BUCHTIPP : Altenpflege im Akkord

….der Titel sagt beinah alles – ein Mensch, weder Journalist, noch Autor, noch undercover-recherchierend, war vom Arbeitsamt in diverse Altenpflegeheime als Aushilfs-Pflegekraft geschickt worden. Was der Mann dort sah und erlebte, – verarbeitete er zu einem Buch – mehr: quelle wams vom 5.9. 2005
Altenpflege im Akkord

Über die Reform des Pflegesystems wird seit langem diskutiert.

Wie notwendig sie wirklich ist, zeigt ein neues Skandalbuch

Am schlimmsten war die Scham in den Augen der alten Frauen, wenn er sie in Akkordzeit ausziehen und mit einem Lappen waschen mußte. Eine weibliche Pflegerin war nicht eingeteilt. Also mußte er die Frauen versorgen. Das Geschlecht spielte keine Rolle ebensowenig wie der Name in jener Welt, in die Markus Breitscheidel für mehr als ein Jahr eintauchte. Denn Menschen galten dort oft nicht mehr als die Nummern auf ihren Zimmertüren.

Getarnt als Pflegehilfskraft hat der 36jährige aus Cochem an der Mosel in sechs Altenheimen zwischen München und Hamburg gearbeitet. Was Markus Breitscheidel dort erlebte, hat er in einem Buch aufgeschrieben. Dessen Inhalt hat Skandalpotential.

Am Freitag hat er es gemeinsam mit der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth (CDU) und dem Schriftsteller Günter Wallraff vorgestellt. Kurz zuvor hatte eines der namentlich genannten Heime bereits rechtliche Schritte angekündigt. Markus Breitscheidel hat damit gerechnet, er sagt: „Ich habe für alles Beweise“, und verweist auf Fotos, Videos und Aufzeichnungen, die er gemacht hat.

Die Aufregung verwundert nicht, denn er schildert, wie alte Menschen um halb fünf am Morgen zum Waschen aus dem Schlaf gerissen werden, weil in der Frühschicht zu wenige Pflegekräfte eingeteilt sind. Wie Demenzkranke mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt, eingesperrt oder an Rollstühle gefesselt werden, weil sich niemand um sie kümmern kann. Und wie Bettlägerige faustgroße offene Wunden bekommen, weil sie von ungelernten Kräften unsachgemäß gepflegt werden.

Markus Breitscheidel ist ein kleiner, unauffälliger Mann mit Schnauzbart und ruhiger Stimme. Früher war er einmal Verkaufsleiter für einen Werkzeughersteller. Er kündigte, weil er nicht länger Mitarbeiter aus Kostengründen entlassen wollte. Auf der Suche nach etwas Sinnvollem landete er in der Altenpflege. Was er dort erlebte, habe auch sein Leben verändert, sagt er. 20 Kilo hat er verloren und die Erkenntnis gewonnen, daß Altenpflege einer der härtesten Berufe ist.

In fünf von sechs Heimen, an die er vom Arbeitsamt vermittelt wurde, seien die Zustände katastrophal gewesen. Nicht, weil die Pfleger Unmenschen waren, „sondern weil sie in einem System arbeiten müssen, in dem sich alles um Zeiten und Pauschalen dreht, aber nicht um die Bedürfnisse der Bewohner“, sagt er.

Rolf Hirsch erstaunen Breitscheidels Erlebnisse nicht. Der Gerontopsychiater und Chefarzt der Rheinischen Kliniken in Bonn kämpft als Vorsitzender der Initiative „Handeln statt Mißhandeln“ seit Jahren gegen die Mißstände im Pflegesystem. Er hat durchaus Verbesserungen registriert, vor allem Versuche, wegzukommen von großen unpersönlichen Heimen hin zu kleineren Wohneinheiten, die ambulante und stationäre Pflege miteinander verbinden. „Trotzdem werden die Probleme noch immer nicht konsequent angegangen“, sagt Hirsch. Dabei wäre das dringend notwendig.

In Deutschland gibt es derzeit mehr als zwei Millionen Menschen, die pflegebedürftig sind. Im Jahr 2020 werden es fast drei Millionen sein. Denn die Deutschen werden immer älter und die Pflegebedürftigen immer mehr. Um dem absehbaren Problem zu begegnen, wurde vor zehn Jahren die Pflegeversicherung als eine Teilkaskoversicherung eingeführt. Gestaffelt in drei Stufen je nach Pflegebedarf (siehe Kasten), wurde sie mit festen Pauschalen gedeckelt. Seit Jahren beträgt der Beitragssatz 1,7 Prozent, obwohl die Kosten gestiegen sind. Inzwischen hat sich ein Defizit von fast einer Milliarde Euro aufgebaut. Allein für die Finanzierung ist eine Reform überfällig. Doch es mangelt nicht nur an Geld, sondern auch an einem besseren Pflegesystem.

