Klaus Dörre: Prekarier aller Länder vereinigt Euch

Quelle – hervorragendes Interview von n-tv.de
Donnerstag, 1. Mai 2008
„Prekarier aller Länder vereinigt euch“
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Im Jahr 1890 erklärte die internationale Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung den 1. Mai erstmals zum internationalen Kampftag für den Acht-Stunden-Tag. Damals trat die Arbeiterschaft mit Streiks und Massenkundgebungen für ihre Rechte ein.

n-tv.de: Heute machen sich wohl die meisten Menschen einen gemütlichen Feiertag. Ist die Arbeiterbewegung am Ende oder am Ziel?

Klaus Dörre: Wenn es so wäre, dass alle einen schönen Feiertag genießen könnten jenseits des Arbeitsstresses, wäre das Ziel erreicht. Ich halte aber wenig von den Thesen, dass die Arbeiterbewegung am Ende sei. Wir beobachten in den letzten Jahren besonders in den sich entwickelnden Ländern wie Südkorea, Brasilien, Südafrika oder den Philippinen einen kometenhaften Aufstieg von Gewerkschaftsbewegungen, die von Arbeitern und insbesondere auch Arbeiterinnen getragen werden. Diese Bewegungen haben sich zum Teil außerhalb betrieblicher Strukturen gebildet, vertreten ganz grundlegende Interessen und standen oft an der Spitze nationaler Demokratiebewegungen wie in Südafrika zur Zeit der Apartheid oder in Südkorea.

Und wie steht es hierzulande um die Arbeiterbewegung?

Deutschland zeichnet sich dadurch aus, dass Arbeitermacht institutionalisiert worden ist.

Beeinträchtigt das ihre Durchsetzungsfähigkeit?

Das hat Vor- und Nachteile. Aufgrund der institutionalisierten Aushandlungsverfahren werden Gewerkschaftsmitglieder an der Basis oft gar nicht mehr oder nur sehr eingeschränkt eingebunden. Die Verhandlungen werden meist an der Spitze der Organisationen geführt. Der Vorteil sind relativ konfliktfreie Prozeduren mit einem hohen Grad an Verbindlichkeit und Verrechtlichung.

Allerdings werden so Verhandlungen und begrenzte Konflikte in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen.

Nie wurde in Deutschland mehr gestreikt als jetzt.Ja, das ist der Nachteil. Wenn vieles stellvertretend erledigt wird, entsteht der Eindruck, dass man die Vorzüge dieser Interessenvertretung auch bekommt, wenn man gar nicht Gewerkschaftsmitglied, geschweige denn aktiv ist.

Wie passen dazu die in letzter Zeit verstärkt auftretenden Arbeitskämpfe?

Wir erleben im Moment das streikintensivste Jahr in der Geschichte der Bundesrepublik. Wir sehen auch das Auftreten sehr kleiner Gewerkschaften wie die der Lokführer oder Ärzte, die vergleichsweise militant agieren, die auch außerhalb des DGB-Rahmens Forderungen stellen und durchsetzen, welche sich die großen Mitgliedsgewerkschaften gar nicht zu stellen trauen.

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Einerseits entspringt sie eine Grundstimmung in der Bevölkerung aus. Umfragen zeigen, dass eine Bevölkerungsmehrheit den Eindruck hat, dass die Früchte des konjunkturellen Aufschwungs bei großen Teilen der Bevölkerung nicht ankommen, dass die soziale Ungleichheit, der Abstand zwischen Managergehältern und Löhnen wächst. Hinzu kommt ein enormer Schub der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen.

Sie sprechen hier auch von einer „Ausweitung der Prekaritätszone“, wie muss man sich diese Neuland vorstellen?

Was wir gegenwärtig erleben, lässt sich als Dreizonenmodell beschreiben: Wir haben eine Zone der Integration mit relativ gesicherter und geschützter Beschäftigung. Wir haben eine Zone der Entkoppelung ohne jede Chance, in reguläre Erwerbsarbeit hineinzukommen – übrigens trotz Wachstum. Und dazwischen gibt es eine wachsende Zahl von prekär Beschäftigten, angefangen von Leiharbeitern, befristet Beschäftigten, erzwungenen Teilzeitbeschäftigten und Ein-Euro- oder Mini-Mini-Jobbern bis hin zu Selbstständigen. Diese Arbeitsverhältnisse zeichnen sich dadurch aus, dass sie oberhalb eines kulturellen Minimums nicht dauerhaft die Existenz sichern können.

Wie passen da Freischaffende ins Bild, die sich in ihrer aktuellen Jobunsicherheit eigentlich ganz wohl fühlen?

Wenn Sie jetzt an die sogenannte digitale Bohème denken, dann verdienen die oft so viel, dass sie nicht mehr als prekär zu betrachten sind. Man muss genau hinschauen, das Arbeitsverhältnis allein sagt noch nichts über Prekarität aus. Wenn jemand das Freiheitsversprechen flexibler Beschäftigung gut nutzen kann, hat das viele Vorteile.

