Ein Text, der dir das Herz zerrreißt.
Er ist nicht aus dem Mittelalter. Er ist
nicht einmal 10 Jahre alt, also von „heute“, letztlich.
Im Land der toten Töchter
Reiner Luyken (Die ZEIT von 1998)
Korea führt Krieg gegen die Frauen. Mittels Ultraschall schon vor der Geburt. Mädchen werden abgetrieben, weil sie wenig gelten. Wie in vielen Ländern Asiens führt die Einkindpolitik zur tödlichen Fixierung auf den Sohn
Die Hochhäuser wetteifern mit den Bergen. 20, 25 Stockwerke, wie Stalagmiten recken sie sich aus der Niederung des Tales. Am höchsten ist der Fernsehturm. Von dort oben sieht man achtspurige Asphaltbänder, die das Betongewürfel zerschneiden. Acht große Krankenhäuser, drei Universitäten und eine blitzneue U-Bahn für zweieinhalb Millionen Einwohner. Der aus dem Dritten Industriekomplex aufsteigende Dunst saugt die Morgensonne auf.
Die südkoreanische Provinzmetropole Taegu ist eine merkwürdige Mischung aus Fünfjahresplanung und pulsierendem Kapitalismus. In einer Broschüre der Stadtverwaltung steht: „Unsere Bürger erstreben einen komfortablen Lebensstandard und hochklassige Kultur auf traditioneller Grundlage.“ In dem Prospekt sind Fotos des fröhlich albernden Nachwuchses abgedruckt. Auf einem Bild sieht man acht Jungen und drei Mädchen, auf einem anderen fünf Jungen und kein Mädchen.
Wo sind die Mädchen?
Abgetriebene Föten, mit dem Klinikmüll fortgeschafft. Taegu hält einen Weltrekord. Hier lassen sich jedes Jahr 2800 Mütter ihre ungeborenen Töchter aus dem Leib operieren, weil sie Söhne wollen.
In westlichen Industrieländern werden auf je 100 Mädchen 103 bis 105 Jungen geboren. Ein natürliches Ungleichgewicht, das sich im Laufe der Jahre nivelliert. In Taegu kamen in den vergangenen zehn Jahren für je 100 Mädchen 127 Jungen auf die Welt. Bei Familien mit mehreren Kindern wird das Mißverhältnis der Geschlechter noch krasser. Unter den Drittgeborenen kommen auf 100 Mädchen 320 Jungen, unter den Viertgeborenen 351.
Eine Mutter tötete ihre Kinder – weil sie Mädchen waren
Im Süden der koreanischen Halbinsel werden jedes Jahr 18 000 Föten abgetrieben, weil sie dem „falschen“ Geschlecht angehören. Setzt man diese Zahl ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl, spielt Südkorea die führende Rolle in einem weltweiten Krieg gegen das weibliche Geschlecht. Seit Jahren versucht das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) mit immer drastischeren Slogans die Öffentlichkeit auf das Schicksal der missing girls aufmerksam zu machen. Auf dem vergangenen Weltfrauentag gab die Organisation eine Presseverlautbarung mit der Überschrift heraus: „Todesurteil: Mädchen“. Am nächsten Tag las man in der Süddeutschen Zeitung eine unter „Vermischtes“ abgedruckte Agenturnachricht, formuliert im Konjunktiv: „Die Zahl der Frauen nimmt nach Angaben der Unicef dramatisch ab. Derzeit fehlten weltweit 100 Millionen Frauen. Grund dafür seien geschlechtsspezifische Abtreibungen. Hinzu kämen Mädchentötungen sowie massive gesellschaftliche Benachteiligung von Mädchen. Töchter würden schlechter ernährt und medizinisch versorgt als Söhne. Allein in Indien bestehe ein Defizit von 18 bis 49 Millionen Frauen. Auf 1000 Männer kämen nur 929 Frauen. In Pakistan fehlten vier bis acht Millionen Frauen.“
