Protest gegen Obrigkeitsverhalten der „Wahl-Alternativler in Nürnberg“ – aus Berlin
28. Juli – die Berliner Wahlalternativen protestieren – hier der offene Brief:
Mehr Demokratie wagen!
Erklärung zur Einsetzung eines Berliner Landeskoordinators durch den Bundesvorstand der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG)
Nicht einmal einen Monat nach Gründung der “Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit” (WASG) müssen wir fehlende Transparenz und Demokratie
verbunden mit massiven Ausgrenzungsversuchen des Bundesvorstands gegen unliebsame Diskussionsrichtungen feststellen.
Diese richten sich vor allem gegen die Kritiker der rot-roten Landesregierung in der Berliner WASG und gegen alle, die auf einen schnellen Aufbau demokratisch legitimierter Strukturen im Berliner Landesverband drängen. –
So wurden den von der Berliner Regionalgruppe zur Gründungsversammlung der WASG am 3. Juli nominierten Delegierten, Birger Scholz und Martin Reeh,
von der Vorbereitungsgruppe der Bundes-Wahlalternative zunächst das Stimmrecht verweigert.
Erst nach Antrag auf der Versammlung durfte einer der beiden an den Abstimmungen teilnehmen.
Dagegen waren zwei weitere Berliner, Hasko Hüning und Julia Müller, mit Stimmrecht ausgestattet,
obwohl diese vom Berliner Landesverband nicht als Vertreter entsandt worden waren.
Sowohl Hüning als auch Müller gehören zur Gruppe von Gegnern einer auch landespolitischen Ausrichtung in der Berliner WASG. –
Das Votum der Berliner Regionalversammlung vom 15. Juli,
das den zuständigen Bundesverband mit einer 90%- Mehrheit aufforderte,
bis Ende August eine konstituierende Sitzung des Landesverbandes einzuberufen,
auf der ein Landesvorstand gewählt werden soll, hat der Bundesvorstand missachtet.
Dieser will erst im Oktober die konstituierende Sitzung einberufen. –
Mit Lothar Nätebusch setzte der Bundesvorstand auf seiner Klausurtagung in Fürth am 24./25.7. mit 6:5 Stimmen einen Koordinator ein, der in der Berliner Regionalgruppe bisher nicht mitgearbeitet hat.
Der Gegenvorschlag eines Übergangsvorstands, der verschiedene Strömungen der Berliner Regionalgruppe umfasst hätte, unterlag.
Wir missbilligen ausdrücklich die Art und Weise des Vorgehens des Bundesvorstandes.
Die Einsetzung von Nätebusch und die Verzögerung der Wahl eines Landesvorstandes entgegen dem klaren Votum eines Regionaltreffens
widersprechen grundlegenden demokratischen Prinzipien
und erinnern uns an die Praktiken etablierter Parteien.
Dazu passt auch, dass Klaus Ernst, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands,
sich am 20. Juli mit der Gruppe um Hüning und Julia Müller traf
und am Tag darauf vor der Presse gegen Mitglieder der Wahlalternative wandte,
die aktiv das Volksbegehren “Soziales Berlin” unterstützen.
Julia Müller durfte anschließend auf Einladung von einzelnen Mitgliedern des Bundesvorstands an dessen Klausurtagung teilnehmen,
während Vertreter einer auch landespolitischen Ausrichtung der Berliner Regionalgruppe nicht eingeladen waren.
Obwohl einige von ihnen den Bundesvorstand schon zuvor um ein Gespräch gebeten hatten,
fand sich dieser in Gestalt von Klaus Ernst bisher nur zu einem knapp halbstündigen Termin am 21. Juli bereit,
in dem Ernst den Berliner Vertretern
(Rouzbeh Taheri, Birger Scholz, Martin Reeh, Dietmar Müller)
lediglich die Bedingungen für eine weitere Zusammenarbeit diktierte
und sie aufforderte,
mindestens bis zur Parteigründung jegliche Landespolitik einzustellen.
Kurz vor der Bundesvorstandsklausur bat Ernst dann Birger Scholz,
ihm eine Liste mit mehreren Kandidaten aus ihren Reihen für den Beirat des Landeskoordinators zuzusenden,
aus der sich der Bundesvorstand dann einige Vertreter auswählen wollte.
Dies wurde von Scholz selbstverständlich abgelehnt.
Er forderte stattdessen noch einmal nachdrücklich zu Vorstandswahlen bis Ende August,
spätestens Mitte September, auf.
Hinter diesen Vorgängen steht ein tiefgreifender Konflikt
um Aufbau und Ausrichtung der Wahlalternative:
Mit der Ernennung eines Landesleiters orientiert sich der Bundesvorstand der Wahlalternative
ohne Not an den autoritären Anteilen der deutschen Gewerkschaftstradition.
Wenn es die Wahlalternative ernst meint mit ihrem Anspruch,
die Erfahrungen der sozialen Bewegungen in das neue Projekt einzubringen,
so muss sie nicht nur deren politische Inhalte,
sondern auch deren politische Praxis ernst nehmen
und von ihnen lernen.
Dazu gehört, die politisch Aktiven vor Ort entscheiden zu lassen,
nicht ihnen Personen und Entscheidungen von oben zu verordnen.
