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Fingerübungen.
Lehrer Schmuck kam mit einem Stapel Klassenarbeiten den Flur entlang. Wir rannten zurück zu unseren Plätzen. Waren schlagartig mucksmäuschenstill. Es war der erste Klassenaufsatz in Deutsch. In der neuen Schule. Ach was – neuen Schule? Im neuen Leben! Wir Sextanerinnen platzten vor Stolz, dass wir nun dazugehörten, zu jenen, die sich als Gymnasiasten bezeichneten. Wir hatten eine Aufnahmeprüfung bestanden. Acht Tage lang hatte sie gedauert. Dabei waren wir doch erst zehn Jahre alt. Und wir, meine Freundinnen und ich, mußten zehn Kilometer mit dem Zug fahren, um zu diesem altehrwürdigen, irgendwie bäuchig und rund, aber zugleich auch abweisend wirkenden – lag es an dem Spitzdach, mit der übergroßen Uhr? Gebäude zu gelangen, namens Gymnasium. Vom Bahnhof bis zur Schule wirkten wir Schüler wie ein Haufen Ameisen, der sich emsig und eilig in eine einzige Richtung bewegte.
Lehrer Schmuck war klein, eher rundlich, hatte ein stets gerötetes Gesicht, als stünde er unter Hochdruck, als würde er jeden Augenblick explodieren, was uns vorsichtig werden ließ, von Anfang an, gegenüber unserem Deutschlehrer Schmuck.
Ich beobachtete Lehrer Schmuck, wie er etwas kurzatmig und auf sonderbare Weise aufgeregt, den Stapel der vielen, und sicher schweren DIN-A-4-Hefte, sorgfältig auf seinem Pult vor der weiten grünen Tafel drapierte. Was hatte Lehrer Schmuck wohl alles lesen müssen? Instinktiv duckte ich mich.
Wie ein hohes Päckchen, wirkten sie, die Hefte mit der Klassenarbeit in Deutsch. Akkurat geschichtet. Kein Löschblatt, das aus einem der Hefte herausgeragt hätte, lagen sie da, vor uns, wie zum Greifen nah, die Hefte der Klassenarbeit in Deutsch. Dem ersten Aufsatz, den wir je in unserem jungen Leben geschrieben hatten, ein Erlebnisaufsatz, so hatte es uns Lehrer Schmuck erklärt. Über etwas schreiben, was uns am Herzen lag.
Lehrer Schmuck stand vor uns. Seine Hände vor seinem durchaus sichtbaren Bauch gefaltet. Mir fiel auf, dass Lehrer Schmuck eigentlich eine Glatze hatte. Ein grauer Haarkranz umrahmte seinen Kopf, aber seine Stirn war bar jedweden Haarschmucks.
Herr Schmuck räusperte sich jetzt. In der Klasse hätte eine Stecknadel herunterfallen können. Diese Stille war ungewohnt. Sie war beunruhigend. Wir Mädchen waren in der Unterzahl. Und eigentlich machten die Jungen immer irgendein Geräusch, konnten nicht still sitzen, wippten auf einem Stuhl oder schneuzten lautstark in ein Taschentuch. Nichts dergleichen. Eine lautlose Stille. Als seien wir erstarrt. Als harrten wir beklommen eines Urteils. Denn wir wußten, man hatte es uns in aller Deutlichkeit bei der Begrüßung in der Aula in ausgeklügelte Worten gesagt – dieses erste Jahr war zugleich ein Probejahr. Auch wenn wir die Aufnahmeprüfung bestanden hatten.
„Gut!“
sagte Lehrer Schmuck, und ein kleines Lächeln verschönte sein Gesicht. Die Strenge schien aus seinen Zügen zu weichen. Plötzlich war die Angst vor der Klassenarbeit verflogen. Was konnte schon passieren? Die Aufnahmeprüfung war bestanden, und sogar mit einer passablen Note. Das erste Jahr als „Oberschüler“ lag vor uns. Ein erster Aufsatz, wenngleich im Hauptfach Deutsch, sollte er verhauen sein, würde das für keinen und keine von uns das Ende der gerade erst begonnenen neuen Schullaufbahn bedeuten.
Es war ein Erlebnisaufsatz. Wir hatten wählen können. Zwischen vier verschiedenen Themen: Familie, Natur, Tiere, Verkehr.
„Wir wollen es ja nicht so spannend machen!“
sagte Lehrer Schmuck, als ginge es überhaupt noch spannender.
„Im Großen und Ganzen sind die Arbeiten in Ordnung. Es sind nur zwei Arbeiten dabei, die etwas mager ausgefallen sind.“
Ich merkte, wie ich mich noch eine Spur kleiner machte.
„Aber eine Arbeit ist so außergewöhnlich, daß ich sie Euch vorlesen möchte, ohne den Namen vorab zu nennen. Hört einfach zu. Dieser Aufsatz, und es ist der Einzige, hat von mir eine „SEHR GUT!“ erhalten.“
Ich spürte mein Herz schneller klopfen. Welcher Beneidenswerte, welche Begnadete, gleich den ersten Aufsatz mit dieser Lobeshymne bekränzt! Und auch noch vorgelesen!
Unwillkürlich rutschte ich noch tiefer in meinen Stuhl. Fühlte mich verloren und allein. Was hatte ich hier zu suchen? Sie waren doch alle so begabt. Mein Klassenlehrer hatte mich ausgelacht, als ich gesagt hatte, ich gehe aufs Gymnasium. Aber er hatte dann doch unterschrieben, weil ich so gebettelt hatte, was ich verabscheute, um etwas zu betteln, es war nicht meine Art, aber ich hatte mich verstellt, hatte ihn so treuherzig gebeten, mir doch den Versuch zu gönnen…
Warum ein Lehrer seine Genehmigung geben mußte, wenn ein Kind auf eine höhere Schule wollte, hatte ich ohnehin nicht verstanden, doch schließlich hatte der alte, graue, hagere Mann mürrisch eingewilligt – „Du fällst ja sowieso bei der Aufnahmeprüfung durch!“
Aber ich hatte sie bestanden, die Aufnahmeprüfung.
Spielend sogar! Wie hatte ich diese Woche genossen!
Jemand wie ich gehöre nicht aufs Gymnasium: Ein Gymnasium sei nur für die Kinder von Ärzten, Rechtsanwälten, Pfarrersfamilien und von Lehrern natürlich, hatte mir der Klassenlehrer mit auf den Weg gegeben.
Auch mein Vater hatte sich meinem Wunsch, aufs Gymnasium zu gehen, widersetzt. Ich sollte eine Haushaltsschule besuchen. Um später einem Mann anständig den Haushalt führen zu können. Ich hatte lachen müssen. Mein Vater war wütend geworden. Nur meine Großmutter hatte ihn davon abhalten können, mich zu verprügeln, weil ich so vorlaut war. Und weil ich gar gelacht hatte.
Lehrer Schmuck griff ein Heft aus dem Stapel heraus. Er hatte es mit einem roten Faden versehen, so dass er es gleich fand. Unsere Augen hingen an Lehrer Schmucks Handbewegungen. An seinem roten Gesicht. Als könne es uns etwas verraten.
Lehrer Schmuck schlug das Heft auf und begann vorzulesen.
Nach dem zweiten Satz spürte ich, wie mir heiß und kalt wurde, wie meine Stirn zu schwitzen begann:
Es war meine Arbeit.
Es war ein Aufsatz über ein Stück Erde, über ein Feld, das sich ein Jahr lang ausgeruht hatte, ein ganzes Jahr lang „nutzlos“ gewesen war, keine Ernte erbracht hatte. Ein Stück Land, das sich quasi ein Jahr lang „schulfrei“ genommen hatte. Und wie es nach diesem Jahr des Ausruhens aufgeblüht war.
Als Herr Schmuck zu Ende gelesen hatte, dachte ich, jeder müsse an meinem hochroten Kopf der Verlegenheit erkennen, daß es ich war, ich, die Kleine aus der dörflichen Vorstadt vor der Kleinstadt, die diesen Aufsatz geschrieben hatte. Und ich rutschte so tief in meinen Stuhl, dass er jeden Augenblick hätte nach hinten wegkippen können. Wie peinlich mir dies jetzt alles war. Als hätte ich mein Herz geöffnet. Und jeder konnte hineinschauen. Diese geschundene Erde. Die hatte endlich pausieren dürfen. Nach all den vielen Jahren, da sie nur ausgenutzt worden war. Sie durfte zwölf Monate lang ausruhen. Dafür schenkte sie im Sommer, der folgte, Blumen über Blumen. Kornblumen, waren die Leuchtendsten, mit ihrem Tiefblau…ich sah sie vor mir, und all die Büsche von wilden Kamillenblüten, die begeisterten Kinder, ein Feld voller Blumen! Und der rote Klatschmohn, schau doch nur!…
„Rosa!“ Ich blickte erschrocken auf. Ja?
Die Klasse hatte angefangen zu klatschen.
„Steh ruhig auf, Rosa,“ sagte Lehrer Schmuck.
„Das ist Dein Applaus!“
Ich wußte gar nicht, was ich sagen sollte, wie ich reagieren sollte, ich hatte so etwas noch nie erlebt. Bloß nicht weinen dachte ich. Bloß nicht weinen.
Schließlich verneigte ich mich, zwischen Weinen und Lachen, vor der Klasse, vor Lehrer Schmuck, linkisch, so voller Freude, dass ich nicht wußte, wohin mit mir, meinen Armen, meinem Körper, meiner Seele. Es war ein so neues, so fremdes, so unbekanntes Gefühl, diese Art von Freude!
Ich begriff, Lehrer Schmuck hatte mich verstanden. Ich wußte selbst nicht so genau, was ich damit meinte. Aber ich wußte es. Er hatte mich verstanden. Ich brauchte keine Angst mehr zu haben. Lehrer Schmuck nickte mir zu.
Als die Stunde zu Ende war, alle nach draußen in die Pause stürmten, bat mich Lehrer Schmuck wie beiläufig zu sich, so dass es nicht auffiel:
„Ein wunderbarer Aufsatz! Du hast ein großes Talent!“
Als ich mittags nach hause kam, aufgeregt, voller Vorfreude – vor Aufregung glühend, spürte ich sofort, als ich die Eltern sah, dass ich sie mit meiner Sehr Gut in Deutsch nicht belästigen konnte. Es würde sie nicht interessieren. Ihre Gesichter wie hinter dunklen Jalousien. Und ich wußte sofort, sie hatten wieder Krach gehabt. Sie saßen am Tisch mit der weißen Tischdecke, vor den Goldrandtellern, das Mädchen, das sie Dienstmädchen nannten, legte mit bleichem Gesicht das viel zu schwere Silber in Form von Messern und Gabeln und Löffeln auf den Tisch und brachte die Vorsuppe. Mein Vater verscheuchte das Mädchen mit einer schroffen Handbewegung.
Der Löffel war zu schwer für mich. Die fettige Suppe war mir zuwider. Und sie war zu heiß.
Trotzig warf ich in das Schweigen :
„Ich habe den besten Klassenaufsatz in Deutsch geschrieben. Er wurde sogar vorgelesen!“
Meine Mutter lächelte ein schwaches, vorsichtiges Lächeln, es erhellte ihr Gesicht.
Mein Vater schnaubte:
„Davon wird niemand satt!“
Ich rannte in mein kleines Zimmer und wollte losheulen. Aber ich hatte keine Tränen.
Ich klappte das Tagebuch zu. Kindheit. Vorbei. Vorbei?
Ich hatte die Wohnung meiner Mutter aufzulösen. Seit Monaten hatte ich die Miete weiterhin gezahlt. Sie wirkt traurig, eine Wohnung, die übrig bleibt, wenn ihre Bewohnerin verstorben ist, wird von Monat zu Monat düsterer, wirkt anklagend, wie im Stich gelassen. Was wollte ich behalten? Wohin mit all den Sachen?