Abgetriebene Mädchen bekommen keine Schlagzeilen. Der für internationale Kooperation zuständige Stadtdirektor von Taegu, Sam Ryong Choi, wischt sich verstohlen Schweißperlen von der Sirn. Er ist ein höflicher Mann mit einer leisen Stimme. Das Thema Mädchenvernichtung gehört eigentlich nicht in sein Ressort. Aber dorthin doch eher als irgendwohin sonst im Rathaus. „Abtreibung“, sagt der Stadtdirektor, „wird hier nicht als problematisch angesehen. Formal ist sie illegal, tatsächlich ist sie erlaubt. Das ist ein kompliziertes Problem, das mit unseren Traditionen und unseren Wertvorstellungen verwoben ist.“
Nirgendwo bieten Familienplanungszentren oder Abtreibungskliniken ihre Dienste an. Das machen alle Krankenhäuser, sagen die Leute. Wie die nach General Kwaks benannte Klinik im Stadtzentrum oder die großen Medical Centers in den Vorstädten. Die Spitäler unterscheiden sich äußerlich in nichts von denen Europas. Die dort beschäftigten Gynäkologen geben sich ahnungslos. „Ich kann darüber nicht viel sagen“, erklärt einer von ihnen, „wir machen das an unserem Krankenhaus schon seit Jahren nicht mehr.“ – „Wir sind ein katholisches Krankenhaus“, sagt ein anderer Gynäkologe, „bei uns gibt es so etwas natürlich nicht.“
Die Zahlen, die Taegus Stadtdirektor aus der statistischen Abteilung hochbringen läßt, belegen dagegen eindeutig, daß nicht alle Frauenärzte so unbeteiligt sind, wie sie tun. In der Tabelle Bevölkerung nach Alter und Geschlecht sind bei den unter vierjährigen Kindern der Stadt 84 104 Mädchen und 101 810 Jungen eingetragen. Der Stadtdirektor weist mit seinem feinen Kugelschreiber auf die Statistik derjenigen, die älter als 40 sind. Da gleicht sich das Geschlechterverhältnis wieder der Normalität an. Er lächelt. Im Alter rauchen und trinken die Männer sich zu Tode. Eine Art ausgleichende Gerechtigkeit.
Die Ultraschalldiagnose kostet 60, die Abtreibung 300 Mark
Das Ungleichgewicht gibt es erst seit Mitte der achtziger Jahre. Dank neuer medizinischer Technik kann man seither das Geschlecht ungeborener Kinder im Mutterleib vorhersagen. Durch eine Gewebeentnahme an der Haut, die den Fötus einhüllt, ist schon in der achten Schwangerschaftswoche das Geschlecht bestimmbar. Die Prozedur kostet über ein halbe Million Won, umgerechnet gut 750 Mark. Eine Amniozentese, eine Analyse des Fruchtwassers, ist halb so teuer, aber nicht ganz risikolos. Nach und nach setzte sich in den Arztpraxen auch die Ultraschalluntersuchung an Föten durch. Ein preiswertes Verfahren, 40 000 Won kostet es heute in Taegu, kaum 60 Mark. Mit Ultraschall kann man allerdings erst nach 16 Schwangerschaftswochen einigermaßen zuverlässig vorhersagen, ob ein Junge oder ein Mädchen im Mutterleib entsteht. Der Fötus wiegt dann um die 500 Gramm, eine Abtreibung kostet 200 000 bis 300 000 Won, 300 bis 450 Mark.
„Ein guterzogenes Mädchen ist besser als 10 Jungen“
Der Wunsch nach einem Sohn ist sogar bei katholischen Frauen oft stärker als der Skrupel. Ein Viertel der Koreaner sind Christen, sieben Prozent Katholiken. Bei den sonntäglichen Messen in der Kyesan-Kathedrale im Stadtzentrum drängen sich die Menschen. Vor der Grotte der unbefleckten Empfängnis, einem koreanischen Lourdes, geht es an einem normalen Dienstagnachmittag zu wie in einem Bienenstock. Neunzig Prozent der katholischen Frauen, ermittelte eine Umfrage der Diözese, gaben an, schon einmal abgetrieben zu haben.
