Exclusiv-Interview, gefunden auf ARTE-online, im Rahmen der GESTAPO-Reihe von ARTE
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Exklusiv-Interview mit Serge Klarsfeld
„Das Vieh schickt man auf den Schlachthof, aber man geht nicht selbst dorthin“
Was waren das für Menschen, die in der Gestapo ihren Dienst taten? Wie arbeitete die Gestapo in Frankreich und anderen besetzten Ländern? Welche Rolle spielten Denunzianten ? Warum wurden Gestapoleute nach dem Krieg so selten zur Rechenschaft gezogen?
Fragen an Serge Klarsfeld, der zusammen mit seiner Frau Beate Klarsfeld die Vereinigung „L’Association des fils et des filles de déportés juifs de France“ gegründet hat und eine herausragende Rolle bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern wie Barbie, Bruner, Papon, Lischka
und anderen gespielt hat.
ARTE: Was waren die Aufgaben der Gestapo in Frankreich?
Serge Klarsfeld: Sie hatte für die Sicherheit der deutschen Truppen zu sorgen und musste in Frankreich die öffentliche Ordnung aufrechterhalten, gegen eventuellen Widerstand vorgehen sowie die politischen Feinde des Reiches bekämpfen.
Wie stark war die Gestapo auf Grund mangelnder Orts- und Sprachkenntnisse auf die Zusammenarbeit mit Franzosen bzw. mit der französischen Polizei angewiesen?
Die oberste Führungsriege der Gestapo sprach Französisch: Helmut Knochen z. B., der Chef des Sicherheitsdienstes, hatte sehr gute Französischkenntnisse. Das galt auch für Herbert Hagen, sozusagen der rechte Arm und Vordenker des SS- und Polizeichefs General Oberg. Man kannte Frankreich also. Zudem waren zu Beginn natürlich nur sehr wenige Deutsche vor Ort, ein Dutzend etwa, doch sie verstärkten ihre Reihen nach und nach, bis sie 1942 die Leitung der Polizei übernahmen, die bis dahin unter militärischer Aufsicht gestanden hatte. Ab Frühjahr 1942 stand Frankreich gänzlich unter Führung der deutschen politischen Polizei, wobei diese natürlich auf die Polizei- und Verwaltungsstrukturen des Vichy-Regimes angewiesen war. Dies galt zumindest bezüglich der Judenfrage.
Gab es Franzosen, die leitend für die Gestapo tätig waren? In welcher Funktion?
Ob Franzosen dabei waren, schon zu Beginn? Nun, vereinzelt wurden den Chefs der Geheimpolizei Informationen zugespielt. Die Informanten schienen förmlich zu riechen, was die Franzosen in Paris dachten. Diejenigen, die jedoch wirklich für die Gestapo arbeiteten, waren die Dienststellen des „État français“, wie das Vichy-Regime offiziell bezeichnet wurde. Die Kollaboration etablierte sich, und zwar auf klarer Grundlage: Deutsche Gestapoangehörige standen unablässig in Kontakt mit der französischen Polizei, genauso war es auch im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich. Ein deutsches System legte sich wie ein Netz über die Infrastruktur des Vichy-Regimes. Erst nach Stalingrad, im Jahr 1943, als die Franzosen am Sieg der Deutschen zu zweifeln begannen, mehrten sich die Vorbehalte innerhalb des französischen Staatsapparats. Andererseits mussten sich die Deutschen aber auch auf bezahlte Helfer aus den … sagen wir mal unteren Schichten stützen. Diese arbeiteten sowohl in Paris als auch in der Provinz für die Gestapo. 1942 waren es aber nicht diese „inoffiziellen Kollaborateure“, also Einzelpersonen, die die Juden verhafteten, sondern die Gendarmen und Beamten der französischen Polizei. Zwischen 1942 und 1944 besteht also ein großer Unterschied.
Welche Rolle spielten Denunziationen in der Bevölkerung?
Bezüglich der Denunziation von Juden kursiert in der Bevölkerung eine Legende, in Frankreich wurden nämlich nur wenige Juden verraten. Die Juden selbst haben den Begriff der Denunziation ein wenig mitgeprägt, weil sie das ihnen von Hitler aufgezwungene Schicksal nicht annehmen wollten. Dieses Schicksal war die Judenzählung, mit der die deutschen Besatzer die französischen Behörden sofort nach dem Einmarsch beauftragt hatten. In der besetzten Zone wurde die Zählung im September/ Oktober 1940 durchgeführt, im freien Teil des Landes im Juli 1941. Allerdings dachte im September/Oktober 1940 noch keiner an die mörderischen Absichten der Nazis, und im Juli 1941 konnte sich niemand vorstellen, dass die Deutschen bis in die freie Zone vordringen würden. So ließen sich also 95 % der Juden registrieren – zumal eine Weigerung hart bestraft wurde. Gleichzeitig besiegelten sie damit jedoch ihr Schicksal: Anhand der nach Adresse, Alphabet, Beruf und Staatsangehörigkeit geordneten Akten war es für die Behörden ein Leichtes, die Juden zu verhaften. Dies galt zunächst für die französischen Behörden, dann aber auch für die deutschen, vor allem, als 1944 von französischer Seite weniger Verhaftungen durchgeführt wurden als früher und die Deutschen besonders in Ostfrankreich nun selbst gegen die Juden vorgingen.
