwerde der
Angehörigen von Holger gegen diesen
Beschluß bei der Staatsanwaltschaft
beim Oberlandesgericht Frankfurt am
Main, der Generalstaatsanwaltschaft
also, wird, mit Datum vom 17. 4. 1997:
v e r w o r f e n.
GRÜNDE:
„Die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft
(Limburg) wurde überprüft.
Sie ist IM ERGEBNIS nicht zu beanstanden.
Soweit vorliegend gegen die Beschuldigten
der Anfangsverdacht wegen
fahrlässiger Tötung durch Unterlassen
(Paragraphen 222, 13 StGB) bestand,
haben die Ermittlungen ergeben, daß
ein Nachweis der erforderlichen Kausalität
zwischen dem Verhalten der Beschuldigten
und dem Tod des Sohns
des Beschwerdeführers nicht mit der
zur Anklageerhebung erforderlichen
Sicherheit zu führen ist. „
Und nun tritt wieder die Freisprech-Formel
„Überholende Kausalität“ auf den
Plan:
„…Den Beschuldigten könnte der Tod
ihres Patienten nur dann zugerechnet
werden, wenn feststellbar wäre, daß
durch ihr rechtzeitigeres Handeln der
Verstorbene MIT AN SICHERHEIT
GRENZENDER WAHRSCHEINLICHKEIT
nicht zu dieser Zeit und auf diese
Weise gestorben wäre (vgl. Dreher/
Tröndle, a. a. O. m.w.N.)“.
Und weiter:
„Nach den vorliegenden ärztlichen
Gutachten – an deren Objektivität nicht
zu zweifeln ist – kann diese Aussage so
nicht getroffen werden..“
Aber wenngleich die Staatsanwaltschaft
beim OLG Frankfurt letztlich der
Einstellungsverfügung der benachbarten
Behörde in Wetzlar zustimmt, so
doch auf letztlich anderem Weg, anderer
Argumentation, die auch nicht
glücklicher macht.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hebt
zwar einerseits die Bedeutung des
Strafrechtsparagraphen der Unterlassenen
Hilfeleistung (Paragraph
323 c StGB) insofern hervor, indem sie
feststellt:
„ist Paragraph 323 c StGB kein Erfolgsdelikt
und macht die Strafbarkeit des
Beschuldigten eben nicht davon abhängig,
ob ihm ein bestimmter Erfolg
zuzurechnen ist. Hier wird – im Gegensatz
zum Vorwurf bei der fahrlässigen
Tötung durch Unterlassen – jeder unter
Strafe gestellt, der bei einem Unglücksfall
nicht Hilfe leistet, obwohl er hätte
Hilfe leisten müssen und können, unabhängig
davon, welche Auswirkungen
sein Unterlassen hat und welche Erfolgsaussichten
sein Handeln gehabt
hätte..“
Das sind klare und wichtige Worte zum
Straftatbestand Unterlassene Hilfeleistung.
Und schließen sogar die Rechtsfigur
„Überholende Kausalität“ aus.
Doch sind auch diese Erkenntnisse
das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt
sind, denn die nächste Einschränkung
folgt sofort:
14 Land & Leute
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„Im Ergebnis aber muß auch eine Strafbarkeit
nach Par. 323 c StGB im vorliegenden
Fall verneint werden. Die Ermittlungen haben
keinen Anhaltspunkt dafür erbracht,
daß die Beschuldigten ERKANNT HATTEN,
in welcher unmittelbaren Gefahr der spätere
Verstorbene sich befand, daß also möglicherweise
ein Unglücksfall i.S. dieser Bestimmung
vorlag. Daran scheitert eine
Strafbarkeit nach Par. 323 c, StGB, denn
diese erfordert VORSATZ, wobei bedingter
genügen würde (vgl. Dreher, Tröndle a.a. O. ,
RNR. 10 zu Paragraph 323 c)“.
Damit nicht genug.
„Wenn auch die im Beschwerdevorbringen
dargelegten Anhaltspunkte dafür, daß die
Beschuldigten bei sorgfältigerem Vorgehen
das Vorliegen eines Unglücksfalles und die
Notwendigkeit sofortigen ärztlichen Handelns
hätten ERKENNEN KÖNNEN ODER
MÜSSEN, gravierend sind, vermag dies
den hier fehlenden zumindest bedingten
Vorsatz nicht zu ersetzen. Hieraus könnte
nur der Vorwurf fahrlässigen Untätigkeitsbleibens
erwachsen.