Lee Soo-Yeon ist Generalsekretärin der katholischen Antiabtreibungskampagne Human Life International. Sie arbeitet in einem Büro des Bischofsamts und hat ihren Doktor für Lebensberatung an der Universität Florida gemacht. Und sie hat zwei Töchter. Vor der Hochzeit verabredete sie mit ihrem Mann: „Zwei Kinder und damit Schluß.“ Jetzt ist die Sicherheit geschwunden. Nein, abtreiben würde sie nie. Als fromme Katholikin verhütet sie nur mit der päpstlich abgesegneten Zyklusmethode. Aber sie bekommt jetzt immer mal wieder Anspielungen von ihren Schwiegereltern zu hören, ob sie nicht doch noch einmal versuchen wolle, einem Jungen das Leben zu schenken?
„Sie sagen es nicht direkt. Aber ich spüre, was sie denken“, beschreibt Frau Lee den unterschwelligen Druck. „Sogar mein Mann … ich weiß nicht. Manchmal ist er jetzt so – er sagt nichts. Aber ich kann es nicht ignorieren.“
Taegu wurstelt in einer ethnischen Zeitschleuse vor sich hin. Der nichtasiatische Bevölkerungsanteil der Stadt liegt bei einem Promille. Wenn Europäer sich nach Taegu verirren, zeigen Kinder mit dem Finger auf die exotischen Gesichter, flüchten halb schreiend und halb lachend zu ihren Müttern.
Seoul, die Hauptstadt Südkoreas, ist eine dreiviertel Flugstunde und trotzdem Welten von Taegu entfernt. Niemand dreht nach einem Europäer den Kopf. Das Geschlechterverhältnis von neugeborenen Mädchen und Jungen ist fast normal. Der im Gesundheitsministerium in Seoul für die „fehlenden Mädchen“ zuständige Sachbearbeiter heißt Lee Jong-Koo. Sein Arbeitszimmer ist ein von Bücherregalen eingemauertes Eck in einem Großraumbüro. Er hat Statistiken vorbereitet: über die außerordentlich erfolgreiche Bevölkerungspolitik Koreas; über die eindrucksvolle Senkung der Geburtenrate von sechs Kindern im Jahr 1960 auf 1,6 Kinder pro Familie 30 Jahre später; darüber, daß die Regierung „das Problem geschlechtsspezifischer Abtreibungen“ in den Griff bekommen habe.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Solange die Regelfamilie aus sechs Kindern bestand, war fast immer ein Sohn darunter. Bei vier Kindern kommt es auch mal vor, daß alle Mädchen sind. Je kleiner die Familie, desto wahrscheinlicher ist es, daß der Nachwuchs nur weiblich oder männlich ist. Korea sei aber eine „Gesellschaft mit ausgeprägter Sohnpräferenz“, sagt Lee Jong-Koo aus dem Gesundheitsministerium. Darüber drohte die gesamte Bevölkerungspolitik des Landes ins Wanken zu geraten. Die Regierung versuchte, sagt Lee, das Problem mit Slogans und Sanktionen zu lösen.
Der erste, 1962 verbreitete Slogan lautete: „Bringt weniger Kinder zur Welt und erzieht sie gut“. 1971, die Geburtenrate stand bei viereinhalb Kindern, proklamierte die herrschende Junta: „Stoppt bei zwei, egal welchen Geschlechts“. 1978 folgte der Aufruf: „Ein guterzogenes Mädchen ist besser als zehn Jungen“.