Die dunklen, massiven Möbel des sogenannten Herrenzimmers mit dem wuchtigen Schreibtisch. Ich hatte als Kind seine Seitenfächer gemocht. Und die tiefe Schublade, in der man alles fand, wenn man nur lange genug suchte: Radiergummi, Bleistifte, eine Lupe, Klebstoff, Schnellhefter in verschiedenen Farben, Briefpapier, die unterschiedlichsten Füllhalter, ein Glas mit Tinte. Tintenpatronen. Wie oft hatte er als Buffet gedient, dieser Schreibtisch: Bei Geburtstagen, zu Weihnachten. Die Geschenke ließen sich dekorativ auf ihm aufbauen. Besonders feines Geschenkpapier wurde zusammengefaltet in einer der Seitentüren aufgehoben. Ich strich ein kleines Stück roten Seidenpapiers glatt. Legte es zurück. Von wann war es?
Der schwere Wohnzimmerschrank mit seinen Türen und Schubladen! In der untersten Schublade lag noch immer die alte Spiele-Sammlung. Das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel gab es auch noch. Zwei gläserne Schiebetüren über den Schubladen verliehen dem Schrank einen Anflug von Grazie. Noch immer die Bücher von einst, hinter den Glasscheiben. Bücher, die außer mir wohl nie jemand gelesen hatte. Sie waren von einem Buchclub. „Tiefer Süden“ hatte mich sehr beeindruckt. Ich nahm ein Buch heraus. Ließ die Seiten durch meine Finger gleiten. Wie fein das Papier damals war, hauchdünn, fast wie Seide. Ich stellte das Buch zurück.
Ich war auf den Speicher gegangen. Die Geschichten dieses Speichers, ich hatte sie eines Tages aufschreiben wollen. Einer hatte sich dort erhängt. Ich hatte ihn gefunden, als ich die große Wäsche abnehmen sollte. Zwischen den weißen Laken hatte ich seine Beine entdeckt. Es war einer der Söhne der Nachbarin aus dem Parterre. Eine Flüchtlingsfamilie. Dieser Sohn – so hatte ich mitgehört, sei ein Kunstfälscher gewesen. Das Wort hatte mich fasziniert. Was war Kunst? Und was war ein Kunstfälscher. Das verstehst du noch nicht, hatte man mich abgefertigt. Eines Tages werde ich die Geschichte dieses Mietshauses schreiben, hatte ich gedacht, denn in das schöne neue Haus mit der Wiese drumherum war Papa längst mit einer anderen Frau gezogen. Ich war nicht traurig, als er endlich aus der Wohnung ausgezogen war. Für meine Mutter tat es mir leid. Das mit dem Haus und der anderen Frau. Aber in einem kleinen Mietshaus passierte doch viel mehr. Was sollte man allein in einem großen Haus anfangen?
Die Tür unserer Mansarde klemmte noch immer. Zwischen allerlei Gerümpel hatte ich in einer großen Schachtel, die wohl mal weiß gewesen war, meine Tagebücher entdeckt. Gleich im Stehen angefangen zu lesen. Ein wenig. Ich würde später weiterlesen. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht nie mehr. Eigentlich hatte ich sie längst vergessen. Mit 16 hatte ich aufgehört, Tagebuch zu schreiben.
Mit spitzen Fingern öffnete ich einen der beiden Schränke aus Kunststoff, in denen man Sachen verstaut hatte, die kein Mensch mehr brauchte, aber auch nicht wegwerfen wollte. Ich roch den vergilbten, pudrigen Abglanz des Parfums meiner Mutter, als ich das schwarze Abendkleid aus Taft auseinanderfalten wollte, doch es fielen mir nur Stoff-Fetzen entgegen. Das Modellkleid war mit einer Schere zerschnitten worden. Dabei hatte ich jäh die Vision, ich hätte das Kleid einst vor einem Schrank hängen gesehen. Und hätte auch meine Mutter in dem Kleid gesehen. Es war eine undeutliche Erinnerung. Ich warf das Kleid zurück in den Schrank aus Kunststoff, zog den Reißverschluß zu, griff nach meinen Tagebüchern, verschloß die Mansarde, verließ den Speicher und ging zurück in den ersten Stock in die Wohnung meiner Mutter. Das Haus war leer. Es wohnte niemand mehr in diesem Haus. Es war ohne Zentralheizung. Meine Mutter war die letzte Mieterin gewesen. Die Miete preiswert. Der Ölöfen stank immer. Das Linoleum hasste ich. Wie auch die Teppiche, die die Einfachheit des Hauses, der Wohnung, kaschieren sollten. Mit den Jahren waren die Verschönerungsversuche immer verzweifelter ausgefallen, schien mir. Die Tapeten mochte ich gar nicht erst anschauen. Die Vorhänge erst recht nicht. Statt einer echten Farbe Großgemustertes. Aber ich hatte nichts gesagt. Meine Mutter war nie umgezogen. Seitdem sie mit ihrem Mann und mir, ich war wohl damals sieben Jahre alt, in diese 4 Zimmer-Wohnung umgezogen war. Es war zuallererst ein mächtiger, goldschimmernder Kronleuchter angeschafft worden. Und nach und nach eine Einrichtung, die Wohlstand ausstrahlen sollte. An die alte Wohnung, in der ich wohl geboren war, erinnerte ich mich sehr gut. Dabei war ich doch noch so klein gewesen. Dort war das Brüderchen gestorben. Keine zwei Jahre alt.
Ich erinnerte mich an die Schreie meiner Mutter nach ihrem verstorbenen Jungen, und an meine furchtbaren Ohrenschmerzen. Es war eine Mittelohrentzündung. Und dass ich mich unter der bodenlangen Tischdecke versteckt hatte. Weil ich lebte. Wofür ich mich schämte. Ich erinnerte mich daran, dass ich in der schlauchartigen, länglichen Küche mit dem Herd, der eine angenehme Wärme verbreitete, auf einen Schemel gestiegen war, so oft, um aus dem Fenster hinausblicken zu können. Mein Blick fiel auf einen schmalen Garten mit ein paar vereinzelten Blumen. Er hatte so einsam gewirkt, dieser kleine, ärmliche Garten. Aber ich hatte die Blumen gezählt. Und ich erinnerte mich daran, dass in dieser Küche ein Huhn geschlachtet worden war. Wie ihm der Kopf abgehackt worden war. Und wie dieser kleine Körper des Huhns noch lange gezittert hatte. Aber ich durfte nicht weinen. Und plötzlich erinnerte ich mich daran, wie an einem Heiligen Abend, nachdem meine Mutter schon aufgegeben hatte, auf meinen Vater zu warten, und in diesem Herd die Glut fast ausgegangen war, die Kerzen des dürren Weihnachtsbaums so gut wie niedergebrannt, mein Vater heimgekommen war, eine geschlachtete Gans unter dem einen Arm und einen schwarzen Schäferhundwelpen unter dem anderen, und alle Beklommenheit von mir gefallen war, meine Mutter wieder gelacht hatte und ich überglücklich, einen Hund zu Weihnachten als Geschenk bekommen zu haben. Später hatte mein Vater diesen Hund erschossen. Weil er mein ein und alles war. Nein, er hatte ihn erschießen lassen. Es nie eingestanden. Ich hatte es herausgefunden. Einer der Arbeiter meines Vaters hatte es mir schließlich verrate. Ich war dreizehn Jahre alt. Die Eltern lebten in einem Scheidungskrieg. Es war so furchtbar, dass ich nicht einmal in meinem Tagebuch darüber geschrieben hatte. Es war der Tag, an dem ich wußte, ich konnte diesen Eltern nie mehr vertrauen.
*Fortsetzung folgt: vielleicht….
AUSSEN VOR
9.11. 2017 / 01:24, auf Donnerstag.
Erstes Kapitel
Sie waren grell, die Farben. Zugleich schienen sie stumpf, matt, wie achtlos aufgetragen, Farben, wie sie auf angestaubten, mit raschen Pinselstrichen übermalten Pappwänden von Kulissen zu finden sind, backstage, nach Ende der Saison. Eine Sonne, rund, eidottergelb, wollüstig schaukelnd in süßlichen Limonaden aus Regenbogenfarben. Glühend. Kochend, erbarmungslos. Der Himmel in verwaschenem Babystramplerblau. Doch das Wasser! Das Wasser, dieses Meer, sprühte metallisch, spuckte graue Gischt, zuckte, atmete, bebte, zitterte, mit schaumigem Maul, wie ein Rennpferd, vor dem Start. Der Himmel veränderte sich. Wurde fahl. Das schieferne Meer ausgestreckt, glatt wie ein Ölteppich. Ich lehnte an der Felswand, am Ende des Strands.
Es begann sich zu bewegen. Das Meer. Als ob dieser endlose Teppich aus Öl sich zusammenzog, kräuselte, die glatte Fläche zerbrechend, zerbröselnd, wie eine brüchig gewordene Leinwand. Es schlich sich an. Kroch mit breiten, grauen Zungen über den menschenleeren Strand, lauernd, tückisch, zielbewußt, und tonlos. Als sei ein Radio ausgeschaltet worden. Als ob du Dein Gehör verloren hättest. Kein Laut, nirgends. Kein einziger Möwenschrei. Kein Rascheln im Sand. Kein Flügelschlag. Kein Wind. Auch die Luft stand still. Das Wasser kam näher. Erreichte meine Zehen. Meine Füsse. Schlingerte meine Waden hoch. Warm, glitschig. Jetzt schwappte es an meinen Oberschenkel, überflutete meinen Schoß, umfing meine Taille, tätschelte den Busen, den Hals und dann – ein überdimensioniertes, schmatzendes Glucksen, wie alle Lautsprecher auf Maximum gedreht, fädelte sich das Wasser in meinen Mund, in meine Nasenlöcher, meine Ohren. Ich wollte schreien, aber das Wasser rann in meine Kehle, füllte meinen Körper, machte mich stimmlos.
Ich erwachte. Todesangst. Kälte im Zimmer. Dunkelheit. Neben mir tiefe Atemzüge. Er schlief. Ich fühlte mich klamm und nass. Die Panik pochte in meinen Ohren. Ich lag ganz steif. Ich wollte ihn nicht wecken. Aber ich wünschte mir, er würde jetzt wachwerden, von allein, und mich wärmen. In den Arm, in beide Arme nehmen, mich an seinen schlafwarmen Körper drücken, mich festhalten und wärmen, mir beruhigede Worte ins Ohr flüstern, bis die Angst verscheucht war. Und ich begriffen hatte, es war nur ein Traum. Ein mörderischer Traum. Ich hatte abends die Nachrichten im Radio gehört. Sie hatten von „Seenebel“ gesprochen, das Wort hatte sich in meine Seele eingekerkert, übte eine unerklärliche Anziehungskraft auf mich aus. Es war mir eigentlich fremd, das Wort, es klang unheimlich, Bilder von Geisterschiffen tauchten auf, und ich spürte die Beklemmung der Mannschaft: Mitten auf dem Meer, im Nebel, auf einem schwankenden Kahn, einem orientierungslos gewordenen Schiff. Nur die sensorischen Augen des Kompasses.
Doch mein Mann wachte nicht auf. Seine Atemzüge, tief und regelmäßig. Im Zimmer aber war es kalt und nachtschwarz. Ich rollte mich vorsichtig auf die Seite, ihm den Rücken zu, zog meine Decke über die Augen, das hatte ich als Kind immer gemacht, um mich vor der Welt zu verstecken, versuchte wieder einzuschlafen. Dieses letzte Bild zu verdrängen, wie das Meer endgültig von mir Besitz ergriffen hatte, mich in einer dunklen Woge, die den weit ausladenden Schwingen eines Raubvogels glich, oder eines Engels, in die Tiefe gerissen hatte.
