PRESSE: Geteiltes Echo auf das GRASS-Geständnis

Quelle dpa/ vom 12. 8. 2006/
Grass-Biograph Michael Jürgs,
früherer STERN-Chef-Redakteur, „ist enttäuscht“.
Literatur-Kritiker Reich-Ranicki: „Kein Wort“ werde er dazu sagen, er sei „nicht verpflichtet dazu“.

Geteiltes Echo auf Grass` Mitgliedschaft bei der Waffen-SS

Hamburg (dpa) – Das Bekenntnis von Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass, am Ende des Zweiten Weltkriegs Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, hat ein geteiltes Echo gefunden. Kritik wurde am späten Zeitpunkt der Offenlegung laut, in der Frage seiner moralischen Glaubwürdigkeit stärkten Schriftsteller-Kollegen dem 78- Jährigen aber den Rücken.

Grass berichtet erstmals in seiner im September erscheinenden Autobiografie «Beim Häuten der Zwiebel» über seine Einberufung als 17-Jähriger zur Waffen-SS. In der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (FAZ) erklärt der 78-Jährige ausführlich vorab, wie es dazu kam. Der dpa sagte er auf die Frage, warum er sich erst jetzt öffentlich bekennt: «Ich habe das, im Rückblick, immer als einen Makel empfunden, der mich bedrückt hat und über den ich nicht sprechen konnte. Das musste mal geschrieben werden.» In der Zeit seines Einsatzes von Februar/März 1945 bis zu seiner Verwundung am 20. April 1945 habe er aber keinen einzigen Schuss abgegeben.

«Ein bisschen spät kommt das», sagte Schriftsteller Walter Kempowski (77) dem Berliner «Tagesspiegel». Doch Kempowski fügte hinzu, dass auch für Grass das Bibel-Wort gelte: «Wer selbst ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.» Grass selber sagte der FAZ, er wisse nicht, ob er den richtigen Zeitpunkt verpasst habe. «Es ist sicher so, dass ich glaubte, mit dem, was ich schreibend tat, genug getan zu haben.»

Nach Ansicht von Ralph Giordano (83) kommt das Bekenntnis von Grass keinesfalls zu spät. «Ich habe Leute gekannt, die erst mit 80 oder 85 Jahren bekannt haben, was sie falsch gemacht haben», sagte der Autor der dpa. Schlimmer als einen Irrtum zu begehen, sei es, keine Konsequenz daraus zu ziehen und das habe Grass ja schon lange gemacht. «Für mich verliert er durch diese Öffnung nicht an moralischer Glaubwürdigkeit – in keiner Weise, das möchte ich hier ganz klar und unmissverständlich sagen.»

Auch für den Präsidenten der Berliner Akademie der Künste, Klaus Staeck (68), stehen «das künstlerische Werk und seine politische und moralische Integrität auch nach seinem Bekenntnis außer Zweifel». «Ich trenne nicht zwischen Werk und Person», sagte Staeck der dpa. Der Autor Dieter Wellershoff (80) warnte im «Kölner Stadt-Anzeiger» ebenfalls vor einer moralischen Aburteilung.

Dagegen zeigte sich Grass-Biograf Michael Jürgs (61) «persönlich enttäuscht». Es sei «das Ende einer moralischen Instanz», sagte er dem «Tagesspiegel». Der Historiker Michael Wolffsohn (59) sieht durch das «beharrliche Schweigen» ebenfalls Grass‘ «moralisierendes» Werk entwertet: «Bleiben werden Grass‘ Worte, nicht seine Werte», schrieb er in der «Netzeitung».

Keine Stellungnahme gab es vom Kritiker Marcel Reich-Ranicki: «Kein Wort» werde er dazu sagen, sagte er dpa . Er sei «nicht verpflichtet» sich zu äußern.

Der Literaturkritiker Hellmuth Karasek ist der Ansicht, dass Grass den Nobelpreis der Schwedischen Akademie riskiert hätte, «wenn er es früher gesagt hätte». Karasek sagte dem Radiosender NDR Info, «die Akademie, die ein sehr feines Sensorium hat, … , hätte den Nobelpreis nicht an jemanden verliehen, von dem bekannt war, dass er in seiner Jugend in der Waffen-SS war, und das lange verschwiegen hat».

Für den Kritiker hat Grass die Auszeichnung wie kein anderer deutscher Autor verdient. «Aber auf einmal kommt alles in ein neues Licht.» Die Tatsache, das Grass Mitglied der Waffen-SS war, wertete Karasek als «Lappalie». «Ein Siebzehnjähriger: Gott, das ist alles verständlich.» Wenn nicht Grass später immer wieder derjenige gewesen wäre, der die Moralkeule am häufigsten geschwungen hätte, ergänzte der Publizist.

Für die italienische Zeitung «La Repubblica» ist Grass‘ Eingeständnis ein «Schock», sie attestierte dem Nobelpreisträger aber, sich mit «schmerzhaftem Mut» jetzt dafür entschieden zu haben, «jene Zweideutigkeit und Schuld seines Vaterlandes anzunehmen, die der Vergangenheit angehört, die aber unauslöschlich ist.»

Die Waffen-SS, die «Armee» der SS, wurde bei den Nürnberger Prozessen als verbrecherische Organisation eingestuft, die auch Konzentrationslager bewachte. Darauf verwies die linksliberale britische Zeitung «The Guardian», der Grass im vergangenen Jahr geschildert hatte, wie ihn als junger Mann der Ausgang des Krieges verletzt habe. Er sei ein naiver 17-Jähriger gewesen, der bis zum Ende an den Sieg geglaubt habe.

Ähnlich äußerte Grass sich jetzt in der FAZ, in der er auch seine leichte Verführbarkeit schildert. Schon als 15-Jähriger habe er sich freiwillig zur Wehrmacht – nicht zur Waffen-SS – gemeldet, um der Enge und seiner Familie zu entfliehen. Doch sei er nicht genommen worden, sondern später zur Waffen-SS einberufen worden. «Und für mich, da bin ich meiner Erinnerung sicher, war die Waffen-SS zuerst einmal nichts Abschreckendes, sondern eine Eliteeinheit, die immer dort eingesetzt wurde, wo es brenzlig war, und die, wie sich herumsprach, auch die meisten Verluste hatte», sagte er weiter.

Später jedoch habe ihn dieses Schuldgefühl als Schande belastet. «Es war für mich immer mit der Frage verbunden: Hättest Du zu dem Zeitpunkt erkennen können, was da mit Dir vor sich geht?», sagte er der FAZ. Er habe ja seinen Lernprozess durchgemacht und daraus seine Konsequenzen gezogen. Seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS sei allerdings auch nicht das «dominierende Thema» der Autobiografie.

Bislang hieß es in den Biografien des am 16. Oktober 1927 geborenen Schriftstellers, er sei 1944 als Flakhelfer eingezogen worden und habe dann als Soldat gedient. Der dpa sagte Grass, er habe 1944 den Einberufungsbefehl erhalten und sei im Winter 1944/1945 dann nicht der Wehrmacht, sondern der Waffen-SS zugeteilt worden. «Im letzten Kriegsjahr hat die Waffen-SS nicht nur Freiwillige genommen.»
Grass hat nie ein Hehl daraus gemacht, als Jugendlicher für die NS- Propaganda empfänglich gewesen zu sein.

In der Autobiografie schildert Grass die Zeit von seiner Kindheit in Danzig bis zu seinen Anfängen als Künstler nach dem Krieg.
Zudem berichtet er auch darüber, wie er den heutigen Papst Joseph Ratzinger in der Kriegsgefangenschaft in Bad Aibling kennen lernte.