NETZ-FUNDSACHE: SIC.at/ Die FLANEURIN

Bei einer online-Recherche findest du ja oft anderes…auf der Spurensuche…wunderbar!
Hier ein feministischer Essay aus Österreich, zwar aus dem Jahr 2001, aber zeitlos, ,eint FEMINISSIMA …

daher …bitte sehr – „Jenseits von Telepolis“
Ein Essay von URSULA KUBES-HOFMANN

Jenseits von Telepolis

Geschichte zum Anfassen und Stadtspaziergänge für Frauen.

Zunächst eine Erinnerung: Während meiner Schulzeit in den sechziger Jahren habe ich Exkursionen nicht nur in die Museen der Stadt Wien gemacht. Auch „Stadtgeschichte“ stand zuweilen auf dem Programm. Schulklassenweise wälzte man sich entweder durch verstaubte stickige Räume oder stand auch schon mal frierend vor Häuserfassaden, während schnarrende LehrerInnenstimmen „Geschichte/n zum Anfassen“ erzählten. Vor allem wurde ein patriarchales Geschichtsverständnis (auch über Frauen) vermittelt. Nichts war für Mädchen damals interessanter als über Mode und Biedermeier etwas zu erfahren. Die Kaiserin Maria Theresia wurde mindestens ebenso als Vorbild verkauft wie die Kaiserin Sissi in patriarchaler Lesart einer Hagiografie.

Geschichte von „unten“ oder „Geschichte des Eigensinns“ waren damals keine Themen, deren Spuren man in verfallenen Gemäuern oder hinter prächtigen Fassaden später dann zuweilen sucht/e.

In den siebziger Jahren gab es ein pädagogisches Prinzip in der „modernen“ Erwachsenenbildung und das hieß: „Grabe da, wo Du stehst“. Gesucht wurde nach der „eigenen“ Geschichte in vertrauter Umgebung. Selten wurde damit eine kritische Aufarbeitung der Familiengeschichten in der Vergangenheit verbunden. Mentalitätsgeschichtliche Betrachtungsweisen kamen nicht vor, eher eine Stabilisierung neobiedermeierlicher Tendenzen. Damit verbunden entstand auch eine Sehnsucht nach alten Gebäuden und alten Möbeln, nach alten Gegenständen, die historisch in ihrer kultursoziologischen Bedeutung interpretiert wurden. Alltagsgeschichte erlangte in rückwärtsgewandter Hinsicht einen hohen Stellenwert. Gleichsam als Reaktion auf die Veränderung der Städte in der Spätmoderne. Die Zeitfrage stand damals noch weniger im Mittelpunkt, Stress kündigte sich aber schon an. Auch die Suche nach „Frauen in der Vergangenheit“ hinterlässt bis heute eine Fülle publizistischer Spuren unter dem Aspekt „Alltags- und Sozialgeschichte“, bei dem „Frauengeschichte“ als untergeordnetes Vokabel im akademischen Diskurs erscheint. „Mystikerinnen“, „Königinnen“ „Schriftstellerinnen“, „Künstlerinnen“ „Dienstbotinnen“, „Hausmädchen“, etc. im Wandel der Zeiten. Wie Häkeldeckchen und Kreuzstich. Dargestellt als passive Opfer erschienen Frauen damals eher, als handelnde Mittäterinnen in Gesellschaften und Kulturen schon gar nicht.

Oft wurden diese Spurensuchen mit Sehnsüchten, weniger mit Reflexion und Selbstreflexion verbunden. In den Phantasmen der Sehnsucht wurde eine fiktive Welt geschaffen im Gegenzug zu einer von Frauen erlebten inakzeptablen patriarchalen Welt. Revolutionärer Veränderungswillen und politisches Handeln traten in den Hintergrund beziehungsweise entstanden erst gar nicht. Oft lebte auch die Ahnenforschung in verharmlosender Weise wieder auf vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund nicht erfolgter Entnazifizierung und der sogenannten „Opferthese“, die die damaligen spärlichen Versuche kritischer politischer Bildung unterlief.

Feministische Geschichtsschreibung als kritische Wissenschaft patriarchal/kapitalistischer Macht- und Herrschaftsgeschichte zu begreifen ist bis heute kaum vorhanden, ebenso nicht das Faktum, dass die Geschichte des Exils, der Vertreibung, der Genozide der wichtigste Kern in jeder modernen Geschichtsauffassung ist und „Gender“ dort als historische Kategorie jedoch erst noch eingeführt werden muss.

Frauenstadtspaziergänge

Vielfach trifft diese Notwendigkeit auch heute für eine Frauengeschichtsforschung zu, die sich vor allem als Ergänzungswissenschaft zur Herrschaftsgeschichte begreift und aus der die Kulturvermittlung „Frauenstadtspaziergang“ schöpft.

Seit mittlerweile zwanzig Jahren gibt es diese Möglichkeit, den Spuren regionaler und urbaner „Frauengeschichte“ zu folgen. Nicht zuletzt deshalb, weil die Frauengeschichtsforschung verborgen gebliebene Quellen zugänglich gemacht und interpretiert hat.