Ich hatte mich darauf gefreut, in die Nähe des Meeres zu ziehen. Es war nur eine knappe Autostunde bis zum Meer, keine Tagesreise, wie zuvor.
Ich liebte das Meer. Wie es kam und ging, die Nordsee. Und ich liebte meinen Mann, vor allem. „Mein Mann“, welch merkwürdiges Wort, als gehöre einem der andere jetzt, durch ein Stück Papier auf dem Standesamt. Sechzehn Tage verheiratet, und seit zwei Tagen umgezogen. Weit weg, die alte Umgebung, meine Umgebung.
Ich hörte den Wind um das Haus heulen, dessen Wände mir plötzlich dünn und brüchig erschienen. Ein Ferienhaus. Im Januar. Ofenheizung. Abseits gelegen. Als Übergangslösung. Bis das Haus, das wir mieten wollten, frei war. Eine Notlösung. Denn schon in ein paar Tagen sollte mein Mann seinen neuen Posten antreten. Bei einem Fernsehsender. Ein neues Format. Einer großen Show, die alle zwei Wochen live ausgestrahlt werden sollte. Gute dreißig Kilometer von unserer Gartenhütte, wie ich das Haus nannte, entfernt. Ich würde mit dem Rad in das nächste Dorf fahren, um neue Vorräte einzukaufen. Meinen Wagen hatte ich verkauft.
Er berührte mich, früh am Morgen, als ich noch schlief. Ich spürte seine Lust, drängend.
„Noch geschlossen!“ murmelte ich und räkelte mich,
Er schob mein Nachthemd hoch, seine fiebrigen Hände tasteten über meine nackte Haut.
„Du hast den schönsten Körper der Welt!“ flüsterte er.
„Und Deine Kurven sind lebensgefährlich!“
Ich lachte leise.
Ja, ich mochte meinen flachen Bauch, der sich wie eine Talmulde zwischen den beiden Hüftknochen erstreckte, und meine Taille. Auch meine Brüste gefielen mir. Sie waren nicht zu groß und nicht zu klein. Und meine Beine waren gerade und lang. Ich hatte mir eigentlich nie besondere Gedanken über meine Formen gemacht. Die Resonanz kam von außen. Und es konnte durchaus lästig sein. Meine schläfrigen Gedanken rissen ab…er, mein Mann, wußte, wie er mich wecken konnte, wie meine Schläfrigkeit beinah übergangslos einer Lust wich, einer Gier, als würde ein Vorhang weit aufgerissen und das Paar lag nackt auf einer leeren Bühne, von einem blutroten Lichtkegel angestrahlt. Nichts stört die Lust. Niemand. Sie sind allein, nur sie beide sind auf dieser Bühne. Er hatte seine Hände unter meinen Hintern geschoben und begonnen, mit seiner Zunge meine Schamlippen zu teilen, seine Zähne bissen zu, ein wenig, ich schrie auf, kurz, er leckte er mich mit kleinen, heftigen Zungenstößen, als sei ich eine Frucht, die man auslöffelt.
„Komm zu mir!“ keuchte ich –
Aber ich wußte, er würde erst in mein Inneres kommen, zu mir, in mich kommen, wenn seine lüsterne Zunge mir den ersten eruptiven Höhepunkt geschenkt hatte. Und es gab diesen point of no return, wo er nicht mehr aufhören durfte, ich nichts mehr dachte, alles Blut aus meinem Kopf in meine Lenden geflossen war, sich alle Nerven zusammengezogen hatten, bis aufs Äußerste konzentriert in einer fernen Welt, bis meine Hüften in Ekstase hochschossen, und ich schrie, seinen Mund für eine Sekunde noch fester in meinen Schoß presste, mit beiden Händen, um dann, als mein Sein zu tausend Monden hochflog – seinen Kopf wegschob – beiseite schob, zwischen Weinen und Lachen, erschüttert, fliegend. Er ließ mir nur ein paar Sekunden, dann besuchte er endlich unser inneres Haus, unser gemeinsames Sein, mit einem Teil seines Körpers, für den ich das Wort Penis meide, weil es so medizinisch klingt, so steril, so nüchtern…Ich sog ihn ein, nahm ihn in mich auf, spürte, wie er in mich glitt, in mir wohnte…meine Beckenmuskeln umfingen ihn, hart, gierig, er stöhnte auf, er „kam“ innerhalb von Sekunden, wie die Sprache schnörkellos diese Sekunde der Ewigkeit, der selbstvergessenen Seligkeit, des intimsten Teilens, umschreibt. Wir blieben ineinander verschlungen liegen, ich weiß nicht mehr, wie lange. Irgendwann wurde mir kalt. Und ich zog die Decke über unsere Körper. Mein Mann war noch einmal eingeschlafen. Er hatte noch zwei Tage frei, dann begann seine neue Arbeit als Regisseur einer Fernsehshow.
Wir hatten uns auf der Weihnachtsfeier unseres damaligen Senders kennengelernt, war es vor zwei oder drei Jahren?
Es war Winter. Dezember. Dunkel. Kalt. Kerzenlicht. Weihnachtsfeiern. Glühweinduft. Alles gratis. Die Firma, der Sender, hatte eingeladen. Die weißbefrackten Kellner balancierten auf silbernen Tablets den dampfenden Glühwein, servierten tänzelnd, elegant, mit einem süffisanten Lächeln, als wüßten sie Bescheid. Die Firma hatte die Tische in der Kantine zu langen Reihen zusammengeschoben. Weiße Tischdecken. Adventsgestecke mit roten Kerzen. Es sollte gemütlich wirken, sozusagen. Anheimelnd. So sollte es auch sein. Sich kennenlernen. Sich näherkommen. Das Betriebsklima intensivieren, verbessern. Mein Gegenüber trug eine dicke Brille, die Augen dahinter wirkten vergrößert. Ich beobachtete unwillkürlich, wie der Mann sich eine Zigarette drehte. Seine Hände. Nicht zu groß, kraftvoll, kultiviert, leicht gebräunt. Verstohlen dachte ich, wie es sein würde, wenn diese Hände eine Frau berührten. Ich spürte, wie ich errötete. Schon die Gedanken daran waren verboten. Das Gebot des mütterlichen Calvinismus hatte zum täglichen Dessert gehört: „Komm mir bloß nicht mit einem unehelichen Kind heim!“
Es war die Art, wie der Mann die Zigarette drehte. Gleichsam zärtlich, als sei es ein Körper, strichen die Finger des fremden Mannes das weiße dünne Papier über dem Tabak glatt, ehe seine Zunge langsam über den Klebestreifen fuhr; ich blickte wie ertappt zur Seite. Hatte ich den Mann vorher schon einmal gesehen? Vielleicht. Dann und wann, mittags, in der Kantine. Flüchtig. Er mochte beim Fernsehen sein. Ich arbeitete für den Hörfunk. Die Abteilungen lagen weit voneinander entfernt. Die riesigen Fernseh-Studios brauchten Platz. Und die Übertragungs-Trucks. Dann die Büro-Etagen der Redaktionen und der Verwaltung. Allein die HoLi (Honorar- und Lizenzabteilung) beanspruchte ein Gebäude nur für sich allein. Doch, das Gelände konnte als weitläufig bezeichnet werden. Und so war es nicht ungewöhnlich, dass man sich bei der alljährlichen Weihnachtsfeier vielleicht das erste Mal über den Weg lief, auch wenn man schon Jahre im selben Haus tätig war. Ich selbst war erst seit knapp zwei Jahren am Sender. Ich war stolz darauf. Denn ich hatte Erfolg. Mit meinen Gedanken, und entsprechend meinen Sendungen. Egal. Weihnachtsfeier! Jetzt! Anno 1975. Ich betrachtete unentwegt den durch seine Brille eher distanziert wirkenden Mann mir gegenüber, der so hingebungsvoll und zugleich distinguiert die Herstellung seiner Zigarette zelebrierte. Sie nun an beiden Enden mit der Fingerkuppe seines Zeigefingers abklopfte, noch ein paar widerspenstige Krümel Tabak wegzupfend. Ich wartete gespannt darauf, dass er sie nun anzündete, die Kippe, und wie er sie anzündete, ob er ein Feuerzeug benutzte, oder ob er Streichhölzer aus seiner kleinen dunkelbraunen Ledertasche ziehen würde, die neben ihm auf dem Tisch lag. Ich sah förmlich, wie die Flamme vom Zündholz hochsprang, roch den Schwefel, das Feuer. Und es mußte dann rasch sein, das Anzünden der Zigarette, sonst verbrannte man sich die Fingerspitzen. Oder wenn man nicht aufpasste, versengte das Feuer einem die Haarspitzen, wenn man sich über das dargebotene, brennende Zündholz beugte.
Doch der Mann zündete seine gerade gedrehte Zigarette nicht an.
Stattdessen legte er sie auf den Tisch, schaute mich an, und fragte:
„Darf ich Ihnen eine Selbstgedrehte anbieten?“
Ich wurde rot.
„Sie beobachteten mich so intensiv, dass ich davon ausgehe, dass Sie ebenfalls rauchen, und auf eine Selbstgedrehte scharf sind?!“
Ein unbestimmtes Lächeln in seinen Mundwinkeln. Der Hauch eines ironischen Untertons in seiner Stimme. Seine Stimme passt zu seinen Händen, dachte ich. Versuchte, dem Klang nachlauschend, instinktiv zu orten, woher der Mann kam. Hochdeutsch, ja. Aber eine Tonfärbung, so schien mir, die einer anderen Region entstammte.
„Woher kommen Sie?“ fragte ich.
Er nahm seine Brille ab. Ohne die Brille wirkte sein Gesicht weicher, nein, schmaler, verletzlicher, dachte ich. Seine Augen, jetzt unverhüllt, blickten fast träumerisch, dachte ich, grau-blau, mit langen dunklen Wimpern. Als hätte jemand die Augen mit einem dunklen Kajalstift umrandet. Ich fühlte mich benommen. Hatte ich bereits den dritten Glühwein konsumiert? Viel zu schnell? Um meine Nervosität – oder war es Schüchternheit, zu betäuben? Und ich hatte noch nichts gegessen. Dabei war das rustikale Buffet längst eröffnet.
„Pardon, falls ich die falsche Frage gestellt habe!“ grinste ich, hoffentlich nicht zu verlegen.
„Das passiert mir oft, dass ich die falschen Fragen stelle!“ fügte ich hinzu. Abwartend. Er antwortete nicht.
Er nahm die Zigarette, drapierte sie mit einer ironischen Geste der Grandezza auf eine der weißen Servietten, die er aus einem der Becher gezückt hatte, Becher, mit weihnachtlichen Motiven, die auf den Tischen in genau austarierten Abständen standen, und schob sie zu mir herüber:
„Bitte sehr!“
„Danke!“
Klang es ironisch? Mokant? Vielsagend? Ich wußte es nicht mehr.
Mein Gegenüber neigte sich zu mir herüber. Reichte mir Feuer. Mit einem goldenen Feuerzeug. Es öffnete sich mit einem dezenten Klicken. Unsere Hände berührten sich, als die Flamme sich der Zigarette näherte, während ich mit der anderen Hand meine Haare aus dem Gesicht strich, und den Blick senkte, um mich auf die Flamme zu konzentrieren. Meine Hand zitterte leicht.
Ich nahme den ersten Zug – blickte von unten zu ihm hoch und sagte:
„Danke. Schmeckt gut!“
„Alles klar!“ sagte er trocken.
„Möchten Sie auch einen Zug?“ fragte ich.
Er nickte wortlos.
Ich reichte ihm die Zigarette. Unsere Hände berührten sich.
