Kölner Stadtanzeiger, (KSTA.de)zum Ende des SPD-Parteitages, auf den Punkt gebracht..:
TAGESTHEMA: Partei paradox
VON BERT GERHARDS UND STEFAN SAUER, 28.10.07, 20:50h
Geschlossenheit sollte demonstriert werden, doch das Bild zeigt Risse.
Hamburg – Ganz zum Schluss erzählt er die Geschichte von Onkel Herbert. Die geht so: Als Franz Müntefering 1975 als Nachrücker in den Deutschen Bundestag einzog, hat er dem damaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner erst mal erklärt, wie die Welt zu retten sei. Der grimmige Onkel Herbert hat geantwortet: Fang mal an, pass nur auf, dass du nicht austrocknest. Den Satz habe er nie so ganz verstanden, sagt Franz Müntefering 32 Jahre später. Aber eines sei sicher: „Da ist noch was, ich bin noch nicht ausgetrocknet.“ Die Geschichte ist nicht so wahnsinnig lustig oder originell, dass 2000 Menschen aufspringen und Beifall klatschen müssten wie gedopte Pinguine. Sie tun es aber. 500 Delegierte und 1500 Gäste des Hamburger SPD-Parteitags huldigen dem Vizekanzler und Bundesarbeitsminister mit aufrichtiger Inbrunst.
Die stürmische Zustimmung für Müntefering ist die nur augenfälligste Paradoxie eines weitgehend paradoxen Parteikonvents. Was hat Müntefering gesagt in 45 Minuten, in Fünf-Wort-Sätzen? Dass man nicht für oder gegen Globalisierung stimmen kann, weil „Globalisierung ist da“. Dass Deutschland von der Globalisierung profitiert, sich aber reformieren muss, damit das so bleibt. Auch weil im Jahr 2050 jeder achte Deutsche über 80 Jahre alt sein wird. Kurz: Müntefering dekliniert die Begründung für die Reformen der Vergangenheit und ihrer Notwendigkeit in der Gegenwart mit einer Leidenschaft durch, die die Delegierten mitreißt. Man darf vermuten: gegen ihren Willen.
Denn eigentlich haben sich die Genossinnen und Genossen während der drei Tage im Hamburger Congress-Zentrum Stück für Stück aus ebenjener Realität herausgestimmt, die Franz Müntefering als Grundlage seines politischen Handelns versteht. Sie haben ein längeres Auszahlen des Arbeitslosengeldes I an Ältere beschlossen, gegen das der Arbeitsminister sich ebenso vehement wie vergeblich gewehrt hat. Ohne jede Aussprache verabschieden sie diesen Punkt. Ein Thema, das vier Wochen lang die innenpolitische Debatte bestimmt hatte, weil damit eine Kehrtwende der SPD zurück in die 70er Jahre assoziiert wurde, weil sie beinahe zum Zerwürfnis zwischen Parteichef Beck und Vizekanzler Müntefering geführt hätte. Und dann? Sang- und klanglos beschlossen, Hauptsache die Botschaft der Geschlossenheit nimmt keinen Schaden. Zumindest in diesem Zusammenhang scheint der Jubel für „Münte“ plausibel.
Allenfalls so ist auch die offenkundige Paradoxie erklärlich, dass Kurt Beck nach einer selbst von wohlmeinenden Zuhörern als missraten empfundenen Rede mit mehr als 95 Prozent als Parteivorsitzender von den Delegierten bestätigt wird. Die gleichen Delegierten, auch das scheint paradox, treffen keine 24 Stunden später eine Anzahl von Entscheidungen, die den Empfehlungen des Parteivorstandes inklusive des Vorsitzenden Beck gänzlich zuwiderlaufen. Weiterhin Kindergeld bis zum 27. Lebensjahr zu zahlen zum Beispiel, im Widerspruch zum Koalitionsvertrag. Oder neue Kraftwerke ausschließlich mit Kraft-Wärme-Kopplung zuzulassen. Oder die steuerlichen Begünstigungen für Dienstwagen abzuschaffen. Nicht zuletzt, Tempo 130 auf allen deutschen Autobahnen einzuführen.
„Leider sind das alles nicht wirklich sinnvolle Beschlüsse“, sagt der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Wend, am Ende der Abstimmungen mit erkennbarer Verzweiflung. Nicht sinnvoll vor allem deshalb, „weil wir keinen einzigen Punkt mit der Union werden umsetzen können“. Ungleich härter als die wirkungsfreie Schönheit dieser Voten trifft den Wirtschaftsflügel der SPD aber der Entscheid zur Teilprivatisierung der Bahn, der faktisch den Börsengang blockiert. Dass sich CDU und CSU auf das vom Parteitag mandatierte Modell der „stimmrechtslosen Vorzugsaktien“ zur Abwehr profitgieriger „Heuschrecken“ einlassen werden, glauben nicht einmal notorische Optimisten. „In der Legislatur wird das nichts mehr“, sagt ein SPD-Haushaltsexperte. „Das einzig Gute an dem Beschluss ist, dass wir jetzt viel Zeit haben, Argumente ökonomischer Vernunft in die Partei hineinzutragen“, formuliert Wend mit grimmigem Sarkasmus.
Das Misstrauen gegen „die Wirtschaft“, das der Bahnentscheidung zugrunde liegt, äußert sich auch am Sonntag. Bevor das neue Grundsatzprogramm am Nachmittag mit zwei Gegenstimmen verabschiedet wird, betonen die Debattenredner ein ums andere Mal das „große Marktversagen“. Julian Nida-Rümelin, unter Gerhard Schröder einst Staatsminister für Kultur, führt aus, der Markt sei blind für die Zukunft, blind für soziale Gerechtigkeit und unfähig, gesellschaftlich notwendige Güter wie Klimaschutz und Bildung bereitzustellen. Natürlich zählt das zum Kern sozialdemokratischen Gesellschaftsverständnisses, und falsch ist es ja auch nicht. Dass solche Selbstvergewisserung aber immer aufs Neue wiederholt wird, lässt die Richtung erkennen, in die die Partei sich begibt. „Roll Beck“ nennt das eine Delegierte vom SPD-rechten Seeheimer Kreis mit der dringenden Bitte um Anonymität.
Um der Überschrift des von Edelmut getragenen Grundsatzprogramms „Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert“ gerecht zu werden, hätte ein Hinweis darauf, was der Markt vermag und vielleicht sogar besser organisiert als der Staat, ganz gut gepasst. Man hätte so signalisieren können, dass man die unverwüstlichen Gewissheiten des 20. Jahrhunderts heute auf den Prüfstand zu stellen bereit ist. Allerdings: Das wäre am Ende dieses Parteitags dann doch zu paradox gewesen.
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