Illegale Abtreibungen sind steuerfrei. Ärzte verdienen gut
Die Behörden setzten die Kleinfamilie mit drastischen Maßnahmen durch. Der Staat zahlte nur für die Vorsorge und die Geburt des ersten und zweiten Kindes. Familien mit mehr als zwei Kindern wurden von der Warteliste für neue Wohnungen gestrichen. Kinderreiche Familien brauchten sich keine Hoffnung auf Darlehen und Fürsorge zu machen, Südkorea bevorzugte die „Sterilisationsakzeptanten“. Zu einer perfekten Familienplanung gehörten fortan vor allem Abtreibungen. Jedermann duldete sie, und die Behörden drückten dem höheren Ziel zuliebe beide Augen zu. Für Gynäkologen wurde das Engelmachen zur unerschöpflichen Einnahmequelle, illegal und steuerfrei. Nur der Wunsch nach einem Sohn ließ sich nicht kleinkriegen. Deshalb wurde erst mit der Einführung der Ultraschalldiagnose die koreanische Vermehrungsfreudigkeit stark eingedämmt.
Als „schädlich und unethisch“ verurteilte die 1994 in Kairo abgehaltene Weltbevölkerungskonferenz den Trend, Technologien zur Früherkennung von Mißbildungen ungeborener Babies für die Geschlechterwahl zu mißbrauchen. Eine vom US-amerikanischen East-West Center veröffentlichte Studie zeichnet ein apokalyptisches Bild von der Zukunft Koreas: Aufgrund des dramatischen Frauenmangels könnten nun Pornographie und Gewaltverbrechen ausufern, Sittlichkeitsdelikte und Vergewaltigungen, Homosexualität und Vielmännerei.
„Alle machen sich Sorgen wegen dieser Entwicklung“, meint der Gesundheitsbeamte Lee. Mit neuen Slogans und Sanktionen versuche seine Behörde deshalb, die planmäßige Beseitigung des weiblichen Nachwuchses zu unterbinden. Mit einem Plakat zum Beispiel, auf dem eine Frau im Hochzeitsgewand von einer Traube gieriger Freier umschwärmt wird. „Wo sind die Bräute der Zukunft?“ steht darunter. Ein Präsidentenerlaß verbietet Gynäkologen seit 1991, schwangeren Frauen das Geschlecht ihrer Föten mitzuteilen. Ärzte, die dagegen verstoßen, müssen mit Berufsverbot rechnen, im schlimmsten Fall sogar mit Gefängnis.
Die Strafen werden so gut wie nie verhängt. Die Regierung legt weiterhin Wert auf eine niedrige Geburtenrate. Und die könnte plötzlich hochschnellen, wenn Eltern erneut im Kindersegen den Sohn suchen, den sie nicht per Ultraschall vorbestimmen konnten. Kim Doo-Sub, Professor für Soziologie an der Hanyang University in Seoul, sieht in westlichen Angriffen auf die koreanische Bevölkerungspolitik eine gewisse Doppelmoral: „Die Geburtenraten sollen überall in der Dritten Welt fallen, aber mit den damit verbundenen Nebenerscheinungen will sich niemand abfinden.“
Der Professor macht sich allerdings selbst um den „in Unordnung geratenden Heiratsmarkt“ Sorgen. Vor allem deshalb müsse das aus dem Lot geratene Geschlechterverhältnis korrigiert werden. „Sonst gibt es bald nicht mehr genug Frauen, um die Nachfrage zu befriedigen.“ Das ist die Sichtweise des Patriarchats. Er lacht. „Ja, vielleicht. So ist das in unserer Kultur. Wir müssen sicher auch unsere Wertvorstellungen revidieren.“ Warum spielt der Sohn im koreanischen Denken eine so übergeordnete Rolle? – „Frauen, die keinen Sohn haben“, sagt der Soziologe, „stehen vor einer unsicheren und vielleicht verheerenden Zukunft. Wer kümmert sich im Alter um die Mütter? Auf wen können sie sich verlassen? Die Menschen denken zuerst an ihre wirtschaftlichen Interessen. Das ist ein für Individuen sehr rationales Verhalten.“ In der Provinzmetropole Taegu komme noch eine Erwartungshaltung hinzu: Viele Eltern hofften, daß ein Sohn den Sprung in die politische und wirtschaftliche Elite Koreas schaffe. Taegu war die Heimat vieler Generäle, die das Land jahrzehntelang beherrschten.