Er hielt meine Hand fest.
„Eigentlich darf man hier im Saal nicht wirklich….rauchen…!“
Ich nickte.
„Wir könnten draußen auf der Terrasse weiterrauchen?“
Ich nickte. Griff nach meiner Handtasche.
„Wann sehen wir uns?“ fragte er.
„Morgen, zum Frühstück?“
Ich klang kühn. War ich das wirklich?
„Ich wohne in der Nähe. So gegen elf?“
„Wenn du mir deine Telefonnummer gibst?“
Ein spontanes Rendez-Vous mit einem Mann, von dem ich nichts wußte, außer, dass er aufreizende Hände hatte, eine Kippe zur Perfektion zu drehen verstand, und sehnsüchtige Augen besaß! Das lag alles am Dezember. Der Glühwein. Weihnachten vor der Tür und das Neue Jahr. Alles unwirklich.
Ich besaß ein ausgeprägtes Faible für hauchdünne, hochstielige, Sektkelche. Und hatte daher auch fast immer eine Flasche Champagner im Kühlschrank. Oder doch zumindest einen besseren Sekt. Was würde ich anziehen? Sollte ich meine blondbraunen Haare hochstecken? Mein Profil konnte sich sehen lassen. Jedenfalls von der einen Seite.
Ich weiß nicht mehr, was ich trug, wie ich meine Haare drapiert hatte. Es kam auch zu keinem noch so winzigen Schluck schwarzen Kaffees aus der grazilen Tasse des weißen Porzellans aus Limoges, und es kam auch zu keinem Biß in das echt französische Croissant, es war noch ofenwarm, als er kam, und erst recht kam es zu keinem Versuch eines wie auch immer gearteten Small-Talks.
Er stand in der Tür. Nahm die Brille ab, schob sie in seine Winterjacke aus dunkelgrünem Stoff. Ich zog ihn herein, schloß die Haustür. Wir kamen nicht weit. Wir kamen nicht einmal bis in eines der Zimmer. Noch im Flur löste er meine Haare auf (ich hatte sie wohl doch hochgesteckt), noch im Flur riß ich ihn aus seiner Jacke, zog den Reißverschluß seiner Jeans herunter, liebkosten meine Lippen ungestüm seinen Penis. Er roch gut. Doch der Mann nahm mich hoch, zog den Reißverschluß hoch, lächelte sein unbestimmtes Lächeln, ich öffnete eine Tür, es war mein Schlafzimmer.
Ich habe alles vergessen, außer, und das werde ich niemals vergessen, nein, nie hätte ich gedacht, dass es – ! Es war nicht so, dass ich nachher glücklich war. Ich war auch nicht unglücklich. Ich war – überwältigt. Herrenlose Worte für zügellose Gefühle..? Ich fand keine. Wozu auch? Als wir endlich den Champagner aus den sündhaft teuren, hauchdünnen, schlanken, hohen Sektkelchen in kleinen Schlückchen tranken, uns dabei anstarrend, wie in Trance, war es fast dunkel draußen. Die Dezembertage waren kurz. Um vier Uhr war es schon dunkel. Oder fast. Wir lagen ausgestreckt auf meinem Bett, nackt, die Bettwäsche aus Satin, in Rosé und Lila, auf den Boden gerutscht, zerknüllt, verschwitzt, ich fühlte mich wie von einer Welle auf einen samtenen Strand geschleudert, ich hatte die mir unbekannte Lust genossen, hemmungslos, das Liebesspiel auskostend, mich hingebend, ohne Vorbehalt, mich davontragen lassend, ich fühlte ich mich wie ein erlegtes Wild: Wehrlos. Ausgeliefert. Schlimmer: „ …ihm, dem Mann, den ich nicht kannte, willenlos ergeben“. Nein – verfallen! War das richtige Wort.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, streichelte er erneut und behutsam meine noch immer steinharten Brustwarzen. Er stellte den Sektkelch beiseite und tastete mit seiner anderen Hand wieder zu meinem Schoß. In meinen Schoß. Dann rutschte er, meine Brüste, meinen Bauch, meinen Nabel küssend, mit seinem Mund in meinen Schoß – schenkte meinem Schoß ein Schlückchen kühlen Champagners, ehe er mich mit seiner herrischen und gierigen Zunge ausschlürfte, zwischendurch kleine Bisse, ich schrie auf, er sog an meinem Venushügel, als wolle er mich bis zum letzten Tropfen aussaugen, ich schrie, ich stöhnte, ich keuchte, der erneute Höhepunkt….Springflut, Gänsehaut, von oben bis unten, fly me to the moon, ja! Du hast es getan! Der Mann..gönnte mir eine kurze Pause, leckte mich dann weiter, nun tastend, vorsichtig, er wußte, dass die Wucht meines Orgasmus den Durst meiner Lust gestillt hatte…dass meine Glieder sich entspannten, dass meine Gier ruhiger geworden war, das wilde Tier, für einen Augenblick….ja, er gönnte mir eine Pause: ließ seine Zunge ruhen. Bewegungslos. Zwischen meinen großen Schamlippen. In meinem Schoß. Seine Finger lagen auf meinen Brustwarzen. Einfach nur so. Neues Verlangen entflammte. Ich stammelte, schluchzte, flehte, flüsterte, schrie: „Mehr, mehr, mehr, mehr!“
Seine Zunge blieb ruhig. Seine Hände auf meinen Brüsten blieben unbeweglich. Es machte mich rasend: War es das, was sie als „Wollust“ beschrieben? Doch dann begann sich seine Zungenspitze zuckend durch die Landschaften meiner – er sagte – „Möse“ – zu schlängeln, ich erschauerte. Dann beherrschte auch er sich nicht länger: Er durfte und konnte seine orale Begierde mit seinem Mund, seiner Zunge, seinen Zähnen in meinem Schoß ausleben, ich ließ ihn gewähren, er schenkte mir nie erlebte Gefühle, mein Körper, meine Sinne antworteten mit ungekannter, bedingungsloser Hingabe. Allmählich wanderten seine Hände, die meine Hüften festgehalten hatten, während seine Zunge jetzt begann, in kurzen, kräftigen, Bewegungen in meine Vagina zu dringen, meine Vagina auszulecken, er dabei leise grunzende Laute von sich gab, ich mich in erneuten Kaskaden der Lust verlor, wanderten seine Hände zu meinem Hintern, Hände, diese Hände, verführerische Hände, Finger, die sich in aufreizender Langsamkeit in Geheimnisse vortasteten, hineintastend, mir stockte der Atem. Sein Kopf, der in meinem Schoß lebte, seine zuckende Zunge in der Schlucht meiner unendlichen Lust, sein Mund, der schmatzte, seine Zähne, die mit kleinen Bissen immer wieder eine neue Wollust eines kurzen spitzen Schmerzes in mir hervorriefen, es war, als wolle er meinen Schoß und meine Vagina verschlingen, und seine Hände, seine schönen, sinnlichen Hände, mit den schlanken, aber kräftigen Fingern, die jetzt die die Dünen und Berge meines Hinterns vorsichtig erkundeten, ich hörte meinen tiefen Seufzer: ich würde zurückbleiben, ausgeleckt, ausgesogen, zerbissen, ausgewaidet. Ein ekstatisches, wundes Wild. Alles gehört dir, alles, flüsterte ich, und drückte seinen Kopf noch fester in meinen Schoß. Dann ließ der Mann ab von meinem Schoß, drehte mich um, warf mich auf den Bauch, streichelte mit beiden Händen meinen Rücken, küsste mich zart in die Mulde zwischen Rücken und Po, und begann, übergangslos, meinen Hintern zu lecken. Etwas in mir zuckte zurück, Scham, Tabu, moralische Abwehr, instinktiv, aber seine Hände hielten meine Hüften fest umklammert und sein wollüstiges Stöhnen ließ mich die Abwehr, eine anerzogene, sicherlich, eine kulturelle, sicherlich – vergessen, mich selbst vergessend, alles vergessend, zugleich, während der Mann wollüstig meinen Arsch leckte, schoben seine Finger sich schon wieder zwischen meine Schamlippen, wo eben noch seine gierige Zunge geleckt hatte, seine Zähne zugebissen hatten, diese Finger kreisten zwischen den von der Lust aufgeblähten und halbwunden Schamlippen, nass von den Absonderungen einer unersättlichen Gier und von Champagner, und nahmen ein ganz klein wenig jenen Hügel der Lust, der unpoetisch „Kitzler“ heißt, zwischen Daumen und Zeigefinger, um mir einen kurzen süßen Schmerz der Lust zuzufügen, sogleich wieder streichelnd, beruhigend, und weiter wandernd, hin zu jener himmlischen Pforte, meine Vagina! mit zwei Fingern, als wollten sie sie weiten. Aber die Pforte war geöffnet, alles in mir war weit geöffnet, etwas in mir fragte sich flüchtig, ob er vielleicht gar nicht selbst zu mir kommen wollte? Er lutschte noch immer an meinem Hintern, schien mir dort einen Knutschfleck zu verpassen. Mein aufgeregter Atem kam kaum noch mit. Ich hechelte. Er hatte mir bereits alles gegeben. Wollte er selbst sich mir nicht hingeben? War es ihm vielleicht zu viel Nähe? Und wieso fing ich plötzlich an zu denken! Als ob er meine aufkommende Verunsicherung gespürt hätte, vertiefte der Mann seine Finger in meiner Vagina und tauchte nun wieder mit seiner Zunge in meinen Hintern ein. Ich hörte meinen Atem, mein Gurren, mein Fauchen, mein Aufschreien, dazwischen Aufschluchzen fast, es war mehr, als ich mir jemals hätte vorstellen können, was ich gerade erlebte, und plötzlich hatte ich genug. Der Zenit der Lust war mehr als einmal überschritten…ich wollte jetzt in Ruhe gelassen werden. Fast lachte ich bei diesem Gedanken. Dieser Gedanke war wohl erlaubt, nach all den vielen Stunden, in denen wir hemmungslos gefickt hatten? Oder fiel das noch unter „Petting?“ Ich hätte gerne gelacht, entspannt, glücklich, aber ich spürte, der Mann war noch nicht so weit, es hätte ihn sicher verletzt, wenn ich unversehens gelacht hätte, da war noch eine Gier in ihm, die ich spürte, und die mich zugleich neugierig werden ließ? Würde er seinen Schwanz noch in mich stecken, oder nicht? Ich wollte ihn spüren. Ihn kennenlernen. Aber wir hatten Zeit…und ich hatte nicht gewußt, dass es auch einen analen Orgasmus gibt, oder wie bezeichnet man dieses süße Gefühl der Verzuckung und Verzückung…..und es wie aus Dir herausrinnt, dein weibliches Sperma, ich sage Nektar dazu….
Jetzt aber drehte ich mich um, mit dem Lachen eines Raubtiers – den Rachen weit geöffnet und befreite mich mich von den Händen und der Zunge dieses Mannes, der, so dachte etwas in mir, ich war keine Psychologin, einen Hang zum Oralen hatte, zweifelsfrei. Wie gut mir das tat..! Aber nun war es genug.