Das Ermittlungsverfahren wurde daher zu
Recht wegen Fehlens eines hinreichenden
Tatverdachts nach den Paragraphen 222,
13 und 323 c StGB eingestellt.“
Die Unterlassene Hilfe, die Untätigkeit der
Ärzte, alles wird eingeräumt, aber da kein
nachweisbarer „Vorsatz“ erkennbar ist –
Freispruch! Zuvor Freispruch, weil Holgers
Überlebens-Chancen nicht entsprechend
gegeben waren, laut Gutachten. Damit
kann also jedes Unrecht, für den, der dies
begangen hat, zu dessen Gunsten uminterpretiert
werden. Feine Justiz.
Und doch noch immer – irgendwo – an ein
Fünkchen Gerechtigkeit glaubende Eltern,
sie gehen nun in die letzte Instanz. Danach
bliebe nur noch das Bundesverfassungsgericht.
Sie reichen beim Oberlandesgericht Frankfurt
am Main eine KLAGE-ERZWINGUNG
wegen Unterlassener Hilfeleistung ein.
Der Beschluß, der am 24. Juli 1997
beim Anwalt der Eltern eingeht, erlaubt
noch tiefgründigere Einblicke
in deutsche Justiz. Beweist in erschreckendem
Maß, wie Formalismus
über Sachentscheidungen
siegt. Beweist, daß die größte (medizinische)
Schlamperei, Pfusch
und Gleichgültigkeit juristisch letztlich
gedeckt werden, indem sich
ein Gericht vor einer
Sachentscheidung herummogelt.
Denn was in diesem „Ablehnungsbescheid“
als Begründung vorgegeben
wird, trifft den Nerv von jedermann
und man mag nicht glauben,
daß dies tatsächlicher juristischer
Wahrheit entspricht.
„Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung
wird als unzulässig verworfen“
.
Zwar räumt das OlG Frankfurt ein,
daß der Antrag auf eine gerichtliche
Entscheidung zwecks Erhebung
der öffentlichen Klage gegen
die Beschuldigten wegen unterlassener
Hilfeleistung durchaus
„statthaft ist“,
„Ist aber in diesem Fall nicht zulässig,
weil der Antragsteller nicht als
Verletzter im Sinn der Paragraphen
172 Abs. 1 der Strafprozeßordnung,
323 StG angesehen werden kann.
Das Antragsrecht …..steht nur demjenigen
zu, der durch die den Beschuldigten
zur Last gelegte Tat
verletzt sein kann. An diesem Erfordernis
fehlt es hier.
…Das dem Sohn etwa erwachsende
Antragsrecht ist durch seinen
Tod
nicht auf den Antragsteller als Erben
übergegangen. Die Befugnisse,
die Paragraph 172 Abs. 2, S. 1
Strafprozeßordnung dem Verletzten
gewährt, ist ein rein persönliches
Rechtsgut, das mit dem Tod des
Verletzten erlischt .
Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung
war hiernach als unzuverlässig
zu verwerfen.“
Mit anderen Worten: der tote Holger allein
hätte das Recht gehabt, gegen die
ihm widerfahrene Unterlassene Hilfeleistung
zu klagen, nicht aber sein Vater,
nicht aber seine Mutter.
Ja. Holgers Vater ist demnach „nicht
antragsberechtigt“ gegen die seinem
Sohn widerfahrene Unterlassene Hilfeleistung
zu klagen!
Justitia, quo vadis?
Den Eltern von Holger ist es kein Trost
mehr, aber in einem fast identisch verlaufenen
Fall wie bei Holger: „Ach, der
ist ja nur blau, der soll erst mal seinen
Rausch ausschlafen“ – in Wirklichkeit
schwere Hirnverletzungen, die den Tod
zur Folge hatten, reagierte eine Wiesbadener
Staatsanwaltschaft völlig anders.
Die Ärztin, allerdings wieder
Wochenendsituation, Marginalbesetzung,
übervolles Provinzkrankenhaus
(Idstein) wurde bestraft,
und vom Dienst suspendiert.
Allerdings – der wesentliche Unterschied:
Hier waren die Gutachter von
der Rechtsmedizin Frankfurt gefragt,
und nicht die von Gießen.