Vor allem im deutschsprachigen Raum sind seit Mitte der achtziger Jahre Frauengeschichtsvereine entstanden, die oft auch zum Ziel haben, Erkenntnisse der Frauengeschichtsforschung, insbesondere der Regional- und Stadtgeschichtsforschung in entsprechenden Exkursionen anzuwenden. Lesbenarchive, feministische Dokumentationszentren der Neuen Frauenbewegung sind wesentliche Forschungsstätten zur Vermittlung von Frauengeschichte geworden.

Historische Spaziergänge als Suche nach Frauengeschichte im Ort, in der Region, in der Stadt, in der man lebt, unterliegen der Vielfalt der Betrachtungsweisen jener, die solche Spaziergänge anbieten. Sie sind ebenso vielfältig wie die Art und Weise ihrer erzählenden Vermittlung. Hierbei ist meiner Meinung nach oft schwer auszumachen, was „identitätsstiftender“ für Frauen wirkt: die Art und Weise des Erzählens der Kulturvermittlerin, die vermittelten Inhalte oder die Protagonistinnen selbst.

„Frauenstadtspaziergänge“ – so wird es zumindest von manchen Anbieterinnen dargestellt – würden die Sphären des Akademischen verlassen, die „erzählende Form“ (Ilse Wieser) sei vorrangig. Ich vermute in solchen Ansichten eine Mythologisierung des Akademischen. Je größer der Mythos des Akademischen, umso unmöglicher ist es, duale geschlechtsspezifische Theorie-Praxis-Verständnisse kritisch zu reflektieren. Damit bleiben Auffassungen aufrecht, die als solche bereits musealen Charakter haben: Frauen sind praxisorientiert, Männer theoriezentriert; Männer hocken drinnen im Elfenbeinturm, Frauen kämpfen draußen ums Überleben. Wenn Frauen sich akademischen Ausbildungen widmen, sind sie „theoretisch“. „Tu lieber handarbeiten statt lesen“, hat die Omama uns schon erzählt. Das ist ja praxisorientiert. Bis heute. Und in den Frauenbewegungen hat man neue Sprachregelungen für das gleiche Vorurteil gefunden. Mit solchen Auffassungen ist Differenzierung nie möglich. Dies wurde selbst in akademischen Sphären vielfach festgestellt.

Ich halte es für keinen Zufall, dass sich ein konservatives Frauenbild gesellschaftspolitisch in Österreich gerade auch wegen solcher Ansichten erhalten konnte. Unabhängig davon, dass es Frauen gibt, die ihm zwar selbst nicht entsprechen, aber ständig mit Bildungsferne zugunsten des Mythos „Praxis“ spekulieren und Frauen aus verkaufstechnischen Gründen einreden, dass alles konkret und sinnlich erfahrbar ist, weil die Betreiberinnen von „Frauenstadtspaziergängen“ sonst nicht überleben könnten.

Die Konstruktion „Flaneurin“

Die Suche nach „Frauengeschichte“ mittels „Frauenstadtspaziergängen“ ist einerseits als ein Produkt der Neuen Frauenbewegungen zu sehen. Anderseits steht diese Entwicklung aber in einem viel größeren Zusammenhang: nämlich dem der Veränderungen von Raum- und Zeitwahrnehmung in den Entwicklungen und Veränderungen von Städten, Kulturen, Landschaften und Konsumorientierungen im Spannungsfeld der Moderne.

Frauenstadtspaziergänge haben nicht nur zum Ziel, verborgen gebliebene Frauengeschichte zu vermitteln, sondern gleichzeitig Frauen als „Flaneurinnen“ zu „konstruieren“. Dies in einer Zeit, in der das historisch seit dem 18. Jahrhundert bestehende männliche Pendant „Flaneur“ und das des „Dandy“ seit dem 19. Jahrhundert eigentlich abgedankt haben und einer Vermassungstendenz, das eigene Leben zum Kunstwerk zu machen, gewichen sind. Dies entspricht einer generellen Entpolitisierung und den Verzicht auf die Hoffnung einer besseren Zukunft, beschwört HeldInnentum des Augenblicks und konserviert Gegenwelten zu revolutionären Hoffnungen.

Das Konstrukt „Flaneurin“ erscheint jedoch auch als Gegenbild zur „Konsumentin“, die in Hast und Eile durch die modernen Einkaufszentren (Passagen) schwirrt, um Beruf und Familie zu vereinbaren.

Frauen, die Frauenstadtspaziergänge anbieten, bewegen sich nicht nur im Spannungsfeld „Flaneurin“ und „Konsumentin“, sondern unterliegen selbst alten Vermarktungsstrategien in neuer Verpackung, weil sie vielfach ihre ökonomische Existenz darauf gründen müssen.