Denn nun wollte ich aktiv werden! Ich begann, den Mann zu küssen und zu streicheln, mit kleinen Bissen, von seinem Hals bis hinab zu seinem Penis, der hart von seinem Körper abstand. Ich ließ meine Zunge um die Eichel kreisen, begann zu saugen, er stöhnte auf, aber zog mich wieder hoch, zu sich, küsste meinen Hals, die feuchten Haare in meinem Nacken, griff zum Champagner. Er war noch kühl. Ich hatte den Sektkübel bis zum obersten Rand mit Eis gefüllt. Der Mann schenkte mir ein Glas Champagner ein und reichte es mir. Ich prostete ihm zu. Sein Mund kehrte zurück zu meinem Gesicht, seine Zunge jetzt verspielt in meinem Ohr, dann flüsterte der Mann:
„Leg Dich hin, auf den Rücken, mach gar nichts!“
Ich legte mich flach auf den Rücken, auf das schweißnasse und champagnerdurchtränkte Bett. Er rutschte hinab zu meinen Füssen. Begann, meine Fußsohlen zu lecken, und die Zehen, ich schrie auf – „Hör auf! Bitte. Ich halte es nicht mehr aus! Es ist zu viel..!“
Er lachte ein wenig, dunkel, ein bisschen gemein, dann schob er meine Beine auseinander.
„Bitte mach nichts!“ raunte er.
„Sei wie eine teilnahmslose Puppe! Sei meine Puppe!“
„Ich versuche es!“
Nach den Höhenflügen orgiastischster Gefühle war ich gesättigt, ein wenig erschöpft, ein wenig beschwipst, es würde mir nicht schwerfallen, seinen Wunsch zu erfüllen, hoffte ich.
„Darf ich?“ fragte er. „Darf ich mit der Puppe spielen, ja?“
Klar! Ich war neugierig. Ich hatte keine Ahnung, was der Mann mit mir vorhatte.
Er spielte, er sei ein Junge, der eine Puppe gefunden hat, betastet sie, bespuckt sie, beschimpft sie, schlägt sie ein bisschen auf den Unterleib beißt sie ein wenig in die Innenseite ihrer Oberschenkel. Dort, wo es warm und weich ist.
Nun entdeckt er, der Junge, dass die Puppe eine Öffnung hat, die er noch gar nicht gesehen hat. Was dort wohl ist ? Muß man vorsichtig sein? Er stößt sein Glied wie zur Probe in diesen breiten roten Schlitz, der ihm entgegenschimmert. Nur seine Eichel, wagt sich vor, anfangs, dann sein Glied immer ein Stück tiefer in mich hinein, bleibt kurz, zieht sich ruckartig wieder zurück. Bleibt draußen, zögert. Dringt wieder in die Puppe ein. Jetzt etwas forscher, als erwarte er eine Reaktion. Die Puppe reagiert nicht.
Wieder zurück, raus aus der Puppe. Der „Junge“ wird (spielt) jetzt „wütend werden“ :
„Du dumme Puppe, kannst Du nicht einmal etwas sagen, und reagieren?“
Ich spiele das Rollenspiel mit und bleibe stumm und unbeweglich. Mein Herz schlägt wie wild. Habe ich ein wenig Angst? Oder regt mich das Spiel ebenso auf, wie ihn.
Jetzt aber zögert der Mann nicht mehr.
Er stößt mit aller Kraft seinen Penis in das Innere der Puppe. Ich schreie auf. Er hält mir den Mund zu. Und er geht rücksichtslos mit der Puppe um. Sie gehört ihm ja.
Darf er ja. Denn es ist ja eine Puppe, und sie ist aus Plastik. Er lebt sich in meinem Inneren aus, wie zuvor mit Zunge, Fingern, Zähnen und Lippen in meinem Schoß, und in meinem Hintern. Es gefällt mir, da alles weich und warm in mir ist und feucht, und dass ich teilnahmslos bleiben soll, hält meine Erregung hoch. Als er ruhiger wird, sogar zärtlich, zu weinen anfängt, unterdrücke ich mit allerletzter Selbstbeherrschung eine Reaktion.
Ich lasse ihn noch eine Weile gewähren, spielen, er übersät mein Gesicht mit Küssen. Ich kann nichts dafür, dass ich einen weiteren Orgasmus bekomme. Er spürt es in mir: wie mein Inneres konvulsivisch zuckt. Der Mann stöhnt. Er bleibt bewegungslos auf mir, der Puppe, liegen. Sein Schwanz ist noch immer in mir. Heiß und stark. Ich ziehe jetzt die Muskeln meiner Vagina zusammen, als wolle ich seinen Penis zerbrechen, dann lasse ich wieder los, ziehe die Muskeln wieder zusammen, so fest, ich kann. Es ist wie vaginales Schwanzlutschen. Der Mann stutzt, rührt sich nicht, in meinem Inneren. Meine Augen sind geschlossen. Ich höre nur seinen schweren Atem. Jetzt umklammern die Muskeln meines Beckenbodens diesen Schwanz in mir. So dass der Mann sich wirklich fühlen muß, wie in einer engen Vagina aus Kunststoff, die ihn unnachgiebig umschließt. Und jetzt, erst jetzt, jetzt endlich – nach all den Stunden, lässt der Mann sich gehen, gibt sich hin, schenkt mir sein Sperma, überflutet mich, entspant sich, hält mich dabei mit beiden Armen fest umschlungen. Sein Schrei hat etwas Ungestümes, Urtümliches. Sein Schrei verklingt in meinem schweißnassen Haar, zwischen meinem Hals und meinen Brüsten, zwischen Kinn und meiner Schulter. Meine Fingerspitzen ruhen auf seinem Rücken. Unser Atem wird ruhiger. Wie eine Gischt, die auf flachem Strand ausläuft. Ich spüre eine stille Freude in mir.
Er lässt sich auf den Rücken fallen.
„Danke!“ sagt er leise.
Ich unterdrückte ein spontanes Auflachen. Denn ich spürte den Ernst in seiner Stimme.
„Gleichfalls!“ antwortete ich stattdessen, mit dem Echo meines inneren Lachens.
Mein Haus lag am Ende eines Weges. Die Hitze unserer Leidenschaft hatte die kahlen Bäumen des Winters zum Blühen gebracht. Hatte das Eis auf dem Teich zerspringen lassen.
Ich küsste die Hände des Mannes.
Wir blieben nebeneinander liegen. Schweigend. Es war längst dunkel im Zimmer. Abgesehen von dem Streifen Licht, von einer fernen Straßenlampe. Die Wirklichkeit rückte näher, unwiderruflich. Der Abschied.
Ich bin verloren, dachte ich.
Ich weiß nichts vom Leben des Mannes. Wenn er geht, wohin er geht. Ob er wiederkommt? Wir haben uns alles gegeben. Eine Wiederholung, gar eine Steigerung, kann es nicht geben. Oder?
„Möchtest du mich wiedersehen?“ fragt er.
Ich rolle mich zu ihm hinüber, flüstere ihm ins Ohr:
„Ja, mein Prinz. Wann immer wir uns wollen!“
Und beiße leicht in sein Ohrläppchen.
Er lacht leise.
„Soll ich uns zwei Zigaretten drehen?“
„Eine, für uns zwei!“
„Du hast ja recht.“ Sagt der Mann.
Und fügt hinzu: „Willst du mich heiraten?“
„Vielleicht. Frag mich noch einmal, später!“
„Alles klar, meine Schöne!“
„Hast du einen Namen? Von welchem Namen kann ich träumen, wenn du weg bist?“
„Ich heiße Leonhard“, ich höre sein Lächeln zwischen den Silben.
„Mein Löwenherz – ich dichte dich an – werde ich dich wiedersehen oder nie mehr sehen, kommst du zurück, oder bleib ich zurück…“ singe ich, zärtlich, nein, trällere eher, leise jedoch, die Silben dehnend. Ich vermisse ihn schon jetzt.
Er drückt mich an sich, stumm.
Als er sich angezogen hatte, fast an der Haustür stand, knöpfte ich ihm seine dunkelgrüne Winterjacke zu. Hauchte einen Kuß auf seine Wangen, rechts und links, spüre seine aufkeimenden Bartstoppeln, meine Haare noch immer feucht und verschwitzt, kleben an meinem Hals, mein knöchellanger Morgenmantel aus permuttfarbenem, schweren Satin, den ich einst in Südfrankreich auf einem Flohmarkt erstanden hatte, mit seinen Trompetenärmeln, und den Verzierungen aus belgischer Spitze, verleiht mir Eleganz, Selbstsicherheit und betont meine Taille.
Er blickte mich an – ja, wie? Bewundernd?
„Wie heißt Du eigentlich?“
Wir küssten uns lachend. Meine Hände lagen auf seinen Schultern.
„Gib mir den Namen, den du mir wünschst,“
antwortete ich.
„Einen, den nur du und ich kennen..“
Ich fragte nicht nach seiner Telefonnummer.
„Ruf mich an, wenn wir uns brauchen!“ hauchte ich in sein Ohr.
„Jeden Tag, meine Geliebte!“
„Möchtest Du mich Gwendolyn nennen?“
Doch, sagte er, und gab mir noch einen Kuß auf mein Haar.
„Er gefällt mir sogar sehr gut, der Name, fur Dich, meine Süße!“
Tage vergingen.
Ich hörte nichts von ihm.
Er rief nicht an.
Was war geschehen? Hätte ich nach seiner Telefonnummer fragen sollen? Ich kannte seine Liebe.
Seinen Vornamen.
Sonst nichts..
Ich ging erst am Ende der Woche wieder in die Firma.
Hatte mich krank gemeldet.
Ich weinte in unser zerknülltes, verwüstetes, verschwitztes Bett. Ich duschte mich nicht, ich wusch mich nicht, ich wollte seinen Duft bis in alle Ewigkeit in mir, auf mir tragen. Bis er wieder anrief. Bis er wieder vor meiner Haustür stand.
Eine Woche später ging ich wieder in die Firma. Leonhard hatte nicht angerufen. Vielleicht würde ich ihm in der Kantine begegnen? Und wie sollte ich reagieren? Würde ich weglaufen? Oder ihn kess fragen: „Drehst Du mir eine Kippe?“ Nein, ich würde mich verkriechen. Ich fühlte mich kleinlaut und verwirrt.
Und dann stand er eines Abends wieder vor meiner Haustür.
„Was ist passiert?“ fragte ich.
„Ich hatte einiges zu klären. Und ich mußte nachdenken. Und ich möchte Dich noch einmal fragen –
„Willst du mich heiraten?“
„Komm erst mal rein, Du Irrer, Du Verrückter, Du – !“ Er ließ mich nicht ausreden. Küsste mir den Mund zu. Trug mich ins Wohnzimmer.
„Ich lebe in Scheidung,“ sagte Leonhard – und: „Es tut mir leid. Wir haben noch einen harten Weg vor uns. Aber wenn du willst, gehe ich mit Dir bis ans Ende der Welt!“
„Das Bett würde mir im Augenblick genügen!“ – rief ich ausgelassen und rannte vor ihm weg. In unser Bett. Am Ende des Abeds gestand er mir, dass er auch zwei Kinder hätte, die er sehr liebe. Ob ich das aushalten könne?
Ich schon! Aber die Kinder?
„Wie alt sind sie?“
Eine Tochter von Zehn, und der Junge würde demnächst acht Jahre alt.
Ich erschrak.
„Das tut den Kindern sicher weh, dass Ihr Euch scheiden lasst“ – hörte ich mich sagen.
„Es ging nicht mehr, schon lange nicht mehr. Streitende Eltern sind auch nicht das wahre Glück für kleine Kinder!“
„Stimmt.“ Antwortete ich schmallippig.
„Da kenn ich mich leider auch aus. Meine Eltern!“
Zweites Kapitel
Ich sitze am schwarzen Strand einer Vulkaninsel. Die Brandung des Atlantiks übertönt die Welt. Jedes Klagen, jedes Weinen, jedes Jammern; jedes insgeheime Schluchzen, jede Verzweiflung, jede Einsamkeit; jede Hilflosigkeit. Übertönt jeden Abgrund von Mord und Tod. Von gebrochenen Herzen. Von verratener Liebe. Von ausgelöschter Zukunft. Von verlorener Kindheit. Du lauschst dem Atmen des Ozeans. Ebbe und Flut. Tag und Nacht. Leben und Vergehen. Unermessliches und Unfassbares. Über mir ein weiter Himmel in Türkisblau bis ans Ende aller vorstellbaren Zeit. Hinter mir, jenseits des Strandes, eine schmale, menschenleere Straße, die zum Ende der Insel führt. Ein paar flache weiße Häuser schmiegen sich in die auslaufenden Spalten eines Gebirges: Täler, die aussehen, wie aus Papier gefaltet, entstanden aus erstarrter Lava, vor Millionen von Jahren. Es ist Mittag. In der Nähe muß ein Feuer sein. Ob jemand grillt? Ich blicke den Strand entlang. Aber ich sehe keinen einzigen Menschen.
