…stimmt 100 pro..!
Baustelle West-Berlin:
Tunnelarbeiten vor der Gedächtniskirche
Berlin-Charlottenburg
Teuer wohnen, billig leben
Von Andreas Kilb
14. Februar 2006 Wer dieser Tage das „Kudamm-Karree” am Kurfürstendamm zwischen Knesebeck- und Uhlandstraße besucht, tritt in ein Museum der West-Berliner Geschichte.
Das gilt nicht nur für die Dauerausstellung „The Story of Berlin”, die auf zwei Etagen in zwanzig Themenräumen ein recht westlich orientiertes Bild der alten und jüngeren Stadtgeschichte bietet, von den Rosinenbombern der Blockadezeit über Kennedys Berliner Rede bis zu Ronald Reagans Aufforderung an Michail Gorbatschow, er möge „diese Mauer” niederreißen. Es gilt auch für das Gebäude selbst, für diesen Komplex aus vorgesetzten Fassaden und lose verbundenen Baukörpern mit eingepflanztem Hochhauszahn, der als solcher eigentlich nur im Luftbild erkennbar ist.
Standardisierte Flaniermeile: der Kudamm
Von der Straße aus erfährt man das „Kudamm-Karree” als gesichtslosen Betonriegel, der irgendwo anfängt und wieder aufhört und dabei die halbe Distanz zwischen dem Französischen Kulturzentrum und dem „Media Hotel Berlin” mit seinen Filmpostern im Foyer und den Szenenfotos aus „Kampf um Rom” in der Vitrine überbrückt. Daß der Komplex mehr ist als ein Stück gewerblicher Nutzfläche, wurde erst sichtbar, als herauskam, daß es in seiner heutigen Form verschwinden und dabei womöglich zwei traditionsreiche Boulevardtheater verschlingen soll. Das Karree wird fallen, frühestens im nächsten, spätestens im übernächsten Jahr – wie so vieles in Charlottenburg, dem alten bürgerlichen Kern des Berliner Westens, der seit langem nicht mehr recht weiß, ob er noch Kern oder nur mehr Schale der neuen deutschen Hauptstadt ist.
Fixpunkte ohne Ausstrahlung
Städte sind nicht nur Gebilde im Raum, sondern auch solche der Imagination. Auf der imaginären Karte von West-Berlin, wie es sich durch die Zonenaufteilung der Alliierten im Jahr 1945 konstituierte, gab und gibt es drei Punkte von besonderer symbolischer Bedeutung: den Bahnhof Zoo, den Kurfürstendamm zwischen Tauentzien und Adenauerplatz und das Schloß Charlottenburg. Jeder dieser drei Fixpunkte hat in den letzten Jahren an Ausstrahlung verloren.
Abschied von den ICEs: Der Bahnhof Zoo wird degradiert
Der Kurfürstendamm ist im Zweikampf mit der Friedrichstraße um den Rang der wichtigsten Einkaufsmeile Berlins vorerst Sieger geblieben, aber nur um den Preis einer Standardisierung, wie man sie auch in der Düsseldorfer Königsallee oder der Münchner Maximilianstraße beobachten kann. Zwischen Gedächtniskirche und Olivaer Platz sortiert sich die Hackordnung des Einzelhandels neu, „Flagship Stores” großer Bekleidungsmarken und Juwelierketten verdrängen alteingesessene Läden, und unter den neogotischen oder neusachlichen Fassaden einstiger Großkinos – selbst der „Zoo-Palast” hört man, stünde bald zum Abriß an – leuchten die Schriftzüge amerikanischer Schnellrestaurants.
Die Lichter gehen aus
Die kleineren Geschäfte weichen in die Seitenstraßen aus, wo die Ladenmiete bis auf ein Zehntel des Kudamm-Niveaus, die Passantendichte aber noch stärker sinkt. Schon wenige Meter seitab der touristischen Hochglanzzone gehen buchstäblich die Lichter aus, die Meineke-, Fasanen- und Bleibtreustraße wirken verödet; wo in den sechziger Jahren noch ein Zentrum des kulturellen Lebens lag, kämpfen heute Etagenpensionen gegen die Dumpingpreise der Großhotels ums Überleben.