Vor zwei Jahren haben das Familien- und das Gesundheitsministerium daher einen „Runden Tisch Pflege“ einberufen, an dem Vertreter der Länder und Kommunen, aus Verbänden, Praxis und Wissenschaft sitzen. In Kürze sollen sie ihre Empfehlungen vorstellen. Schon die Zwischenergebnisse zeigen, daß allen Beteiligten die Mißstände bewußt sind. So wird unter anderem gefordert, die Arbeitsbedingungen von Pflegern zu verbessern, mehr zu qualifizieren und in Heimen für bessere Eß- und Trinkkulturen zu sorgen.

Markus Breitscheidel teilt vieles davon. Er hat gesehen, wie den Menschen Pudding eingeflößt wurde, egal ob Diabetiker oder nicht, weil es schnell geht und billig ist. Oft sei das Management genauso überfordert gewesen wie das unterbesetzte Pflegepersonal.

Wenn der Sozialverband Deutschland schätzt, daß jedes Jahr 10 000 Menschen infolge schlechter Pflege sterben, glaubt er das gern.

Die Schuld sieht er nicht nur in den Rahmenbedingungen, die durch starre Pauschalen und Zeitkorridore bestimmt sind, sondern auch in schlechtem Management und mangelhaften Kontrollen. Er selbst erlebte nur einen Besuch der Heimaufsicht, die sich zwei Wochen vorher ankündigte und die Bewohner nannte, die überprüft werden sollten.

Dabei gibt es durchaus Einrichtungen, in denen menschenwürdig gepflegt wird. Breitscheidel erlebte es in einem Berliner Seniorenheim. Dort gab es ein Management, das auf Qualität setzte, interne Kontrollen und Fehleranalysen durchführte, das Personal schulte und unterstützte. Die Bewohner wurden nicht nur gepflegt, sondern auch gefördert. Das Heim arbeitete nicht gewinnorientiert, sondern kostendeckend.

Die Experten vom „Runden Tisch Pflege“ empfehlen, Qualitätsmerkmale zu definieren, damit solch vorbildliche Einrichtungen zum Standard werden. Und sie wollen eine Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen herausgeben, an der sich Heime messen lassen müßten. Einrichtungen sollten außerdem endlich ihre Bilanzen offenlegen, fordert Kornelie Rahnema, Leiterin der Münchner Beschwerdestelle für Probleme in der Altenpflege, die ebenfalls am Expertentisch sitzt. Doch dagegen wehren sie sich noch erfolgreich.

Zugleich glaubt Rahnema aber, daß es nicht reicht, auf die „tollen Ausnahmen zu verweisen“. Das seien oft neue Häuser mit gut geschulten Managern, die es unter hohem persönlichen Einsatz schafften, qualifiziertes Personal an sich zu binden: „Dem Durchschnitt ist unter den Rahmenbedingungen nur eine existenzsichernde Pflege möglich.“

Sie plädiert daher dafür, das Fallpauschalen-System zu überdenken. Denn das schaffe keine Anreize, Pflegebedürftige so zu versorgen, daß sie selbständiger leben können, weil sie dann in eine niedrigere Stufe rutschen, für die es weniger Geld gibt.

Eine Alternative könnten persönliche Pflegebudgets sein, die derzeit von der Evangelischen Fachhochschule Freiburg in sieben Städten erprobt werden. Pflegebedürftige können dabei über die Pauschale in Form eines monatlichen Budgets selbst verfügen. Qualifizierte Berater, sogenannte Case Manager, helfen ihnen, sich individuell Pflege-Leistungen zusammenzustellen.

„Es mangelt nicht an Alternativen, sondern am politischen und gesellschaftlichen Willen“, sagt Rolf Hirsch von „Handeln statt Mißhandeln“. Er glaubt nicht, daß Breitscheidels Skandalbuch daran etwas ändert oder der runde Tisch. Denn dessen Empfehlungen sind nicht verbindlich. „Jeder einzelne muß sich für Alte engagieren.“ In Heimen mit vielen Ehrenamtlichen gebe es keine Mißstände. Das hat er selbst erlebt. Heike Vowinkel

Artikel erschienen am 4. September 2005

Quelle:

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