THEATER: „Ich verlange Satisfaktion!“

ein HERR-liches Interview der SZ mit dem schwer-beleidigten Theaterkritiker S./ Es darf später in der Rubrik „Supissima!“ Platz nehmen!
Theater

„Es hat ganz schön weh getan“

Verletzt, gekränkt, erniedrigt: FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier über den Angriff des Theaters auf seine Person.

Interview: Christine Dössel

Die einen nennen es einen Theaterskandal, die anderen eine Posse mit weit reichenden Folgen: Während der Premiere von Eugène Ionescos „Das große Massakerspiel“ in der kleinen Schmidtstraßen-Spielstätte des Frankfurter Schauspiels ist Gerhard Stadelmaier, der Chef-Theaterkritiker der FAZ, von dem Schauspieler Thomas Lawinky attackiert worden, woraufhin dieser gekündigt wurde. Wir trafen Stadelmaier in München, wo er am Samstag die Kroetz-Premiere besuchte.

SZ: Der Vorfall scheint Ihnen sehr zugesetzt zu haben.

Gerhard Stadelmaier: Es ist, als sei jemand in Ihre Wohnung eingebrochen. Ihre Briefe und Kleider sind durchwühlt, die Wände beschmutzt. Der materielle Schaden hält sich in Grenzen, aber der immaterielle Schaden, das Gefühl des Ausgeliefert-Seins, ist enorm. Ich habe mich noch nie so gedemütigt gefühlt.

SZ: Aber ein Einbruch ist ein krimineller Eingriff in die Intimsphäre . . .

Stadelmaier: Na selbstverständlich. Wenn ich, wie geschehen, einen toten Schwan auf den Schoß geknallt kriege und man mir den Notizblock entreißt, ist das ein Eingriff in meine persönliche Integrität. Ich gehe nicht ins Theater, um am Ärmel gezupft, bespuckt oder wie auch immer belästigt zu werden.

SZ: Die Inszenierung war darauf angelegt, dass das Publikum mitspielt.

Stadelmaier: Ich bin nicht im Theater, um mitzuspielen. Ich muss auch nicht den Mundgeruch der Schauspieler haben. Ich bin sitzen geblieben und habe mitgeschrieben, ganz ruhig. Gut, darüber mögen die sich geärgert haben, aber dass der Schauspieler mir dann den Block aus der Hand reißt, diesen Block als Trophäe mitnimmt und ruft „Mal sehen, was der Kerl geschrieben hat!“ – das ist ein Angriff auf meine körperliche Unversehrtheit und auf die Pressefreiheit.

SZ: Aber Sie blieben unversehrt, oder?

Stadelmaier: Mir wurde mein Spiralblock brutal aus der Hand gerissen. Ich hätte mich dabei verletzen können. Aber es hat auch so ganz schön weh getan.

SZ: „Angriff auf die Pressefreiheit“ ist ein harter Vorwurf.

Stadelmaier: Ich bitte Sie! Wenn man mir meinen Notizblock entreißt, nimmt man mir nicht nur das Handwerkszeug, sondern man macht es mir unmöglich, über den Abend zu schreiben. Das ist der noch viel gravierendere Eingriff in die Pressefreiheit. Ich kann über den Abend nicht mehr schreiben, weil der Schauspieler mir meine Unbefangenheit nimmt. Es handelt sich um die Ausschaltung von Kritik – das mag im Affekt passiert sein, gehört aber strukturell zu dieser Art von Theater, die gar keine Kritik mehr will, sondern nur noch ein Mitlaufen.

„Hau ab, du Arsch, verpiss dich!“

SZ: Was Lawinky gemacht hat, geht nicht an, klar. Aber kann es nicht sein, dass auch Sie überreagiert haben?

Stadelmaier: Nein, je länger ich darüber nachdenke, desto fassungsloser bin ich. Als ich das Theater verließ, als freier Kritiker eines freien Landes, rief mir der Schauspieler nach: „Hau ab, du Arsch, verpiss dich!“ Ich bin beleidigt und in meiner bürgerlichen Ehre gekränkt worden. Im zivilisierten Mitteleuropa sind solche Umgangsformen justiziabel.

SZ: Ihr Kollege vom Mannheimer Morgen sprach von einer „Ausflippsituation“. Er rät, die Sache „tiefer zu hängen“.

Stadelmaier: Ich bin enttäuscht über die Reaktion meiner Kollegen. Ich hätte erwartet, dass sie geschlossen aufstehen und mit mir das Theater verlassen. Die Kollegin Ruth Fühner hat nachts noch eine Mail an die Intendantin Schweeger geschrieben und bedauert, nicht gegangen zu sein. Wenn es jetzt heißt „Frankfurter Possenspiel“, frage ich mich, wo hier die Posse ist. Von wegen, hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen! Wer, bitte, ist der Spatz und wer die Kanone?

SZ: Finden Sie die Kündigung des Schauspielers gerechtfertigt?

Stadelmaier: Die Kündigung ist Folge einer Vertragsverletzung und damit absolut gerechtfertigt. Der Schauspieler ist aus seiner Rolle gefallen und auf eine Weise übergriffig geworden, wie es in der Inszenierung nicht vorgesehen war. Frau Schweeger hat in wünschenswerter Deutlichkeit klar gemacht, dass sie so ein Verhalten an ihrem Haus nicht duldet.

SZ: Nicht nur Frau Schweeger, auch Lawinky hat sich bei Ihnen entschuldigt. Ist das nicht Satisfaktion genug?

Stadelmaier: Er hat sich entschuldigt, akzeptiere ich. Aber wenn ich jemanden umbringe und mich hinterher entschuldige, komme ich trotzdem ins Gefängnis. So ist das Gesetz. Ich habe die Kündigung nicht gefordert. Es ist eine Entscheidung des Hauses, die ich allerdings begrüße. Der Vorfall ist eine Ungeheuerlichkeit und verletzt den Grundlagenvertrag des Theaters. Frau Schweeger sieht das genau so. Sie hat den Schauspieler ja nicht auf meinen Druck hin entlassen.

SZ: Aber auf Druck der Oberbürgermeisterin Petra Roth.

Stadelmaier: Frau Roth ist die Aufsichtsratsvorsitzende des Theaters.

SZ: Sie sind ein gefürchteter Kritiker, der ganz schön austeilt. Muss man da nicht auch mal was einstecken können?

Stadelmaier: Selbstverständlich. Aber das kann nicht darin bestehen, dass man mich im Theater körperlich attackiert und es mir unmöglich macht, zu arbeiten. Hier wurde eine grundgesetzliche Grenze überschritten. Es war Nötigung.

SZ: Sind Sie nicht längst abgebrüht gegen alle Formen von Provokation?

Stadelmaier: Natürlich, ich habe im Theater ja schon viel erdulden müssen. Es gibt Abende, die bis an die Grenze der Erniedrigung, auch der körperlichen Erniedrigung von Schauspielern gehen. Von mir aus können die machen, was sie wollen: onanieren, Fruchtwasser schlürfen, mit toten Schwänen hantieren – ich finde es widerlich, aber normalerweise kann ich frei und unbehelligt darüber schreiben. Hier aber bin ich in meiner Eigenschaft als Kritiker verletzt und behindert worden. Das hat’s im Theater noch nicht gegeben, eine Weltpremiere.

SZ: Theater ist live, da können Gefühle schon mal überschäumen.

Stadelmaier: Das Leben ist live. Theater ist eine Kunstform. Es folgt Regeln, und die hat es gefälligst einzuhalten.

(SZ vom 20.2.2006)