Ich halte es für keinen Zufall, dass in einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit aufgehoben sind, Frauen begonnen haben, historisch gewachsene Städte für sich zu erobern. Heute entsteht eine Sehnsucht nach den alten vormodernen Zeiten, in denen man noch Zeit zum Flanieren hatte, in denen die Straßen und Passagen noch Möglichkeiten zum Flanieren boten. Die als postmodern bezeichnete kritische Gegenbewegung zur klassischen Moderne nimmt diese Sehnsucht auf. Da der aktuelle materielle Notstand der Nachkriegszeit nicht mehr besteht, entsteht heute mehr und mehr der Wunsch nach zwecklosem Tun. Für viele Frauen erscheint dieses „zwecklose“ Tun in Verbindung mit Frauengeschichte jedoch als Möglichkeit des Regenerierens gemeinsam mit anderen Frauen unter einem lustvollen Aspekt.

Doch es scheint so, dass auch an der Flaneurin der Wandel zu einer modernen Auffassung von Zeit sichtbar wird. Wir streben weiterhin danach, so schnell wie möglich an unseren Arbeitsplatz oder an unseren Urlaubsort zu gelangen. Frauenstadtspaziergänge bieten daher die Möglichkeit, die Sehnsucht nach dem Bedürfnis nach Langsamkeit zu befriedigen, weil es dem realen Wandel unserer Zeitauffassung nicht entspricht.

Und hierbei habe ich den Eindruck, dass „die Flaneurin“ in den Städten unserer Zeit versucht, die letzten Splitter des Lokalen dem Untergang zu entreißen. Aus den Gemäuern steigt eine Geschichte von Frauen hervor, während Männer durch Telepolis rasen, deren Fundament auf Ada Lovelaces Erfindungen des Computers beruhen. Tausende Websites zu Frauengeschichte gibt es in Telepolis, in den globalen Dörfern etc.

Ich habe die Erfahrung in Dortmund gemacht, dass „Frauenstadtspaziergänge“ von bestimmten Frauen in Anspruch genommen werden: Entweder sie haben genug Zeit, um sich solchen Stadtspaziergängen widmen zu können. Dann sind es in erster Linie Seniorinnen. Oder es sind Frauen, die aufgrund ihres Studiums historisches Interesse für Frauengeschichte haben und mangels entsprechender Exkursionen in den Schulen und Universitäten selbst auf diese Vermittlungsmöglichkeit zurückgreifen. Oder es sind feministisch bewusste Frauen, die über diese Möglichkeit versuchen, etwas aus der feministischen, lesbischen Kultur zu „retten“, die dem Untergang, dem Totschweigen letztlich in jeder historischen Phase geweiht ist.

„Frauenstadtspaziergänge“ sind aber auch ein Versuch, der Entwicklung von „Telepolis“ etwas entgegenzusetzen. Telepolis, die Stadt am Netz, ist anders als die geschichtlich gewachsenen Städte, die einen verdichteten Kern mit alter Straßenführung und historischen Gebäuden besitzen, sich in der Peripherie ausdünnen, in der sich Wohnanlagen, Einzelhäuser, Bürogebäude, Einkaufszentren und Grünflächen befinden, und schließlich im Land auslaufen. Telepolis gleicht eher den Edge Cities dieses Jahrhunderts, einer Stadt wie Los Angeles, die sich endlos, ohne wirkliche Innenstadt, verteilt auf viele Zentren, hinzieht.

Laufen daher Frauen nicht der Musealisierung des geschichtlich Gewordenen hinterher, das in den Innenstädten als Attraktion und als Oberfläche für Touristinnen zu erhalten gesucht wird? Vielfach stehen Angebote von „Frauenstadtspaziergängen“ auch mit einem konservativen frauenpolitischen Verständnis im Zusammenhang. Die symbolische Ausstattung der Städte mit Namen von Künstlerinnen, Politikerinnen etc. ist zwar eine engagierte Sache, enthebt uns aber nicht der Frage nach eingehender Untersuchung des historischen geschlechtsspezifischen Kontextes und dessen Bedeutung für die Gegenwart.

In gewissem Sinne hat sich das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit mittlerweile verkehrt. Ist man früher aus dem Haus getreten, um in die Öffentlichkeit einzutauchen, und hat man sich aus ihr zurückgezogen, in dem man Türen und Fenster hinter sich schloss und im Inneren verblieb, ist man heute mittlerweile direkter an das Außen und die Öffentlichkeit angeschlossen als in den beschränkten lokalen Räumen einer Stadt, in denen man vor allem die Einsamkeit übt – wie im Schweigen während der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Durcheilen der Fußgängerzonen oder Warentempel.

Das Pendeln zwischen außen und innen, zwischen öffentlich und privat, hat bislang auch das Leben in der Stadt geprägt und es stimuliert. Die Frauen sind heute mehr denn je ihr aktivster Teil. Ihre Umdeutungsarbeit von Städten und Orten jeglicher Art hat wieder einmal begonnen.

[sic!] Nr. 35 erschienen am 03.05.2001
Heft Nr. 35 erschienen am 03.05.2001

Österreich aktuell