Jung, dynamisch, arm
Betrachten Sie aber beispielsweise Kreativarbeiter und Kreativarbeiterinnen in Berlin, dann verdient die Hälfte von ihnen 800 Euro netto im Monat. Das sind Menschen vom Software-Ingenieur bis hin zu Leuten, die Techo-Label machen, sie arbeiten in Bereichen, deren Wertschöpfung in Berlin inzwischen größer ist als in der verarbeitenden Industrie. Spätestens wenn diese Leute erst einmal über 30 Jahre alt sind und darüber nachdenken, eine Familie zu gründen, können Sie sehr schnell feststellen: Die Utopie bleibt die Normalbeschäftigung.

Woran machen Sie die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse fest?

Ein entscheidender Indikator ist die Expansion des Niedriglohnsektors, wo Leute einer regulären Beschäftigung nachgehen, aber dennoch so wenig verdienen, dass manche von ihnen, die sogenannten Aufstocker, sogar Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen müssen. Nirgendwo in Westeuropa wächst der Niedriglohnsektor so schnell wie in Deutschland. Betrachtet man den Anteil des Niedriglohnsektors an der Gesamtbeschäftigung, steht Deutschland an zweiter Stelle nach England.

Wie kommt es, dass Niedriglöhne in Deutschland so im Kommen sind?

Die Expansion des Sektors wird politisch gefördert: So gibt es beispielsweise eine politische Aufwertung der Leiharbeit als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose. Statistiken zeigen aber, dass der Niedriglohnsektor seine Brückenfunktion nicht erfüllen kann. Das ist der zentrale Mangel.

Protest gegen gekürzte SozialleistungenDie Aufwärtsmobilität ist in Deutschland unterdurchschnittlich, verglichen mit anderen europäischen Ländern. Der Fahrstuhl nach unten geht dagegen sehr schnell. Wenn Sie irgendwo rausfliegen, sind Sie nach einem Jahr bei ALG II und können Ihren Status nicht mehr halten. Dann sind Sie gezwungen, jede erdenkliche Arbeit anzunehmen, weil die Gesetzeslage so ist. Diese Druckmechanismen fördern auch bei qualifizierten Leuten die Bereitschaft, Niedriglohnbeschäftigungen anzunehmen. Wenn sie da nicht mehr rauskommen, ist das fatal.

Wie lässt sich gegensteuern?

Wir brauchen wirksame, gesetzliche Mindestlöhne, eine Grundsicherung, die auch von der Erwerbsarbeit abgekoppelt funktioniert, für diejenigen, die nicht mehr reinkommen. Man braucht öffentlich geförderte Beschäftigung jenseits der Ein-Euro-Jobs, die nicht stigmatisiert. Politik und Gewerkschaften müssten darüber hinaus für den prekären Bereich zielgruppenspezifisch Formen der Interessenvertretung entwickeln – in der Medienwirtschaft gilt anderes als für Leiharbeiter mit geringer Qualifikation. Die Betroffenen müssen in ihrer Selbstorganisation und ihren Möglichkeiten gefördert werden, die eigenen Interessen in der Öffentlichkeit zu vertreten. Das reicht von Selbsthilfe bis zu Formen solidarischer Ökonomie mit Projekten, die in erster Linie Beschäftigung und Einkommen fördern wollen und erst dann Gewinnziele verfolgen.

Klingt nach einer Utopie …

In Lateinamerika gibt es eine Menge solcher Projekte. Das brauchen wir in Deutschland auch – in auf hiesige Verhältnisse bezogener Form. Und wenn man mit Phrasen wie „lebenslangen Lernen“ ernst machen will, bräuchte man ein viel flexibleres Modell mit Phasen der Erwerbsarbeit, Phasen der Weiterbildung, der Familienorientierung und möglichen Auszeiten. Die sozialen Sicherungen müssten genau das möglich machen. Dies wäre der Kern einer zukunftsorientierten Utopie.

Wofür würden Sie am 1. Mai auf die Straße zu gehen?

Ich habe kürzlich gesagt, am liebsten wäre mir die Parole „Prekarier aller Länder vereinigt euch“. Das klingt etwas hochtrabend, drückt aber ganz gut aus, was gemeint ist: Es gibt sehr viele, sehr unterschiedliche Gruppen, die feststellen, dass die Wiederkehr sozialer Unsicherheit etwas ist, was sie auch verbinden könnte.

Was wird dann aus der zielgruppenspezifischen Interessenvertretung, die Sie fordern?

Politik fängt auch da an, wo man jenseits aller Spezifik das Gemeinsame deutlich macht. Das funktioniert nur, wenn man nicht antiquierte Vorstellungen von Klasseneinheit konservieren will. Natürlich gibt es unterschiedliche Interessen zwischen Leiharbeitern und Festangestellten, aber die Festangestellten wollen auch nicht mit den Leiharbeitern erpresst werden. Da finden sich also schon Gemeinsamkeiten und prekäre Lebensverhältnisse gibt es weltweit: In Argentinien wurde 2001 die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gedrückt. Da wäre es schon sinnvoll, auch hier über den eigenen Tellerrand zu blicken.

Mit Klaus Dörre sprach Nona Schulte-Römer