Kölner-Stadtanzeiger, online, von gestern Abend:
Berlin steht, Köln fährt
VON PETER BERGER UND THORSTEN MOECK, 19.01.07, 20:36h
Der erste Zug verlässt den Kölner Hauptbahnhof am Morgen um 6.54 Uhr. Die meisten Reisenden nahmen die Sturm-Unterbrechung erstaunlich gelassen.
Köln / Berlin – Freitag, 14 Uhr, Köln Hauptbahnhof. 36 Stunden ist Bahnhofsmanager Peter Kradepohl jetzt auf den Beinen und wirkt so gar nicht ermattet. Im Gegenteil: Orkantief „Kyrill“ hat ein Wunder vollbracht. Es ist Freitag, es ist Wochenendverkehr, allein das reicht an normalen Verkehrstagen, um die Kundschaft zum Kochen zu bringen. Doch heute ist alles anders. Keine Anfeindungen, keine Streitereien. Reisende und Bahner üben den Schulterschluss. Und gerade beim Bahnhofspersonal, bei Schaffnern und Zugbegleitern, die oft heftigen Gegenwind zu spüren bekommen, ist ein Durchatmen zu spüren. „Wir sind auf sehr großes Verständnis gestoßen“, sagt Kradepohl.
Etliche Züge fahren bereits wieder, von einem Fahrplan kann aber keine Rede sein. Wann die wichtige Schlagader Richtung Norden und Berlin über Düsseldorf und Dortmund wieder befahrbar sein wird – keiner weiß es. In Höhe Düsseldorf-Reisholz hat es in der Sturmnacht Oberleitungen geregnet, die Reparaturtrupps rödeln wie die Weltmeister. Jeder Meter Fahrdraht muss kontrolliert werden. Keiner will einen Kurzschluss beim Einschalten des Stroms riskieren – und jeder übersehene Ast könnte zu einem neuen Schaden führen.
Und trotzdem: Als Bahnsprecher Udo Kampschulte den Kölner Hauptbahnhof am Mittag als „Insel der Seligen“ bezeichnet, obwohl die Hauptstrecke Köln-Düsseldorf noch mindestens bis zum Abend gesperrt sein wird, gibt es keine kritischen Nachfragen. Denn während in Berlin am Mittag noch kein Rad rollt, weil sich in der Nacht zum Freitag ein tonnenschwerer Stahlträger des neuen Hauptbahnhofs gelöst hat und aus 40 Metern in die Tiefe gekracht ist, setzte sich der Fernverkehr in Köln zumindest in Richtung Süden über die Neubaustrecke nach Frankfurt schon am Morgen in Bewegung.
In Berlin entbrennt schon am Freitag ein Streit über mögliche Baumängel an dem rund eine Milliarde Euro teuren Glaspalast, der als „Kathedrale des Reisens“ gepriesen wurde. Der Erbauer, Stararchitekt Meinhard von Gerkan, weist am Nachmittag alle Vorwürfe zurück. Die Standsicherheit des Bahnhofs sei nicht gefährdet, der Träger habe keine tragende Funktion gehabt, sondern nur der Fassadengliederung gedient. Eine Folge hat das Unglück schon jetzt: Künftig wird der Hauptbahnhof ab Windstärke neun geschlossen – aus Sicherheitsgründen.
Berlin steht, Köln fährt. Als einer der Ersten verlässt der ICE 511 nach Stuttgart am Morgen den Kölner Hauptbahnhof. Damit endet auch für Valerie Buchow eine schlaflose Nacht. Um 6.54 Uhr schließen die Türen des Zuges – zwölf Stunden später, als es der Fahrplan vorsieht. Ein Hotelzimmer hat die 19-jährige Kunststudentin auf die Schnelle nicht mehr ergattern können, also verbrachte sie die Nacht in einem der Züge, die die Bahn für die gestrandeten Reisenden an die Bahnsteige gestellt hat. „Geschlafen hat kaum jemand, denn dauernd kamen neue Durchsagen. Aber die Stimmung war erstaunlich entspannt“, sagt Buchow.
Bis nach Frankfurt hat die Reise den Charakter einer Testfahrt. Auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke schleicht der Zug mit rund 50 Stundenkilometern über die Gleise. Zu groß ist auch hier die Sorge vor umgeknickten Bäumen, die auf den Schienen liegen könnten. „Erst nach zweieinhalb Stunden waren wir in Frankfurt“, sagt Valerie Buchow, die sich mit einer Gruppe anderer Kunststudenten die Möbelmesse in Köln angeschaut hat. Der ICE ist so überfüllt, dass sich die Studenten Plätze in der ersten Klasse suchen. Die Zugbegleiter stört das nicht – Hauptsache die Reisenden haben überhaupt ein Ticket.
Als Valerie Buchow mit ihren Studienkollegen um 10.30 Uhr in Stuttgart eintrifft, hat sich die Lage in Köln weiter entspannt. Die Johanniter entlassen am Mittag eine größere Gruppe älterer Reisender aus der Notunterkunft, die in den Personalräumen der Bahn eingerichtet worden war. „Das war ein fröhliches Trüppchen, obwohl die sich anfangs alle ja gar nicht gekannt haben“, sagt Einsatzleiter Jörn Osenbrück. Vor dem Abschied gibt’s noch eine Runde Magenbitter – gemeinsam stößt man auf den 80. Geburtstag einer rüstigen Seniorin aus dem Ruhrgebiet an. Eine Schulklasse mit 23 Kindern aus Bocholt tritt gegen Mittag die Heimreise an.
Die Bahnmitarbeiter an den Informationsschaltern bieten derweil ihr ganzes Improvisationstalent auf. Die Züge Richtung Norden werden über Neuss und Mönchengladbach umgeleitet. Wer nach Berlin will, wird in die Hochgeschwindigkeitszüge nach Frankfurt verfrachtet, um von dort über Kassel weiterzureisen. Nach Amsterdam geht es mit den Thalys zunächst nach Brüssel und dann irgendwie weiter.
Bahnreisende in Nordrhein-Westfalen müssen auch am Wochenende mit Behinderungen rechnen. Die für den deutsch-niederländischen Bahnverkehr wichtige Verbindung Oberhausen-Emmerich soll am heutigen Samstag wieder frei sein. Die Strecken Venlo-Viersen, Krefeld-Viersen und Köln-Dormagen-Neuss-Krefeld sind voraussichtlich noch bis Montag unbefahrbar.