Gab es Fälle von passivem oder sogar auch aktivem Widerstand in der französischen Polizei und in den französischen Behörden, die mit der Gestapo zusammenarbeiteten?
Aktiven Widerstand gab es nicht, davon fehlt jede Spur. Aber den brauchte man auch gar nicht. Da die Deutschen 1942 die Festnahmen bekanntlich nicht überwachten, konnte man problemlos passiven Widerstand leisten: Anstatt dem Befehl Juden zu verhaften Folge zu leisten, ließ man es einfach bleiben. Aktiver Widerstand war also gar nicht notwendig. Lassen Sie mich das anhand einer einzigen Zahl belegen: Am Tag der Massenverhaftung im Vél’ d’Hiv, der größten, die es in Frankreich je gab, hatten die Deutschen und die französische Polizeipräfektur mit 22000 verhafteten Erwachsenen gerechnet. Tatsächlich wurden 9000 Erwachsene und 4000 Kinder festgenommen, was bedeutet: Die Polizisten hatten ihre Arbeit nicht getan oder nur wenig Eifer bei der Inhaftierung Unschuldiger an den Tag gelegt. Zeitzeugen, die damals im Kindesalter waren, berichten von Polizisten, die sie „Brot oder irgendetwas anderes kaufen“ geschickt hätten. So blieb eine Menge Kinder verschont. Die französische Polizei hat ihre Arbeit ohne großen Nachdruck erledigt, sich aber auch nie durch Streiks oder offene Weigerung den Befehlen widersetzt. So wurden aufgrund passiven Widerstandes statt 22000 Menschen nur 9000 verhaftet.
Ist die französische Situation exemplarisch für die anderer besetzter Länder?
Frankreich unterscheidet sich von anderen Ländern in gewisser Hinsicht durch seine Bevölkerung, die ab Sommer 1942 die Juden wirklich schützen wollte. Als die Franzosen feststellten, dass nicht nur jüdische Männer, sondern ganze jüdische Familien verhaftet wurden, überwanden sie ihre Vorurteile, verteidigten die Juden und widersetzten sich in Wort und Tat der Vichy-Regierung, der sie Mithilfe bei der Verhaftung von Juden durch Bereitstellung von Polizei und Verwaltung vorwarfen. Das macht den Unterschied vor allem zu den beiden Nachbarstaaten Belgien und Holland, aber auch zu Italien aus. Die belgische und holländische Bevölkerung war mit Ausnahme der Flamen nicht judenfeindlich eingestellt. Sobald in Holland Juden verhaftet wurden, kam es vor allem in der Arbeiterklasse zu Protesten. Doch gab es in Belgien und Holland im Gegensatz zu Frankreich eingefleischte Antisemiten, auch in den Reihen der Polizei. Aus diesem Grund kam es vor allem in Holland zu zahlreichen Festnahmen. Darüber hinaus existierten in Belgien und Holland bereits vor dem Krieg kollaborierende, also extrem deutschlandfreundlich gesinnte Parteien, was in Frankreich nicht der Fall war. Dies hatte in den beiden Ländern ungleich gravierendere Folgen als in Frankreich. In Italien war die Situation ähnlich wie in Frankreich: Auch hier wurden die Juden erfolgreich von der Bevölkerung geschützt. Während der ersten Hälfte des Krieges hielten Volk, Armee und Diplomaten Italiens das Mussolini-Regime noch in Schach. Mit der Errichtung der „Sozialen Republik Italien“ und der Machtergreifung der hartgesottenen Faschisten in der zweiten Kriegshälfte ging Mussolini dann jedoch noch schärfer und hasserfüllter gegen die Juden vor als das Pétain-Regime.
Warum braucht es Menschen wie Simon Wiesenthal und Sie, um solche Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen? Ist das nicht ein Versagen des Staates, der – im Gegensatz zu Privatmenschen wie Sie – über alle polizeilichen Mittel verfügt, NS-Verbrecher ausfindig zu machen und vor Gericht zu stellen?