Das Gutachten war eindeutig: bei
rechtzeitiger entsprechender Behandlung
hätte Markus (ebenfalls wie Holger
Anfang 20) gerettet werden können.
Das Urteil erging 1996.
Um noch einmal auf die Rolle der
Rechtsmedizin der Uni Gießen zurückzukommen.
Es war nur einen Monat nach Holgers
Tod, im Juli 1996, da starb in der Ausnüchterungszelle
der Herborner Polizeistation
ein Mnn an „ungeklärter Todesursache“.
15 Land & Leute
Report Regional
Wie die Obduktion ergab, an Schädelinnenblutungen,
einem schweren
Schädel-Hirn-Trauma nach einem
Sturz, vermutlich nach Alkoholgenuß.
Für die beiden Polizeibeamten aber
war es nur „ein Betrunkener“, den sie
nach einem Anruf einer Privatperson
auf einer kleinen Straße, auf dem Rükken
liegend, ohne Bewußtsein vorfanden.
Weil ihnen nicht im Traum die Idee
kam, es handele sich um eine „hilflose
Person“, riefen sie auch keinen Arzt.
Sondern verfrachteten den Mann nicht
gerade zimperlich (Zeugen) in ihren
Streifenwagen und überließen ihn in
der Ausnüchterungszelle so lange sich
selbst, bis er tot war.
Der Anruf, dort läge ein Mann wie leblos
auf der Straße, traf bei der Polizei
gegen 5 Uhr morgens ein. Um 7 Uhr 20
entdeckte ein Beamter der Frühschicht,
daß der Mann nicht mehr atmete.
Logisch beinah, liegt die Versuchung
nahe, zu schreiben, daß die Beamten,
einer davon der Dienst-Gruppenführer
jener Nacht, straffrei blieben.
Keine Rede davon, daß sie gegen jede
auch nur vorhandene Polizeigewahrsamsordnung
verstießen, die
gerade bei Verdacht auf Alkohol eine
medizinische Haftfähigkeitsprüfung
zwingend vorschreibt (Paragraph 15
Polizeigewahrsamsordnung).
Daß sie einen quasi Sterbenden nicht
einmal als „hilflose Person“ erkannten.
Daß sie gleichgültig, selbstherrlich und
in jeder Weise falsch gehandelt hatten.
Stattdessen, um der Unverfrorenheit die
Krone aufzusetzen, wurde der unter
den Augen der „Ordnungshüter“ an inneren
Hirnblutungen Verstorbene, tags
drauf vom Polizeipresse-Sprecher des
Polizeipräsidiums Gießen, Kurt Maier, in
einer offiziellen Pressemitteilung des
Polizeipräsidiums als ein „stadtbekannter
Alkoholabhängiger“ bezeichnet.
Was nicht nur eine Beleidigung und
Verunglimpfung eines Toten darstellte,
sondern auch eine Verleumdung.
Die Strafanzeige der Angehörigen gegen
Kurt Maier, sie wurde – von der
Staatsanwaltschaft Limburg abgeschmettert.
Das Attribut „stadtbekannt“
stelle keine Beleidigung, sondern
eine „Tatsachenbehauptung“
dar, und eine solche sei nicht strafbar.
Damit verdrehte der Staatsanwalt
(Herchen), derselbe übrigens, der in
dieser Todesermittlungssache nun
gegen die Polizisten, die die Unterlassene
Hilfeleistung begangen hatten
ermittelte, deutschen Sprachgebrauch.
In jedem DUDEN ist nachzulesen,
wenn man es als Staatsanwalt schon
sonst nicht weiß, daß „stadtbekannt“
eines der Super-Negativ-Attribute
subjektiven Inhalts („meinungsgebunden,
niemals objektiv“) darstellt.
Ein Rufmord-Adjektiv. Wer als „stadtbekannt“
verschrien ist, gilt nach gängigem
Sprachgebrauch, als das
„Letzte überhaupt“.
Gleichzeitig, schien damit, da es sich
ja um einen angeblich „Stadtbekannten“
handelte, offenbar erlaubt, sich
über jede Vorschrift zum Schutz von
Leben hinwegzusetzen.
Strafe für die Polizisten? Nein. Dank
eines rechtsmedizinischen Gutachtens
der Uni Gießen.