Attraktionen verloren: Schloß Charlottenburg
Das Schloß Charlottenburg hat keine Standortkonkurrenz zu fürchten, dazu steht es, als wahres und bis auf weiteres einziges Berliner Stadtschloß, zu fest auf dem Sumpfboden des einstigen Fischerdorfs Lietzow. Aber die Zentripetalkraft der Kunstmetropole Berlin, die schon die Dahlemer Museen ausgedünnt hat, zehrt auch an den Sammlungen des Schlosses. Seit der Jahrtausendwende hat die Residenz der Preußenkönigin Charlotte einige wichtige Touristenattraktionen verloren – zuerst die Galerie der Romantik mit ihren Caspar-David-Friedrich-Bildern, die 2001 aus dem Knobelsdorff-Flügel des Schlosses ins Alte Museum umzog, dann die Büste der Nofretete, die nach einem Zwischenstopp am Potsdamer Platz vom kommenden Sommer an ebenfalls auf der Museumsinsel unterkommen wird.
Kaum eine Menschenseele
Die Säle im renovierten Ostflügel bespielt seitdem die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten mit Wechselausstellungen, und die Lücke, welche das gegenüber der Sammlung Berggruen gelegene Ägyptische Museum hinterläßt, soll mit Sammlungen der klassischen Moderne geschlossen werden. Eine Sonderschau mit Faberge-Preziosen hat dem Charlottenburger Schloß im vergangenen Jahr noch einmal ein Besucherplus beschert; aber wer an einem Winternachmittag durch die einstigen Gemächer Friedrichs des Großen mit ihren beiden Watteau-Originalen, den Familienporträts und kostbaren Chinoiserien streift und dabei kaum einer Menschenseele begegnet, kann sich diesseits des Parks nur schwer eine blühende Zukunft für diesen Ort vorstellen, der zu den schönsten Hinterlassenschaften des Preußentums in Deutschland zählt.
Wirklicher Glanz nur zu Weihnachten: das Kranzler-Eck
Daß das wiedervereinigte Berlin kein organisches Ganzes bildet, daß seine Ost- und Westhälfte nicht entlang der Bruchstelle der Mauer wieder zusammengewachsen sind, ist oft festgestellt und beklagt worden. Die Deutsche Bahn versucht dieses Zusammenwachsen nun auf ihre Weise zu erzwingen, indem sie den Fernverkehr der Stadt ab Mai dieses Jahres in die leere Mitte nördlich des Tiergartens verlegt, in jenen Lehrter Bahnhof, der in Zukunft nur mehr „Hauptbahnhof” heißen soll.
Degradierter Bahnhof
Der Bahnhof Zoo, bisher der eigentliche Berliner Hauptbahnhof, wird zur Haltestelle für S-Bahnen und Regionalzüge degradiert. Wenn man einmal die übliche Sehnsucht nach Bewahrung des jeweils Gewohnten und Eingefleischten beiseite schiebt, wie sie sich in Unterschriftenaktionen und Leserbriefen rituell äußert, wird man zugeben müssen, daß die Verlegung des Bahnhofs einer unabweisbaren Verwaltungslogik gehorcht. Aber auch nur ihr. Sie ist ein bürokratischer Akt, ein Octroi, kein Vorschlag zur Güte in einer gespaltenen Stadt. Der Hauptbahnhof muß her, weil es eine Mitte geben soll, nicht weil es sie gibt.
Bedrohte Boulevardbühne
So wird der Neubau in Sichtweite des Kanzleramts für jedermann zum Ärgernis werden, und der Schrumpfbahnhof am Zoo wird die Charlottenburger Nostalgie noch verstärken. Die Hallen unter den Bahngleisen werden nicht veröden, sie werden verdämmern, sich einigeln in ihrer Zweitklassigkeit wie das Europacenter, die Urania, das Theater des Westens, das tageweise genutzte Schillertheater und andere Ikonen des Charlottenburger Lebens. Daß die Nachkriegszeit vorbei ist, daß ein neues Jahrhundert begonnen hat, weiß jedes Kind, aber diesen Gebäuden ist es einfach nicht beizubringen, sie träumen hartnäckig vom Kalten Krieg und vom Idyll imSchatten der Mauer, so wie die Kieze am Savignyplatz oder am Stuttgarter Platz, die ihre Kundschaft stellen. Weil der Kiez sich von alters her nicht ändern will, kann man ihn nur fliehen – oder sich ganz seinem retrospektiven Dämmer überlassen, so lange, bis dem letzten Programmkino, Antiquitätenhändler oder Feinkostladen die Puste ausgeht.
