AFGHANISTAN:
US-Sondereinheit tötet Frauen und Kinder
Im März hatten US-Soldaten in Afghanistan auf mutmaßliche „Aufständische“ geschossen. Nun melden gleich zwei Untersuchungsberichte Zweifel an der Darstellung der Marines an. Sie werfen den Soldaten „exzessive Gewalt“ vor.
Von Christian Wernicke
Soldaten eines Sonderkommandos des US-Marineskorps haben in Afghanistan offenbar mindestens zehn unbewaffnete Zivilisten erschossen – darunter Kinder, Frauen und Alte. Zu diesem Ergebnis kommt ein vorläufiger Untersuchungsbericht des amerikanischen Militärs. Ein Report einer afghanischen Menschenrechtsorganisation, die zahlreiche Augenzeugen des Vorfalls vom 4. März interviewt hat, spricht sogar von zwölf unschuldigen Todesopfern. Übereinstimmend werfen beide Untersuchungen den Marines „exzessive Gewalt“ vor.
Zu dem Zwischenfall kam es, als ein US-Konvoi am 4. März das Straßendorf Spinpul nahe der Grenze zu Pakistan durchfuhr. Ein Kleinlaster war plötzlich zwischen das erste und zweite der sechs Militärfahrzeuge eingebogen und ein Selbstmord-Attentäter hatte eine Bombe gezündet. Die Explosion verletzte einen Soldaten leicht.
Die Marines behaupteten später, sie seien anschließend unter Beschuss geraten und hätten einen Hinterhalt vermutet. Daraufhin hätten sie bei der Flucht aus dem Dorf mit Maschinengewehren auf mutmaßliche Aufständische geschossen. Afghanische Zeugen sagten aus, die Soldaten hätten noch 16 Kilometer von Spinpul entfernt Salven auf Passanten abgefeuert.
Die US-Militärführung räumte am Wochenende in der Washington Post ein, man habe keine Indizien für die von den Soldaten behauptete Version gefunden. „Meine Ermittler glauben, dass die Menschen unschuldig waren“, sagte Generalmajor Frank H. Kearney III., Chef des Zentralkommandos für Sonderoperationen der Marines. „Wir waren nicht in der Lage, Beweise dafür zu finden, dass dies Kämpfer waren.“
Kearney sprach von „einem Einzelfall mit katastrophalem Ausgang“ und „einer unmäßigen Zahl toter Zivilisten.“ Den Marines droht ein Verfahren vor einem US-Kriegsgericht. Afghanistans unabhängige Menschenrechts-Kommission warnte, das Vorgehen der Militärs bringe die Bevölkerung zunehmend gegen die USA auf. „Dies ist kein isolierter Fall,“ sagte deren stellvertretender Direktor Nader Nadery. Er fügte jedoch hinzu, Anschläge der Taliban forderten die meisten Opfer.
16-Jähriger in den Rücken geschossen
Die Menschenrechts-Kommission veröffentlichte am Wochenende detaillierte Aussagen von Zeugen. So hätten die Soldaten einer 16-Jährigen in den Rücken geschossen, die am Wegesrand Gras und anderes Tierfutter gesammelt hatte. Die Frau sei auf der Schwelle zu ihrem Haus ihren Verletzungen erlegen. Unter den Toten im Dorf befänden sich auch ein vier Jahre altes Mädchen und ein einjähriger Junge.
Etwa 500 Meter vom ursprünglichen Bombenanschlag entfernt hätten die Marines an einem Bach willkürlich in eine Menge geschossen und mindestens sechs Menschen getötet. Ein Zeuge schilderte präzise, wie die Soldaten dabei allein 240 Kugeln auf ein einzelnes Auto abfeuerten.
„Sie haben zehn Minuten lang geschossen,“ zitiert die Kommission den Fahrer, der sich durch einen Sprung aus dem Wagen hatte retten können. Drei Insassen kamen jedoch ums Leben: der 80-jährige Vater des Fahrers, sein 75-jähriger Onkel und der 16-jährige Neffe. Der Körper eines anderen Opfers sei von so vielen Kugeln getroffen worden, dass dessen Angehörige den Toten zunächst nicht hätten identifizieren können. Etliche Zeugen hätten sich wohl nur retten können, weil sie Deckung in einem Bewässerungsgraben gefunden hätten.
Die US-Militärführung hatte die Soldaten unmittelbar nach den Geschehnissen Anfang März abgezogen. Die etwa 30 Mitglieder der Einheit wurden zusammen mit ihrer gesamten Kompanie an den Persischen Golf verlegt. Ihrem Kommandeur wurde bereits vor zwei Wochen die Befehlsgewalt entzogen. Die Marines unterstanden nicht der von der Nato geführten internationalen Schutztruppe Isaf, sondern agierten im Rahmen der separaten Operation Enduring Freedom unter US-Kommando.
(SZ vom 16.04.2007)