Das Internationale Literaturfestival in Berlin geht zu Ende. Wir haben in der WELT dazu einen Stimmungs-Wiedergabe-Artikel gefunden, den wir supi-supissima finden…! Und für die Ewigkeit aufheben möchten…Zum NACHDENKEN!
Schriftsteller können richtig wütend werden
Das Literaturfestival in Berlin geht zu Ende
von Brigitte Preissler
Wanda Coleman sprach so energisch, daß selbst die bunten Spießchen, die ihre Dreadlocks zusammenhielten, wie eingeschüchtert zitterten. Bei der Veranstaltung „Scripted Cities“ des Literaturfestivals Berlin wurde die im südkalifornischen Watts geborene Autorin gefragt, wie die Stadt Los Angeles, wo sie heute lebt, ihr Schreiben beeinflusse. Es folgte ein eindringlicher Appell: „Imagine!“ rief sie aus. „Stellen Sie sich eine Stadt vor, in der 60 Prozent der schwarzen Jugendlichen arbeitslos sind.“ Sie hob die Stimme. „Stellen Sie sich vor, Sie hätten keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen. Stellen Sie sich schließlich vor, Ihr Arbeitskollege würde 50 000 Dollar mehr verdienen – für denselben Job!“ Da war es nicht mehr Coleman – es war Katrina, die im Festspielhaus vom Podium donnerte: „New Orleans gibt mir Recht: Seit den sechziger Jahren verwandeln sich die amerikanischen Vorstädte in die Homelands des 21. Jahrhunderts; für die schwarze Bevölkerung sind sie Gefängnisse.“ Die poetische Predigt, mit der sie schloß, war nicht wiederzugeben, die Dolmetscherin verweigerte die Übersetzung.
Was für ein Auftritt! New Orleans lag plötzlich mitten in Wilmersdorf, Europa und Amerika rückten dichter aneinander als zwei Käffer im Brandenburgischen. Wie Coleman L.A. und New Orleans im Koffer hatte, brachten auch viele andere Autoren ihre Stadt mit nach Berlin. Kenzaburo Oe hatte die japanische Hauptstadt dabei: „Tagame. Tokio-Berlin“ heißt der neueste Roman des Nobelpreisträgers. Michael Krüger verlegte bei einem Vortrag den Pariser Friedhof Montparnasse auf die Seitenbühne, als er von der Beerdigung Susan Sontags sprach. Die libanesische Schriftstellerin Vénus Khoury-Ghata trug den Beiruter Alltag in die Schaperstraße. Und bei einem Symposion, bei dem russische Intellektuelle über die Machtposition des Kreml nachdachten, führten im Festspielhaus alle Wege nach Moskau.
Andere Veranstaltungen erschlossen die Topographie der Berliner Literaturgeschichte: Spaziergänge führten zu Wohn- und Grabstätten von Schriftstellern oder an die Schauplätze ihrer Werke. So wurden die Schriftsteller gleichsam zu Landvermessern, zu literarischen Wegbereitern, die den urbanen Raum für seine Bewohner beschrieben und auskundschafteten.
Es hätte nicht geschadet, wären die tausenderlei Schwerpunktreihen – Kaleidoskop, Erinnerung Sprich, Fokus Kalifornien, Literaturen der Welt – durch eine straffer gespannte thematische Klammer zusammengehalten worden. 150 Autoren aus Ländern, von deren Existenz man bis dahin nicht einmal etwas geahnt hatte, bei rund 300 Veranstaltungen – die Ausmaße dieses größten Literaturfestivals der Welt konnte auch ihr zentraler Schauplatz in der ehemaligen Freien Volksbühne nicht mehr zusammenhalten. Räumlich war das Fest nur von den Stadtgrenzen Berlins eingefaßt.
Kein Mensch behielt da noch den Überblick. Auch die mehr als 70 (!) Praktikanten, die Festivalgäste täglich bis in die Nacht betreuten, konnten sich nicht um jede Frage zum Programmablauf kümmern. Da das Festival seit diesem Jahr unter dem Dach der Berliner Festspiele stattfindet und vom Bund mitfinanziert wird, stellt sich nicht nur die Frage, wie sich solche Personal- eigentlich mit rotgrüner Sozialpolitik verträgt. Es scheint auch, als sei das Festival eine gute Nummer zu groß dimensioniert, wenn der enorme Maßstab nur auf Kosten unbezahlter Auszubildender zu verwirklichen ist. Hätte Wanda Coleman Wind davon bekommen, wäre das Festspielhaus von dem daraufhin einsetzenden Donnerwetter wahrscheinlich zusammengebrochen.
„Wer hat eigentlich etwas von dem ganzen Aufwand?“, fragte irgendwann ein Tischnachbar im Garten des Festspielhauses. „Die Buchhändler? Die Verlage? Die Autoren? Berlin? Die Feuilletons?“ Mit viel Idealismus könnte man antworten: Die Literatur.
Artikel erschienen am Sa, 17. September 2005