Ich musste eingeschlafen sein. Ein ungewöhnlicher Traum. Ein schöner Traum. Oder? Ich lag auf dem Bett. Allein. Es war still in dem großen Haus. Ich spürte, dass er gegangen war. Und daß er nicht wieder zurückkommen würde. Zu mir. Ich setzte mich in dem breiten Bett auf. Es gehörte nun wieder mir allein. Ich sann kurz nach, über das „wieder“. Wir hatten es doch gemeinsam gekauft, das Bett. Wahrscheinlich hatte ich instinktiv etwas anderes gemeint. Es war zu Ende. Vorbei. Nach acht Monaten des Verheiratetseins.
Morgens hatte es zu regnen angefangen. Ein schwerer, dampfiger Juliregen, und bis Mittag hatte sich der Weg, der zu den Kuhweiden und dem breiten, grauen Strom am Ende der Marsch führte, in eine weite, matschige Pfütze unbestimmbarer Tiefe verwandelt. Der Regen hatte den scharfen Geruch der Schweine vom nahen Bauernhof weggewaschen. Die Sauen und ihre Jungen waren im Stall. Fast vermisste ich ihr kehliges, ungeduldiges Quieken. Ich stand jetzt am Fenster, im zweiten Stock des Hauses, das wir inzwischen gemietet hatten. Es war ein anderes Haus, größer, nüchterner, ungemütlicher, in einem ebenfalls anderen Ort, als das uns damals in Aussicht gestellte, am Rande einer Pferdeweide, in einem verträumten Künstlerort: Mein Mann hatte sich in letzter Minute mit dem Vermieter überworfen. Der hatte den Mietvertrag kurzerhand zerrissen. Ich hatte ihn noch angefleht, uns das Haus doch noch zu geben. Aber der Vermieter, mit einem Blick auf meinen Mann, hatte geantwortet: – „Niemals!“ und uns ein geringschätziges „Viel Glück!“ hinterher geworfen. Ob er mich damit gemeint hatte? Mein Mann war völlig aus der Rolle gefallen, hatte sich in einen Tobsuchtsanfall gesteigert, als er im Mietvertrag den Passus gelesen hatte – „Die Mieter sind für die Wartung des Hauses verantwortlich“. Ein Vermögen könne das kosten, hatte mein Mann geschnaubt. Was, wenn das Dach in Wirklichkeit marode war? Die Heizung kaputtging? Und so war es nichts geworden, mit dem schönen Einfamilienhaus, an einer Pferdeweide mit einem versponnen Garten, und der Adresse in einem renommierten Künstlerdorf. Wäre ja auch alles viel zu spießig gewesen, dachte etwas in mir. Damals hausten wir in der Gartenhütte, und waren aus dem Moloch einer Großstadt gekommen. Die Idylle hatte uns die Sinne geraubt. Und den Verstand. Eigentlich machten Idyllen mich sowieso mißtrauisch. Und vielleicht hatte Leonhard ja auch recht gehabt. Aber, wie er sich aufgeführt hatte! Man hätte ja ein vernünftiges Gespräch führen können: „Was fällt denn alles unter Wartung? Der Begriff ist etwas vieldeutig, oder?“ Eine Sekunde lang hatte ich befürchtet, Leonhard würde sich auf den Vermieter stürzen und ihm die Kehle zudrücken, vor lauter Wut und Hass. Später hatte er mir vorgeworfen, ich wäre ihm in den Rücken gefallen, wie eine winselnde Hündin hätte ich vor dem Kerl gestanden, damit er uns doch noch das Haus vermiete.
Da stand ich also, in meinem neuen, eleganten Nachthemd, aus champagnerfarbener Seide, mit kurzen Flügelärmelchen und einem Dekolleté, das meine Brüste einbettete, eine Art Empire-Stil, ein zartes Gewand, an meinem Körper entlang fließend, bis knapp zu den Knöcheln, ein luxuriöses, verführerisches Etwas, Reichtum (und Kapriziöses) vortäuschend; ich hatte es mir vor zwei Tagen gekauft, und hatte nicht vor, es in diesem Sommer noch einmal auszuziehen. Meine rechte Hand lag auf meinem gewölbten Bauch, sechster Monat. Ich starrte über das weite, flache Land. Das Grün des Sommers versank im Grau des Regens.
Ich nahm den Brandgeruch wahr, plötzlich. Oder hatte er mich geweckt? Vorsichtig öffnete ich das Fenster. Sah ich Rauch? Oder waren es bloß Regenschwaden? Doch das milchiggraue Gewaber war von beißendem Geschmack. Es kam von rechts; ein anderes Gehöft lag dort, versteckt hinter wuchtigen Eichen, mit einem weithin sichtbaren Storchennest auf dem Giebel der Scheune. Die Jungstörche balancierten bereits seit einiger Zeit auf dem Rand des Nestes. Breiteten ihre Schwingen aus. Konnten sie schon fliegen? Ich spürte die Besorgnis um die Störche. Ich kannte inzwischen die Legende: es galt als ganz schlechtes Omen, wenn den Jungstörchen etwas zustieß. Noch schlimmer für Haus und Hof und Familie stand es allerdings, so die Legende, wenn ein Halbstarken-Jungstorch (sie wurden so genannt) kleinere Jungen aus dem Nest stieß.
Ein Feuerwehrwagen kämpfte sich jetzt schaukelnd, mit gellendem und rotierendem Blaulicht durch den vom Regen aufgeweichten Weg, er sollte seit drei Jahren asphaltiert sein, gefolgt von einem weiteren Einsatzwagen.
Ich zog mich rasch an. Unten im Wohnzimmer, im ersten Stock, lag ein Zettel auf dem Tisch, und daneben ein Zehnmarkschein! beschwert mit dem Ehering meines Mannes.
„Sieh zu, wo du bleibst!“
stand auf dem Zettel hingekritzelt. Ich spürte einen Hustenanfall. Doch dazu war jetzt keine Zeit. Ich eilte zur Haustür. Sah den Qualm. Draußen ein Durcheinander von Stimmen, ein Geschrei, lautes Weinen, Befehle der Feuerwehrmänner an Gaffer, Platz zu machen. Ein Mann kam mir entgegengelaufen und klammerte sich an mich. Ich kannte ihn vom Sehen. Wir waren uns gelegentlich in der Marsch begegnet. Er war meist in einer Art Jägerbekleidung unterwegs.
„Die Störche, die Störche!“
Schrie der Mann. Er stand ganz offenbar unter Schock.
„Meine Frau hat die Scheune angezündet. Sie ist wahnsinnig geworden!“
Es war der Bauer. Der Besitzer des Gehöfts hinter den Eichen. Ich hatte nicht gewußt, dass ihm und seiner Familie der große Bauernhof gehörte, sonst hätte ich mich wohl sehr darüber gewundert, dass er, allein wie ich, und eine andere Frau, die ich ebenfalls gelegentlich traf, durch die Marsch stapfte. Ich sah diese Frau jetzt von der anderen Seite kommend– vom Haus aus betrachtet, von links, – offensichtlich war sie eine Nachbarin.
„Was ist denn geschehen?“ rief sie aufgeregt.
„Die Scheune brennt!“ schrie der Bauer, er hatte mich losgelassen, Tränen liefen über sein Gesicht.
„Wo ist denn Ihre Frau jetzt?“ hörte ich mich fragen, fast stimmlos.
„In der Scheune. In der Scheune!“
„Was?“
„Sie ist verschwunden. Sie hat die Scheune angezündet. Und jetzt ist sie wohl verbrannt!“
Das Bauernhaus selbst konnte gerettet werden. Die Scheune brannte nieder. Die Kriminalpolizei war umgehend zur Stelle. Auch ein Notarzt. Ebenfalls ein Tierarzt. Waren die Jungstörche noch zu retten? Und wo waren die Eltern, das Storchenpaar? Von der Ehefrau des Bauern gab es keinerlei Spur in der Scheune. Demnach war sie nicht verbrannt. Oder?
„Wenn sie verbrannt wäre – gäbe es ja Beweise!“
„Kommen Sie!“ sagte die Frau, die sich als Martina vorstellte,
„ich mache uns einen Tee!“ Ich folgte ihr.
Martina wohnte in dem Bungalow hinter den mannshohen Hecken strahlend weißer, wilder Rosen. Jedesmal, wenn ich in die Marsch ging, kam ich an dem Haus vorbei, blieb meist einen Moment stehen, und sog den feinen Duft der zarten Rosen ein. Mit dem Regen war der Glanz verflogen.
Ein weißer Flügel und eine geblümte Biedermeiercouch im Wohnzimmer meiner neuen Bekannten zogen meine Blicke auf sich.
„Wie schön Sie es haben!“ sagte ich bewundernd, oder klang es ein wenig sehnsüchtig?
Ich stellte mich als Elisabeth vor, ich würde jedoch Elsa oder Elisa bevorzugen.
„Darf ich Elsa sagen?“
Gerne.
„Was für eine Tragödie!“ seufzte Martina, als wir beim Tee saßen.
Ich nickte.
„Und ich wurde gerade von meinem Mann verlassen!“
„Er hat Sie in diesem Zustand sitzengelassen?“ fragte Martina ungläubig.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Es lief nicht wirklich gut – !“ sagte ich gedehnt.
„Ich tauge nicht zur Ehefrau! Nur zur Geliebten!“
Martina schaute mich an. War es fragend? Abwartend? Mitfühlend?
„Das klingt sarkastisch, Elsa – oder?“
Ich mochte Martinas Gesicht. Blaue Augen. Dunkle, kräftige Haare. Kinnlang. Ein Mund, der aufblühte, wenn er lachte. Ich hatte sofort Vertrauen zu Martina gefasst. Sie mochte um die Fünfzig sein. Aber eigentlich wirkte sie zeitlos.
„Er ist gegangen, und ich habe den Mietvertrag für das viel zu große Haus mit unterschrieben. Er hat mir zehn Mark auf den Tisch gelegt, seinen Ehering, nebst einem Zettel: Sieh zu, wo du bleibst! – Das würde einer Geliebten niemals passieren. Ihr würde das Haus geschenkt! Und mindestens eine fette Abfindung bei Umtausch!“
Doch, mein Sarkasmus gefiel mir.
Martina wußte nicht, wie sie reagieren sollte. Sie blickte bekümmert.
„Ich hätte es ahnen können, wenn ich gewollt hätte – ! Was aber ist das im Vergleich zu der Tragödie, deren Zeugen wir gerade wurden, und man weiß ja nicht, was da noch alles kommt!“
Vermutlich dachte Martina, ich sei wohl gut im Verdrängen.
„Da werden gerade Leben zerstört- im Namen einer Liebe? Die nicht mehr vorhanden ist? Muß der Mensch danach automatisch zur reißenden Bestie werden?“
„Tja – !“ Ich hielt die Teetasse aus hauchdünnem Porzellan zwischen meinen Händen und wußte nicht, was ich in diesem Augenblick sagen sollte.
„Die Ehe der beiden war schon lange nicht mehr gut, es gab Gerüchte, dass der Bauer seit einiger Zeit zu trinken angefangen hätte…“
Martina beendete den Satz nicht.
