PRESSE-STIMMEN/KRITIK zum offensichtlichen BERLINALE-Gewinner-Film: Sophie Scholl und „One day in Europe“
Quelle: faz.net vom 14. 2. 2005
Julia Jentsch als Sophie Scholl
Berlinale
Rose, o reiner Widerspruch
Von Andreas Kilb
14. Februar 2005 Julia Jentsch ist die Entdeckung dieser Berlinale. Das liest und hört man derzeit in allen Berliner Zeitungen und auf allen Berliner Sendern, so oft und so laut, daß man es schon nicht mehr glauben mag. Und so hat unter den gewohnheitsmäßig Ungläubigen, die es auf jedem Festival gibt, auch schon das Julia-Jentsch-Bashing begonnen.
Wirkt sie nicht ein wenig zu theatralisch auf der Leinwand? Klingt sie in den Radiointerviews nicht ein wenig zu naiv für ihre 26 Jahre? Man weiß ja, was aus Franka Potente geworden ist, die vor sechs Jahren, nach „Lola rennt”, genauso hochgeschrieben wurde und heute, ohne Oscar und Dollarmillionen von ihren Hollywood-Abenteuern zurückgekehrt, in der Berlinale-Jury sitzt. Vielleicht sollte man Julia Jentsch diese Erfahrung ersparen, indem man ihr Talent gleich etwas kritischer anschaut. Denkt man. Bis man „Sophie Scholl” sieht.
Klinge im Auge
Ein neuer Star? Julia Jentsch
„Sophie Scholl – Die letzten Tage” ist der Film der Julia Jentsch. Nicht weil sie ihn an sich reißt, indem sie ihre Mitspieler an die Wand drückt. Sondern weil er so gebaut ist. Er beginnt und endet mit Sophie Scholl alias Julia Jentsch. Wo andere Filme ein Happy-End haben, da zeigt „Sophie Scholl” die Hinrichtung seiner Heldin am 22. Februar 1943 in der Münchner Strafanstalt Stadelheim. Ein Frauenkörper wird unter die Guillotine geschoben, dann fällt die schwere Klinge herab, und der Film ist aus. Und weil man die knapp zwei Stunden zuvor fast ausschließlich mit Sophie Scholl verbracht hat, weil man länger in ihr Gesicht geschaut hat als in das aller anderen Darsteller, ist es, als fiele einem diese Klinge mitten ins eigene Auge.
Schon Percy Adlon („Fünf letzte Tage”) und Michael Verhoeven („Die Weiße Rose”) haben Filme über Sophie Scholl gedreht. Aber wo Verhoeven vor allem die Geschichte des Widerstands-Netzwerks erzählt, das die Geschwister Scholl aufbauten, und Adlon sich auf Sophies Zellengenossin Else Gebel konzentriert, da geht Marc Rothemund zweiundzwanzig Jahre später einen ganz anderen Weg. Sein Film fängt da an, wo „Die Weiße Rose” endet: bei der Verhaftung der Geschwister in der Münchner Universität. Und dann zeigt er die fünf letzten Lebenstage der Sophie Scholl, Schritt für Schritt, Verhör für Verhör, wie ein tödliches Ritual, dessen Ausgang von vornherein feststeht. Nur daß in Rothemunds Film, der sich auf die wiederentdeckten Originalprotokolle der Gestapo-Verhöre stützen konnte, auf einmal gar nichts mehr festzustehen scheint.
Sophie Scholl lügt
Sophie und Hans Scholl, gespielt von Fabian Hinrichs
Denn in „Sophie Scholl” sieht man Sophie Scholl lügen. Sie streitet rundweg alles ab, was ihr die Gestapo zur Last legt, sie verleugnet sich selbst mit der Unschuldsmiene eines Backfischs, den man beim Rauchen ertappt hat. Erst als der Vernehmungsbeamte Mohr (Alexander Held) ihr das Geständnis ihres Bruders Hans präsentiert, gesteht sie auch. Aber nicht mit einem Seufzer, sondern mit einem leisen Schrei: „Ich habe es getan . . . und ich bin stolz darauf.”
Das ist der Punkt, an dem der Film kippen könnte: vom Kammer- ins Jammerspiel, vom Studenten- ins Heldendrama. Daß er nicht kippt, verdankt er Julia Jentsch. Denn sie verleiht dem Ruck, der durch Sophie geht, als sie ihr Todesurteil unterschreibt, den bebenden Schmerz einer Liebeserklärung. Sophie liebt die Wahrheit mehr als ihr Leben, deshalb leuchtet ihr Gesicht auf, als sie zugibt, sich gegen Nazideutschland verschworen zu haben. Wenn man wissen will, was es bedeutet, sich für eine Idee zu opfern, muß man Julia Jentsch in diesem Film zuschauen und zuhören, dem Glissando ihres Mienenspiels, den leisen Akzenten ihrer Körpersprache. Ihr Spiel ist mehr als eine virtuos beherrschte Filmrolle, es ist ein Stück visuelle Erkenntnis, wie man sie im Kino selten findet.
Ästhetische Erziehung im Fernsehen
Sophie Scholl im Gefängnis
Marc Rothemund, der Regisseur, begnügt sich hingegen damit, für seine Darsteller (unter denen neben Julia Jentsch Andre Hennicke als Freisler herausragt) mit der Kamera die Räume frei zu machen. Wer sehen will, was man aus Verhörsituationen filmisch alles machen kann, muß sich an Karmakars „Totmacher” halten, „Sophie Scholl” bietet nur Gewohntes. Daß Rothemund zuletzt die Teenagerklamotte „Harte Jungs” gedreht hat, merkt man dem Film nicht an, wohl aber die jahrelange ästhetische Erziehung im deutschen Fernsehen, bei dem sich auch der Drehbuchautor Fred Breinersdorfer seine Sporen verdient hat.
Richtig Kino machen wollte dagegen Hannes Stöhr, dessen Debütfilm „Berlin is in Germany” vor vier Jahren auf der Berlinale einen Publikumspreis gewann, und die vier Episoden, aus denen „One Day in Europe” sich zusammensetzt, sind auch wirklich sehr flott und bunt und unterhaltsam erzählt. Es fehlt nur, wie bei den meisten Episodenfilmen, eine Idee, die aus dem zufälligen Zusammentreffen verschiedener Geschichten ein Notwendiges machen würde.
Boris Arquier und Rachida Brakni in „One Day in Europe“
Daß in Rußland ein Europacupspiel zwischen Mannschaften aus der Türkei und Spanien stattfindet und Fußballfans in Moskau, Istanbul, Santiago de Compostela und Berlin dem Ausgang entgegenfiebern, während unter ihren Augen ein paar echte oder getürkte Diebstähle stattfinden, ist ein hübscher Einfall, aber kein Konzept. Und so fährt man auch mit diesem filmischen Omnibus wieder weit in der Weltgeschichte herum, ohne sich auf irgendeine Station näher einlassen zu müssen. Das ist sehr bequem. Aber auch ermüdend.
Text: F.A.Z., 14.02.2005, Nr. 37 / Seite 36