Nicht mehr vermietet
Dabei sterben die großen Läden zuerst. Am westlichen Ende der Kantstraße rings um das Amtsgericht, in einem klassischen Erweiterungsgebiet des alten Charlottenburg, haben ein alteingesessenes Koffer- und ein großes Uhrengeschäft zugemacht, letzteres eine Institution im Einzugsbereich des Lietzensees, dessen Arme wie ein Wassergraben die Kantstraße umschließen. „Dieses Gebäude wird bis auf weiteres nicht mehr vermietet”, Nachfrage sei zwecklos, steht auf einem Zettel an der Tür des Lederwarenladens; der Flachbau, in dem er lag, wird vermutlich abgerissen. Eine Möbelhandlung schräg gegenüber, die Sessel und Sofas für den gehobenen Bedarf anbot, hat schon vor drei Jahren bankrott gemacht; der Besitzer, von zahllosen Gläubigern mit Strafanzeigen verfolgt, ist untergetaucht.
Die Berlinale läuft längst woanders: der Zoo-Palast
Weiter stadteinwärts hat ein großes Taschengeschäft aufgegeben, dessen in Reihen im Schaufenster übereinandergehängte Beutel und Rucksäcke zum vertrauten Erscheinungsbild der Straße gehörten. Es sind Leerstellen, die sich nicht mehr füllen, jedenfalls nicht für lange. Zwei kleinere Läden sind in die großzügigen Räume der Möbelhandlung gezogen, und von dem Uhrengeschäft wird ein Reparaturladen bleiben; so werden wenigstens die alten Kunden noch versorgt. Das bürgerliche Publikum, hört man überall, gebe sein Geld anderswo oder für anderes aus, für High-Tech-Geräte, für Kinderbetreuung, für Privatschulen, für teure Eigentumswohnungen, die hier wie überall als Altersvorsorge erworben werden.
Luxusautos vor Lidl
Dafür haben in den vergangenen achtzehn Monaten gleich drei neue Supermärkte in der Gegend aufgemacht, ein vierter folgt demnächst. Auf den Parkplätzen vor den Discountern sieht man Autos aller Luxusmarken, auch die Dame im Pelzmantel ist bei Aldi oder Lidl kein ungewohnter Anblick mehr. Teuer wohnen, billig leben, das scheint die Maxime des Augenblicks, eine Gesinnung, welche die Krise, über die sie klagt, zugleich mit befördert. Denn wer billig einkauft, wird auch billig eingekauft – oder als unrentabel abgestoßen.
Gute Zeiten: Vollbesetzte Straßencafés vor der Gedächtniskirche
Auch die neue Hauptstadt ist, rein volkswirtschaftlich gesehen, ein Verlustgeschäft. Sie liegt zu weit im Osten, selbst für die Charlottenburger, die es schon immer eher nach Sylt und Garmisch als nach Frankfurt/Oder gezogen hat. Und sie liegt viel zu nah an der neuen globalen Realität. Als in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren die Acht- und Zwölfzimmerwohnungen des Berliner Westens in kleinere Wohneinheiten zerschlagen wurden, weil sich niemand mehr ihre Anschaffung leisten konnte, fühlte sich Siegfried Kracauer an archaische Prophezeiungen vom Untergang der Städte und Völker erinnert: „Wie, diese Bahnhöfe, diese Geschäftshäuseralleen, diese ganzen endlosen Steinmassen sollten eines Tages nicht mehr bestehen?”
Damals ging es um den Abschied von einem Lebensstil, der das wilhelminische Berlin zu seiner bevorzugten Bühne gemacht hatte. Heute dagegen tritt ein mit Kleinstädterei durchsetztes Metropolengefühl ab, das in der Mauerzeit entstand und sich durch den Berlin-Boom der neunziger Jahre noch bis ins neue Jahrhundert hinein halten konnte. Wer es im Taschenformat studieren will, kann im Spielzeugladen im Parterre des Kudamm-Karrees ein „Berlin-Paket” für sieben Euro fünfzig erwerben, komplett mit Mauerstück, zwei Trabis und einem VW Käfer aus Plastik, einem Miniaturmodell des Brandenburger Tors, einem Pfennig (Ost) und einem Pfennig (West). Schön war die Zeit! Aber dieser Zug ist abgefahren. Nächster Halt: Hauptbahnhof.