„Das Seltsame ist – dass ich jenseits des Schocks, auf diese Weise im Stich gelassen zu werden, das Gefühl habe, es passe zu mir und meinem Leben oder wie ich es ausdrücken soll, ich bin außen vor – und eigentlich war es schon immer so. Ich gehörte nicht dazu. Ich wollte es. Aber es gelang mir nicht. Oder jeweils nur für kurze Zeit. So, wie mich auch Erfolg über die Maßen erstaunt. Ich war beruflich gerade ziemlich erfolgreich, als mir Leonhard über den Weg lief. Von dem Tag an war nur noch sein Leben wichtig. Und ich überschlug mich, mein Leben und meine Karriere fortan schleifen zu lassen. „Alles für ihn zu tun.“ Wie selbstzerstörerisch muß man sein, einen frisch geschiedenen Mann mit zwei kleinen Kindern geheiratet zu haben, seine festen Sendungen bei einer Rundfunkstation aufzugeben, wie auch die alten Freunde und stattdessen dem Mann zu folgen, auf den hier die für ihn große Karriere-Chance wartet, während ich auf Heimchen am Herd getrimmt werden soll. Und abends bitte die Beine breit, jederzeit! Und ab einem Zeitpunkt, vor unserer Eheschließung hätte ich auch wissen können, dass sich hinter der gewinnenden, liebenswürdiger Fassade, den weltläufigen Umgangsformen, ein furchteinflößender Choleriker verbirgt? Was wollte ich nicht sehen? Was habe ich ausgeblendet. Und warum?! Dass er mich nun sitzenlässt, mag die Angst vor Verantwortung sein. Ein neues Kind? Er hat doch schon zwei. Ich sollte keine Mutter werden. Damit war ich für ihn nicht mehr interessant. Eine Mutter konnte er nicht mehr ficken. Und er hasste schwangere Frauen! Das hatte er mir einmal gestanden. Und es hat mich nie mehr losgelassen. Die Bettgespielin, ja. Aber eine Mutter? Kein Sex mehr? Auf Jahre? Der Körper verhunzt, die Brüste nicht mehr für den Mann, sondern das Neugeborene…
„Manche nennen es Liebe, andere nennen es anders – wer weiß, was Dir an ihm vertraut war! Dass du so zielsicher den falschen Partner ausgewählt hast. Der auftaucht und Dein Leben in den Matsch wirft, denn sicher hattest Du genug Verehrer, nehme ich an, Elsa.. Auch der Schmerz kann liebäugeln, vielleicht hattest Du einen cholerischen Vater..? Hast nie die Emotionen bekommen, die du haben wolltest? Was wurde dir angetan, als Kind, dass du diesen monströsen Einbruch in Dein Leben – so unbeeindruckt weg steckst?
Martina klang behutsam, fast beiläufig. Ich war ihr dankbar dafür. Sie machte keine große Sache aus dem Drama, das mich gerade heimsuchte, und das mir so beunruhigend vertraut vorkam.
Ich stand unvermittelt auf, bedankte mich für den Tee, Martina sagte, komm jederzeit, du bist willkommen! Und wenn du willst, können wir reden! Ich hab mich von Lehramt auf Psychotherapie umschulen lassen, das mal nebenbei, eine spezielle Ausbildung, ein privates Ausbildungsinstitut, weil ich ja schon älter bin, mich aber so vieles interessiert, was mir so rätselhaft erscheint, in den – naja – zwischenmenschlichen Tragödien..warum sie entstehen, und als ehemalige Lehrerin merkte ich ja auch den Kindern an, wenn die Atmosphäre „zuhause“ nicht stimmte. Aber ich hatte keine „Technik“ zur Hand, um ihnen zu helfen. Jetzt biete ich privat Beratungen an, für Eltern, Schüler und Lehrer. Eine Paartherapie traue ich mir allerdings nicht zu..“. Sie lächelte mich an.
„Bei uns ist nichts mehr zu retten. Wir hatten nach einer immensen Auseinandersetzung, ein Jahr vor unserer Heirat, eine Paartherapeutin aufgesucht. Nach nur 2 Sitzungen rief mich die Therapeutin an, sagte, sie beginge wohl gerade einen Kunstfehler und vergraule ihre eigenen Kunden, aber ich solle mir im Klaren darüber sein, dass dieser Mann so dezidiert affektive Defizite habe, dass er nie eine Stütze sein könne, für einen Partner. Er sei wie ein unberechenbares Kind, das wütend bis zur Mordlust wird, wenn man ihm den Schnuller verweigert – oder wegnimmt! Er brauche eine Einzeltherapie – um seine Verletzungen heilen zu lassen, seine Ehe aufzuarbeiten, das Verhältnis zu seinen Geschwistern und seiner Mutter klären – auch die neue Position fordere ihn weit über seine psychischen Möglichkeiten, und mir müsse klar sein, dass ich sein Blitzableiter sein würde, das sei die Rolle, die mir der Mann unbewußt zuteilte, ich würde ihn beschützen müssen, das erwartete er, nicht umgekehrt. Sollte ich beruflich erfolgreicher werden, als der Mann, sähe er darin eine Kränkung. Er würde wohl alles dafür tun, unbewußt selbstverständich, mich zu sabotieren, so dass ich nur noch für ihn da sei, in jeder Hinsicht von ihm abhängig. Er würde seine nicht bearbeiteten Konflikte an mir auslassen. Erst würde er mich sabotieren, dann mich dafür beschimpfen, wenn ich ihm zuliebe, nicht mehr erfolgreich wäre, beruflich… Aber vor allem Männer dieses Typs werden sich wohl nie professionell helfen lassen, sagte die Therapeutin, sondern geben ihre Verletzungen einfach ungefiltert weiter. Sie machen Frauen unglücklich. Und im Beruf Untergebene. Also – ich rate Ihnen – rennen Sie davon. Lassen Sie die Hände von diesem Mann. Als Ehepartner. Er ist so narzisstisch gestört, dass ihm Mitgefühl fehlt. Damit einher geht meist auch mangelndes Einfühlungsvermögen. Das Schlimmste, dieser Mann ist emotional ein Fass ohne Boden. Ganz gleich wieviel Liebe und Verständnis Sie ihm auch entgegenbringen, es wird nie genug sein – und er wird Sie verlassen, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn er auf einen fetteren Busen trifft, bildlich gesprochen..!“
Ich stand schon an der Tür und grinste etwas schief.
Auch Martina war aufgestanden, kam mit zur Haustür.
„Das ist ja interessant! Du hast ihn aber trotzdem geheiratet. Oder gerade deswegen? Ist das Masochismus oder Altruismus..? Wie gesagt, manche nennen es Liebe, und das Sprichwort sagt, sie mache blind. Sie schaltet das natürliche, das angeborene Gespür fur Gefahr aus. Wir rennen mit großer Begeisterung ins eigene Verderben….Wir reden, liebe Greta – …“.
In diesem Augenblick kam Martinas Mann aus der Schule, er war ebenfalls Lehrer.
„Was ist denn da draueßen los – Feuerwehr und so..?“ und fügte überrascht hinzu, als er Elsa sah –
„Oh hallo. Wir haben Besuch!“
Ich sah sofort das Aufglimmen eines Begehrens in seinen Augen und stellte fest, dass er überraschend attraktiv war, auch wenn er zu bieder angezogen war. Lehrer halt. Er war hochgewachsen, und obwohl er in den Fünfzigern sein durfte, wirkte seine Gestalt jungenhaft, schlaksig irgendwie, ein offenes Gesicht, markant geschnitten, helle, wache Augen, die ich mir durchaus schalkhaft vorstellen konnte. Automatisch lächelte ich.
„Ja, ich wollte gerade gehen..! Ich bin die neue Nachbarin!“
Martina Verhalten hatte sich mit dem Auftauchen von Jens schlagartig verändert. Gerade noch souverän, zugewandt, klug, ohne eine nervige, aufgesetzte Attitüde des „Mitgefühls“ – wirkte sie plötzlich kameradschaftlich, geschlechtslos, beliebig, wie sie ihrem Mann mit einem kleinen Scherz die Aktentasche abnahm und augenzwinkernd äußerte, sein Essen stehe bereit, wie es sich für eine nun selbständige Hausfrau gehöre! Ich hatte das verwirrende Gefühl, zwei Geschwister ständen mir gegenüber. Oder sah so eine perfekte Ehe aus? Dass man sich neckte? Oder trat diese Phase ein, wenn Sexualität keine Rolle mehr spielte? Vorher heiße Sexpartner waren zu „Vati“ und „Mutti“ geworden? Die Unterwäsche aus kochfester Baumwolle, statt des frivolen Dessous? Was bleibt, wenn die Hitze der Leidenschaft erkaltet ist? Platonische Liebe? Ich kannte nur Krieg oder Rückzug. Martina und Jens hatten drei erwachsene Kinder, ein schönes Haus, nicht überkandidelt, und waren noch immer zusammen. Konnten miteinander scherzen. Immerhin…
Wieder in „unserem“ Haus, rief ich die Vermieterin an: Mein Mann hätte mich verlassen, ich sei schwanger, könne allein das Haus nicht finanzieren. Sie war sofort auf meiner Seite. Frauen lieben das ja, wenn eine andere ein Unglück beherzt angeht. Sie würde mir einen Monat schenken, damit ich mir in Ruhe eine Wohnung suchen könne. Das sei ihr Geburtsgeschenk im Voraus an mich. Wir hatten einen guten Kontakt gehabt, und es tat ihr leid, ich glaubte ihr, dass ein doch so „augenscheinlich glückliches und gutsituiertes Paar“ – so schnell ein Ende nähme. Ich war gerührt. Musste aufpassen, dass ich nicht sentimental wurde oder mir gar die Tränen kamen. Dass ich so leicht den auf 5 Jahre befristeten Mietvertrag würde auflösen können, und die Hausbesitzerin mit sogar eine Monatsmiete schenkte, verbuchte ich als ein Erfolgserlebnis. Leonhard hatte mir angekündigt, er kehre nach seinem Urlaub nicht zurück, hätte ein anderes Haus gemietet. Mit einer neuen Frau. Seiner neuen Sekretärin. Auch seine erste Frau war Sekretärin gewesen. Ich verabscheute diesen Beruf. Bezeichnete ihn als Prostitution, und der Chef war der Freier.