Nach dem Krieg bemühten sich die Alliierten relativ erfolgreich um die Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Dann kam der Kalte Krieg. Und der war der beste Verbündete der Naziverbrecher, denn von westlicher Seite wollte man die Westdeutschen nicht verstimmen, und im Osten arrangierte man sich mit denen, die dem kommunistischen Lager nützlich waren. So mt blieben die Naziverbrecher in den 50er im Wesentlichen unbehelligt. Dann kam der Eichmann-Prozess in Jerusalem, für den Israel große Bemühungen unternommen hat: Es entführte Eichmann, um ihn in Jerusalem zu verurteilen. Dieser Prozess hat vor allem in Deutschland, wo es die „Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen“ gab, zu einer erneuten Auseinandersetzung mit den Naziverbrechen geführt. Aber es waren nicht die Nationalstaaten, die mit der Suche nach den Schuldigen begannen. Wiesenthal, meine Frau Beate und ich nahmen uns einiger Fälle an und konzentrierten uns vor allem auf Naziverbrecher, die in Frankreich und Belgien aktiv gewesen waren. Man kann nicht wirklich von Versagen des Staates sprechen, denn in Deutschland wurden ja immerhin einige Kriegsverbrecher verurteilt, und wenn auch oft nachsichtig vorgegangen worden ist, so sind doch wenigstens einige Verfahren eröffnet worden. Auch die alliierte Justiz hat ihren Beitrag geleistet. Wir haben zusammen mit Wiesenthal nach dem Willen der Opfer gehandelt und dafür gesorgt, dass die Naziverbrechen nicht ungestraft blieben.
Sie selbst haben Gestapomitglieder aufgespürt und dadurch etwas mehr über diese Leute erfahren. Was ist Ihnen an diesen Menschen aufgefallen? Was hat Sie überrascht? Gab es Fälle von echter Reue?
Die Reaktionen der Naziverbrecher haben uns nicht überrascht. Wir hatten es mit Leuten zu tun, die nur an sich dachten, die all ihre vor Jahrzehnten begangenen Untaten ganz einfach aus ihren Erinnerungen gelöscht haben. Als wir Herbert Hagen trafen, verlangte er: „Ich möchte einfach nur ungestört leben.“ Er empfand nicht das geringste Mitleid mit seinen Opfern, keine Spur von Reue, nur den Wunsch, unbehelligt sein Leben zu Ende zu führen. Es ist typisch für politische Verbrecher, dass sie keinerlei schlechtes Gewissen haben, denn die Befehle, die sie ausführten, kamen ja vom Staat, und wenn der Staat hinter einem steht, dann kann man ganz beruhigt sein. Dann sind auch schlechte Erinnerungen recht leicht zu vergessen. Vor allem, wenn es wie bei der Gestapo eine Arbeitsteilung gab: Hagen hat niemanden eigenhändig umgebracht, auch Knochen nicht und Lischka nicht. Auch der Generalstab brachte niemanden mit eigener Hand um und sah die Gewalttaten auch nie mit eigenen Augen. Die Arbeit wurde einfach aufgeteilt. Kurt Lischka ist der interessanteste Fall, denn er wurde später Prokurist einer Import-Export-Gesellschaft für Getreide und Vieh. Vieh schickt man zum Schlachthof, aber man geht nicht selbst dorthin. Und im Krieg gab es genau solche Schlachthöfe: Auschwitz, Sobibor, Treblinka. Doch die Naziverbrecher sind alle nie in Auschwitz, Sobibor oder Treblinka gewesen, sie waren ja noch nicht einmal in Drancy bei den Juden. Sie verrichteten eine geradezu abstrakte Arbeit: Quoten einhalten, sprich genügend Juden in die Lager schicken, um Berlin zufrieden zu stellen. Was in Auschwitz geschah, war ihnen völlig gleich. Nach Kriegsende sagten sie sich: „Selbst wenn wir gewusst hätten, dass es um die Tötung der Juden ging, so trifft uns trotzdem keine Schuld, denn wir haben sie ja schließlich nicht selbst umgebracht.“
Das Interview führte Angelika Schindler, November 2004
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Ins Deutsche übersetzte Bücher von Serge Klarsfeld:
Die Kinder von Izieu
Serge und Beate Klarsfeld
Edition Heinrich, 1991
Vichy-Auschwitz
Serge Klarsfeld
Greno, 1989
Bildunterschrift: Beate und Serge Klarsfeld haben sich die Aufdeckung von NS-Verbrechen zur Lebensaufgabe gemacht.
Bildrechte: SWR / © SWR/tvschoenfilm
Update: 29/11/04 | Zum Seitenanfang |
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