Wo jedoch die Umstände anders sind, kann auch das Verhalten ganz anders sein. Professor Kim holt ein von ihm herausgegebenes Buch über Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungsdynamik. Eine hier veröffentlichte Untersuchung vergleicht Korea mit Jamaika. In Jamaika werden Töchter bevorzugt. Dieses Ziel wird aber nicht mit drastischen Mitteln erzwungen wie in Korea, sondern durch selektive Geburtenkontrolle. Frauen, die zwei Söhne haben, verhüten nicht. Die statistische Wahrscheinlichkeit einer weiteren Schwangerschaft liegt bei ihnen um 50 Prozent höher als bei Müttern von zwei Töchtern. 85 Prozent aller erstgeborenen und 34 Prozent aller zweitgeborenen Kinder sind dort love babies, die Ergebnisse von „Besuchspartnerschaften“, wie Demographen den Sexualverkehr nicht zusammenlebender Männer und Frauen vornehm umschreiben.
Die Frauen mißtrauen den streunenden Männern, sie sind die dominierenden Figuren im Land. In den Augen der Kinder sind es die Mütter, die dem Leben Ordnung geben. Die weibliche Linie bestimmt, wer und was die Familie ausmacht.
Auch in Asien gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern. Teilnehmer eines Symposiums des United Nations Population Fund (UNFPA) ordneten die asiatischen Nationen nach drei Kategorien. In China und Taiwan ist die Situation ähnlich wie in Südkorea: Der Bevölkerungszuwachs hat sich verlangsamt, und die Vorliebe für Söhne hat zu massenhaften Abtreibungen in den Kliniken geführt. Die amerikanische Demographin Judith Banister errechnete anhand von Volkszählungsdaten, daß seit der Einführung der Ultraschalltechnik in China mindestens eineinhalb Millionen Mädchen abgetrieben wurden (siehe „Zuviel Testosteron“, Seite 18). Auch in Taiwan werden mehr Jungen geboren, als sich statistisch erklären läßt. Zwar steigt in allen Schwellenländern der Anteil männlicher Föten natürlicherweise, wenn sich die Gesundheitsvorsorge verbessert. Aber in Taiwan liegt diese Quote signifikant höher als in Vergleichsländern.
Bangladesch, Indien und Pakistan, ebenfalls Kulturen mit einer ausgeprägten Vorliebe für männlichen Nachwuchs, dämmen die Bevölkerungsexplosion nur langsam ein. Das Geschlechterverhältnis bei der Geburt ist in diesen Ländern normal. Hier wird der schleichende Krieg gegen die Weiblichkeit vor allem nach der Geburt geführt. 36 von 1000 Mädchen „verschwinden“ in Bangladesch während der ersten vier bis sechs Lebensjahre aus den Statistiken. Zwei Demographen stellten in Matlab Thana fest, daß die Kindersterblichkeit unter Mädchen um 50 Prozent höher ist als unter Jungen. Eltern brachten ihre Söhne fast doppelt so häufig zur Behandlung in eine Klinik für Durchfallerkrankungen wie ihre Töchter, obwohl Krankentransport und Behandlung kostenlos sind.
In Indien zieht der Mann mit dem Ultraschall über das Land
In der bürgerlichen Schicht Indiens setzt sich immer mehr die koreanische Methode der Mädchenbeseitigung durch. In einer Frauenklinik in Bombay sollen von 8000 abgetriebenen Föten 7999 weiblichen Geschlechts gewesen sein. Eine oft wiederholte, in ihrem Ursprung allerdings nicht überprüfbare Zahl. Doch auch solidere Daten lassen kaum Zweifel am Fortschritt der medizinischen Technologie bei der Geschlechterselektion aufkommen. Die bürgerliche Methode greift nun auch in ländlichen Gebieten um sich. Wenn auf einer staubigen Straße ein Pappschild mit den Buchstaben SDT für sex determination test hängt, weiß jeder, der Mann mit dem Ultraschallgerät ist im Dorf.