Liebte ich Leonhard noch? Zuletzt hatte er mich mit einem Messer in der Hand durchs Haus gejagt, in einem seiner Wutausbrüche. Ich hatte laut um Hilfe geschrien. Aber niemand hatte mich gehört. Ich hätte ihn anzeigen können. Dabei hatte ich ihn lediglich gefragt, ob er mir sein Auto leihen könnte. Diese Todesangst um mein ungeborenes Baby. Ein paar Wochen zuvor hatte Leonhard verlangt, ich solle abtreiben. Er wolle kein weiteres Kind mehr. Und wenn ich ehrlich war, war es nicht sein erster tätlicher Angriff auf mich. Weil er seine Wutausbrüche nicht im Griff hatte. Damals, als es zum ersten Mal geschehen war, und ich mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag, wir waren noch nicht verheiratet, hatte er sich auf Knien vor mir entschuldigt, es würde nie wieder passieren. Ich solle um Himmels Willen bei ihm bleiben. Ein Leben ohne mich, sei unvorstellbar für ihn. Ich hatte mich damals überreden lassen, zu ihm in die Stadt zu ziehen. Mein kleines Haus vor der Stadt aufzugeben. Nach ein paar Monaten hatten wir uns schon wieder getrennt. Ich ertrug ihn einfach nicht ständig. Und meine Leidenschaft für ihn war durch die Streitereien um Kleinigkeiten abgekühlt. Ich wollte morgens ausschlafen und nicht von seinem steifen Penis belästigt werden. Ich war selbst erschrocken, als ich merkte, dass es mir zuviel wurde. Dass der Zauber jener geheimen Treffen verflogen war, wenn man jeden Abend ins Bett geht, die Leidenschaft zu einem Akt der Routine wird. Aber schon ein paar Wochen später waren wir wieder zusammen. In getrennten Wohnungen, allerdings. Als er das Angebot in die entfernte Stadt im Norden erhalten hatte, dort eine neue FernsehShow als Regisseur mitzugestalten, hatte er mir den dritten Heiratsantrag gemacht. „Ohne Dich gehe ich nicht dorthin.“ Und vielleicht würde auch eines seiner Kinder dann geregelte Verhältnisse vorfinden, wenn sie auf Besuch kämen. Wir würden uns ein schönes Haus mieten, er verdiente ja genug Geld. Und da war noch meine Mutter. Die sich so auf einen „Schwiegersohn“ freute. Ich wurde bald Dreißig, und sie beklagte sich, die Hoffnung auf einen Enkel hätte sie ja schon fast aufgegeben. Wem und was gehorchte ich – als ich mein bisheriges Leben an den Nagel hängte? Und nun? Was sollte aus mir werden, und dem Ungeborenen, unserem Kind, entstanden in einer jener Nächte, da die Lust unserer Körper wieder einmal jede Bitterkeit kritteliger Alltagskleinlichkeiten verdrängt hatte?
Welchem Klischeedenken ich indes verhaftet war, was Martina und Jens betraf, sollte ich ein paar Tage später entdecken. Martina war in einen jungen Pfarrer verliebt, den sie auf einem Seminar kennengelernt hatte, und Jens in die Frau eines Kollegen. Nichts war, wie es schien.
DRITTES KAPITEL
Es war dieser kalte Morgen.
Einer jener grauen Vormittage, in einer Gegend, die auch geistig dem Wetter glich.
Sonne eher selten.
Vor dem Haus in der Hauptstraße stauten sich wie üblich die Autos vor einer Ampel.
Alles war laut.
Und grau.
Der Treppenaufgang zu unserer Wohnung im ersten Stock roch nach Bohnerwachs.
Holztreppen, die jeden Freitag geputzt und samstags mit Bohnerwachs eingerieben wurden, danach blankgeputzt. Es war meine Aufgabe. Ich sang, und mochte den Hall im Treppenhaus. Ich war neun Jahre alt. Meine Mutter ließ mich auch die Wäsche machen. Den schweren Korb mit der nassen Wäsche hoch auf den Speicher tragen, und die Laken aufhängen. Doch, es war ein Samstag. Sonst wäre ich an jenem Vormittag in der Schule gewesen. Und die Mutter im Büro.
Es war dieses Getrampel im Haus. Diese Unruhe. Ich hörte laute Stimmen. Auch Schreie? Meine Mutter rannte aus der Wohnung und rief mir zu:
„Du bleibst hier, verstanden?“
Es war ein zweistöckiges Mietshaus. Über uns noch eine Familie. Und parterre wohnte seit einiger Zeit eine sogenannte Flüchtlingsfamilie. Ich fragte, was denn eine Flüchtlingsfamilie sei. Mir war dieses Wort fremd. Ich kannte es nicht. Hatte es bisher noch nie gehört. Was bedeutete dies? „Sie sind geflüchtet“. Aber wovor? „Das verstehst du noch nicht!“ Wie ich diese Formulierungen verabscheute! Ich war doch kein kleines Kind mehr. Ich ging zur Schule. Und wollte in spätestens zwei Jahren das Gymnasium in der Nachbarstadt besuchen. Das stand für mich fest. Auch wenn meinem Klassenlehrer dabei so ein säuerliches Lächeln in die Mundwinkel kroch, wenn ich das sagte:
„Ich geh auch aufs Gymnasium! Wie meine Freundinnen!“
Und mein Vater, eigentlich war er ja noch so jung, das aber wurde mir erst viel später bewußt, er war ja längst noch keine Dreißig, mich anbrüllte:
„Du gehst auf kein Gymnasium!“
Ich wußte, ich würde aufs Gymnasium gehen, oder mein Vater müsste mich totschlagen.
Das aber, dessen war ich mir sicher, würde meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, verhindern. Mein Vater war schnell dabei, mit seinen „Neins!“ und er schlug auch schnell zu, wenn ich nach dem WARUM fragte, für sein NEIN. Wenn ich mir etwas wünschte. Etwa eine Katze. Statt einer Erklärung schlug er zu. Sonderbar.. Wie oft er mich verprügelt hatte, oder wie der Sprachgebrauch es ausdrückte – „windelweich geschlagen“ hatte, meine Mutter hatte mich nie beschützt, nur meine Großmutter, wenn ich das Glück hatte, dass sie kam, wenn mein Vater gerade auf mich eindrosch und mich anbrüllte, einmal war sie mit dem Regenschirm auf ihn losgegangen, der pitschnass war, von dem Regen draußen und hatte meinen Vater angeschrien – „Sich an einem wehrlosen Kind, einem kleinen Mädchen zu vergreifen, pfui Teufel!“ Und sie hatte ihm den nassen Regenschirm um die Ohren geschlagen. Meine Nase blutete, ich mußte mich auf die buckelige Chaiselongue legen, und der verhasste nasse Handlappen wurde mir auf die Nase und in den Nacken gelegt. Meine Mutter gab gerne eine Ohrfeige. Knallte mir eine, mitten ins Gesicht. Und nachher sollte ich wieder „ein liebes Kind“ sein. Dabei hatte ich doch gar nichts gemacht. Nur nachgefragt. Das brachte sie in Rage.
Die merkwürdige Unruhe außerhalb unserer Wohnung, im Hausflur, vor den Glasscheiben, die mit Vorhängen verdeckt waren, schien anzuschwellen. Menschen schienen treppauf-treppab zu eilen. Die Holztreppen knarrten. Ein Konzert von schrillen Stimmen streifte mein Ohr.
Ich riss die Korridortür auf, und rannte die Treppen hinauf, nach oben, zum Speicher, von dort schienen die aufgeregten Stimmen zu kommen, wie ein auf- und abschwellendes Crescendo. Die blankgewienerten Holztreppen wurden nach oben hin enger, beinah zu Wendeltreppen, am letzten Absatz, vor der Speichertür, drängten sich Menschen, die Stimmen überschlugen sich, und ich sah, wie jemand wild gestikulierte. Was war da los? Ich schlängelte mich durch ein paar fremde Körper, duckte mich, machte mich klein und stand endlich in dem großen Trockenspeicher, wo ich so oft die Wäsche aufhängen musste, weil meine Mutter keine Lust dazu hatte. Auch jetzt waren wieder Bettlaken zum Trocknen aufgehängt. Ich schob ein weißes Laken, das mir die Sicht versperrte zur Seite. Und mein Blick erstarrte. Zwischen weißen, trocknenden Bettlaken, hing ein Mensch, am Haken, vor der Decke herab. Er hatte sich aufgehängt. Es war einer der Söhne, der älteste? der neuen Familie, der Flüchtlingsfamilie.
Ich rannte zurück nach unten, in die Wohnung, warf mich auf die Couch und brach in Tränen aus. Ich kannte die Worte noch nicht, für meine Gefühle, es war Mitleid? Spontane Trauer? Entsetzen? Alles zusammen? Dieses freudlose, schlichte Mietshaus. Die verhassten Treppen. Der uralte Speicher, die vergammelten Mansarden, in denen Plunder aufbewahrt wurde. Wozu.
Meine Mutter kochte Kaffee. Und reichte belegte Brote. Sie war gut in sowas. Damals jedenfalls. In unserer Wohnung standen plötzlich all die fremden Menschen.
Und einer in Uniform. Der Fragen stellte.
Und erstmals sah ich die Mutter des Mannes, der sich auf unserem Wäschespeicher das Leben genommen hatte. Sie war eine alte Frau. Weißhaarig. Klein, ein wenig rundlich, was eigentlich nicht zu ihren scharfgeschnitterten Zügen passte. Sie trug einen schwarzen Schal, locker geschlungen, um ihre weißen Haare. Sie weinte nicht. Sie sagte nichts. Sie hielt die Tasse mit dem heißen Kaffee in ihren Händen und murmelte irgendwann ein aufgeschrecktes „Dankeschön!“ Ich hörte etwas von Ostpreussen, was mir nichts sagte, und von „die alte Heimat“ – als unsere Korridortür aufgerissen wurde, und die beiden anderen Geschwister, auch sie erwachsen, aus meiner Sicht des kleinen Mädchens, standen im Raum.
„Was ist denn passiert? Wieso ist unsere Mutter nicht unten in ihrer Wohnung?“ riefen sie durcheinander.
Ich hatte mich in eine Ecke unseres Wohnzimmers verkrochen, sah all diese aufgelösten Gesichter, ich verstand wenig, von all den Worten, aber ich wußte, etwas Furchtbares war geschehen, und hatte diese Familie, die so stolz schien, so unnahbar, so gemessen, wenn man sie im kalten Hausflur traf, ihr kühles „Guten Tag! – Sie war, gebrochen, zerbrochen, diese Familie, die „Flüchtlingsfamilie“ genannt wurde.
Ich habe diesen Vormittag nie vergessen können. Und werde es auch nicht, niemals. Jetzt, nach den Ereignissen in meinem Leben, und des Nachbarn, dessen Scheune niedergebrannt, die Frau verschwunden, über den Zustand der Störche wußte ich noch nichts – und ich jetzt, wie mitten aus meinem doch noch jungen Leben gerissen, zertrümmert irgendwie, eine Frau mit ihrem Ungeborenen im Leib, noch kein Jahr verheiratet, in die Fremde mit dem Geliebten gezogen, verlassen, alleingelassen, sich selbst überlassen. Nicht zu wissen, wohin. Und wovon sollte ich leben? Ich hatte kaum gearbeitet, seit wir in den Norden gezogen waren. Mein Mann wollte es so. Er hatte es schmeichelnd formuliert – „Jetzt brauchst Du doch mal eine Weile nicht zu arbeiten, kannst uns das Haus einrichten..“ Jaja, in Wirklichkeit die Hausmagd vom Dienst, dafür hatte ich nicht geheiratet, dass ich ab sofort wieder so viel arbeiten mußte, im Haushalt, wie früher für meine Mutter? Der Kühlschrank leer? Wo war das Bier? Und abends dann die Schürze an den Nagel, die Lippen rot angemalt und die Beine breit machen? Nein, so hatte ich mir eine Ehe nicht vorgestellt. Überhaupt nicht.
Meine Gedanken wanderten zurück in dieses schmucklose, einfache Haus in der Kleinstadt, in der ich als Kind gewohnt hatte, und in dem sich ein junger Mann aufgehängt hatte. Ja, es schien alles zu passen. Denn ich mochte dieses Haus nicht. Auch nicht die Wohnung. Auch nicht den Ton, der zwischen meinen Eltern herrschte, und der mich auch traf, ich spürte diese angespannte, ungute Atmosphäre, die jederzeit in Gewalt ausarten konnte, wenn wir mittags beim unvermeidlichen Essen zusammensaßen. Ein unpassendes Wort fiel – und es war Krieg! Mein Vater brüllte herum. Er schlug auch gerne mit der Faust auf den Tisch. Meine Mutter blickte unter sich oder weinte. Und ich saß dazwischen, hilflos, ausgeliefert. Und ich zuckte erschrocken zusammen, auch das passte zu allem, wenn die Panzer um die Kurve bogen, die Erde bebte, das Geschirr auf dem Tisch klirrte, dabei war der Krieg doch zu Ende. Sie nannten es „Manöver“. Alles war bedrohlich.