Ein Gutachten, das die Schwere der
Verletzungen des Mannes derart „gravierend“
einstuft, daß auch bei „entsprechender
und sofortiger medizinischer
Fachbehandlung“ das Leben
des Mannes nicht mehr zu retten gewesen
wäre..“ Die berühmte, die berüchtigte
„Überholende Kausalität“!
Hier tritt sie also schon wieder als
Rettung für die eigentlich Schuldigen
auf: deren Unterlassene Hilfeleistung
ja nur durch den Tod des Mannes ans
Licht des Tages kam.
Sonst hätte niemand davon erfahren.
Im übrigen besticht dieses Gutachten,
das die beiden Polizisten von jedem Vorwurf
freispricht, auch von dem, vielleicht
durch ihr Verhalten (unsachgemäßer
Transport eines bereits im Sterben Liegenden?)
den Tod des Mannes herbeigeführt
zu haben, durch eine Vielzahl
von Widersprüchen.
Während auch in diesem Gutachten, wie
bei Holger, mit dem Zeitfaktor und
wissenschaflticher Erfahrungsliteratur
gearbeitet wird:
der Mann habe bereits in komatösem
Zustand (durch seine vorher schon stundenlang
stattgefundenen Hirnblutungen)
beim Auffinden auf der Straße durch die
Polizisten gelegen, wird an anderer Stelle
erwähnt:
„Imponiert eine frische Blutung…. (Hirnblutung).“
Wissenschaftlich minutiös listet das Gutachten
die Vielzahl der Prellungen am
Kopf des Toten auf, auch eine markstückgroße
blutende Wunde an der rechten
Schläfe des Verstorbenen (sie soll
entstanden sein, wei der später Tote den
Polizisten beim Versuch, ihn in den Streifenwagen
zu hieven, aus den Armen geglitten
und mit dem Kopf auf den Asphalt
gefallen sei). Ferner die vielfältigen,
schweren inneren Schädel-Hirnverletzungen.
Die einen (von L&L) zu Rate gezogenen
Facharzt zu der Spontanäußerung verleiteten:
„So etwas kann niemals von einem
einfachen Sturz kommen!“
Wie auch immer. Die Polizisten bleiben
straffrei.
Die Angehörigen des Toten zogen erst
gar nicht vor Gericht. Sie resignierten im
Vorfeld.
Und dabei wußten sie gar nicht, daß sie
sowieso, laut, siehe oben, Beschluß des
OlG Frankfurt, als „Angehörige kein
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Klagerecht“ gehabt hätten, weil der,
dem die Hilfe versagt worden blieb, ja
tot war.
Und nur der Tote selbst sich ja hätte beschweren
dürfen, im Sinne einer „statthaften,
zulässigen Klage“, daß ihm Hilfe
nicht zuteil geworden war.
Das alles ist doch ein alter Hut!“ sagt
Oberstaatsanwalt Rothenberger aus
Wiesbaden.
„Wie hoch die Dunkelziffer von auf diese
Weise Verstorbenen ist, weiß kein
Mensch, aber sie ist hoch: so bald jemand
ne Fahne hat, streiken offenbar
die Helferinstinkte, der dafür eigentlich
Zuständigen.“
Dabei weiß jeder Rettungssanitäter,
daß schwere Schädel-Hirn-Verletzungen
und schwerer Rausch auf Anhieb
in ihren Auswirkungen nicht voneinander
zu unterscheiden sind. Da hilft nur
eine sofortige Vital-Reflex-Kontrolle.
Und ist jemand ohne Bewußtsein, muß
mit allen Mitteln, und sei es durch Pieksen
mit einer Nadel, nach Reflexen geforscht
werden:
der Patient muß unter allen Umständen
wachzukriegen sein. Reagiert er nicht,
ist mit bereits erfolgter Eintrübung
durch eine einsetzende oder begonnene
Hirnblutung zu rechnen. Schnellstes
Handeln ist Imperativ.
Röntgen, und das Lesenkönnen von
Schädelrissen im Röntgenbild..
Im Zweifel eine Computertomographie
und sofortiges Operieren.
Wie sagte einer der Beamten, der
Dienstgruppenleiter jener Nacht (24.
Juli 1996), die für den aufgefundenen
Mann die letzte sein sollte, an einer
Stelle des Vernehmungsprotokolls der
Kripo-Kollegen Dillenburg:
„….Wir dachten nun, daß es besser
wäre, den Mann nicht aufzuwecken..“
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