In Indonesien, Thailand und Sri Lanka geht das Bevölkerungswachstum in chinesischen und koreanischen Größenordnungen zurück, ohne daß es dort ein verqueres Geschlechterverhältnis gäbe. Söhne werden nicht bevorzugt. Besonders das arme Sri Lanka ist stolz auf seine Erfolge im Kampf gegen die Frauendiskriminierung. Aus den Statistiken läßt sich allerdings nur die Gleichverteilung des Elends ablesen. 29 Prozent der Mädchen und 26 Prozent der Jungen leiden unter ernährungsbedingten Wachstumsstörungen. 38 Prozent der Mädchen und 37 Prozent der Jungen sind untergewichtig. Jeweils 12 Prozent sind „verkümmert“. Die männliche ist mit 40 von 1000 höher als die weibliche Kindersterblichkeit, da neugeborene Jungen von Natur aus anfälliger sind.
Die Mädchen, die geboren werden, sind Wunschkinder
Bis in die sechziger Jahre wurden in Sri Lanka genau wie in Indien Mädchen und Jungen oft ungleich behandelt. Glaubt man dem Direktor der Bevölkerungsabteilung im Gesundheitsministerium in Colombo, so ist das Ende der Mädchendiskriminierung darauf zurückzuführen, daß Mütter sozial und wirtschaftlich bessergestellt wurden. Lesen und Schreiben ist unter Frauen fast selbstverständlich. Etwa die Hälfte der Mädchen zwischen 15 und 19 Jahren geht noch zur Schule – bei den Jungen gleichen Alters ist es nur ein Drittel. 45 Prozent der Industriearbeiter sind Frauen. Ihre so geschaffene wirtschaftliche Unabhängigkeit schütze die Frauen vor häuslicher Diskriminierung und Unterdrückung, so der Direktor aus dem Gesundheitsministerium. Extreme Formen der Männerherrschaft wie das in Indien verbotene, aber praktizierte Mitgiftsystem, wie Mädchentötung und Witwenverbrennung habe es in Sri Lanka ohnehin nie gegeben.
Der Demograph Daniel Goodkind, er arbeitet im Zensusbüro der amerikanischen Regierung in Washington, hält den koreanischen Umgang mit weiblichen Föten für gar nicht so übel. Er sieht darin sogar langfristig eine Chance, die gesellschaftlich tiefverankerte Frauenverachtung zurückzudrängen. Denn wenn die Mädchenabtreibung bedeute, daß die zur Welt kommenden Töchter Wunschkinder sind, so könne „die vorgeburtliche Diskriminierung zu einer Verringerung postnataler Diskriminierung“ beitragen. Weltweit, nicht nur in Indien, habe die weitgehende Abschaffung des Kindermordes – „ein schnelles, frühes und unwiderrufliches Schicksal“ – dem Nachwuchs keineswegs ein besseres Leben beschert, sondern das Leid durch Vernachlässigung gebracht. Den Umkehrschluß könne man in Korea ziehen: Seit der Einführung der Ultraschall-Vorhersagen ist die in Statistiken erfaßte Mädchenbenachteiligung auf Null gesunken. Goodkind nennt das „Substitution“.
Eine drakonisches Verbot des Engelmachens, glaubt der amerikanische Demograph, würde die alltägliche Mißhandlung kleiner Mädchen erneut ansteigen lassen. Die zugrundeliegenden kulturellen Motive seien zu stark, als daß man sie durch Verordnungen ausschalten könne. Versuchte man es dennoch, entstünde eine schwierige moralische Gleichung: „Wenn von 1000 sonst abgetriebenen Mädchen 10 später schwer vernachlässigt würden und wenn von diesen 10 Mädchen eines stürbe – ist das ein akzeptableres Szenario?“