Wir sind der festen Überzeugung,
dass eine Aufbaustrategie von oben nach unten
(Top-Down-Orientierung) nicht nur bei den momentan Aktiven für größten Unmut sorgen wird,
sondern die WASG auch innerhalb der sozialen Bewegungen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke Berlins,
die im Gegensatz zu anderen Städten eine deutlich wichtigere Rolle spielen,
diskreditieren wird.
Führende Vertreter des Bundesvorstands schließen zumindest eine Listenverbindung mit der PDS zur Bundestagswahl 2006 nicht aus
(Axel Troost im “Neuen Deutschland” vom 1.5.2004;
Klaus Ernst in der “Berliner Zeitung” vom 22.7.2004).
Ein Landesverband Berlin,
der sich explizit gegen neoliberale PDS-Politik in der Hauptstadt ausspricht,
stört bei diesen Planspielen.
Klaus Ernst erklärte gegenüber den Berliner Vertretern der Wahlalternative,
die Berliner Probleme seien ohnehin nur auf Bundesebene zu beeinflussen.
Wir sind der Meinung, dass die Bürger nicht zwischen Sozialabbau der Bundesregierung (Hartz- Gesetze)
und des SPD-PDS-Senats (Abschaffung des Sozialtickets und des Blindengelds) unterscheiden.
Daher können wir kaum am Infostand vermitteln, gegen die Agenda 2010 zu kämpfen,
uns aber beim Sozialraub auf Landesebene für unzuständig zu erklären.
Im Gegenteil:
Wir sind der Überzeugung, dass jeder Verdacht der möglichen Kooperation mit Parteien in Regierungsverantwortung,
die Angriffe auf die Bevölkerung mittragen,
die WASG beschädigen wird.
Bürgerinitiativen, Gewerkschafter und Wissenschaftler haben in den letzten zweieinhalb Jahren deutlich gemacht,
dass es durchaus Alternativen zur Sparpolitik des Senats gibt.
Wir suchen die Gemeinsamkeiten mit denjenigen Mitgliedern und Anhängern von SPD, PDS und Grünen,
die genau wie wir die neoliberale Politik ihrer Parteivorstände ablehnen.
In Anbetracht der fortgesetzten Korruption wie im Fall Tempodrom,
der Selbstbedienungsmentalität von Politikern und Vorständen landeseigener Betriebe,
der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen,
der Zerschlagung des Flächentarifvertrags im Öffentlichen Dienst
und der Streichung von Sozialleistungen wollen und müssen wir –
wenn wir als Wahlalternative ernstgenommen werden wollen –
auch auf Landesebene eine wählbare Alternative entwickeln.
Dabei werden wir den Widerstand gegen die unsoziale Sparpolitik des Berliner Senats ebenso fortführen
wie den Protest gegen die Agenda 2010 der Bundesregierung.
Beides sind zwei Seiten der selben Medaille.
Die Frage, ob in Berlin zu den Abgeordnetenhauswahlen angetreten werden soll,
ist erst dann zu entscheiden,
wenn sie ansteht.
Selbstverständlich ist sie von den Erfolgsaussichten abhängig zu machen.
Heute geht es darum, sich diese Option offen zuhalten und eine Wahlfähigkeit auf Landesebene genauso anzustreben,
wie wir sie auf Bundesebene erreichen wollen.
Die Entscheidung einer Landeskandidatur, in Berlin oder in einem anderen Bundesland,
muss – selbstverständlich in einem solidarischen Diskussionsprozess mit dem Bundesverband
– vor Ort entschieden werden.
Das Volksbegehren Soziales Berlin für Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus
hat eine gewichtige Rolle in den Protes
ten gegen die neoliberale Landespolitik in Berlin;
seine Träger dürfen weder aus der Wahlalternative noch aus ihren Leitungsgremien ausgegrenzt werden.
Wir fordern daher den Bundesvorstand auf:
1. Zur konstituierenden Sitzung des Landesverbands
und den damit verbundenen Vorstandswahlen bis Ende August, spätestens Mitte September, einzuladen.
2. Die bestehenden demokratischen Strukturen der Berliner WASG anzuerkennen
und zu einer konstruktiven und solidarischen Zusammenarbeit zurückzukehren.
Ob die Berliner WASG das Volksbegehren für Neuwahlen des Abgeordnetenhauses unterstützt oder nicht,
ist letztlich eine Berliner Angelegenheit.
Wir erwarten von Lothar Nätebusch, den wir als integren Bündnispartner kennen,
dass er auch als eingesetzter Landesleiter
die demokratischen Strukturen und Beschlüsse der Berliner Wahlalternative respektiert.
Dies heißt insbesondere,
dass er in einem demokratisch bestimmten Koordinierungsgremium, das die Gründung des Berliner Landesverbandes der WASG und regulärer Vorstandswahlen organisiert,
solidarisch mitarbeitet.
Berlin, 27.07.2004
Werner Halbauer
Michael Hammerbacher
Klaus-Dieter Heiser
Jan Knipper
Dietmar Müller
Michael Prütz
Frank Puskarev
Martin Reeh
Birger Scholz
Andrea Schultheisz
Rouzbeh Taheri
Bernhard Weinschütz
Luigi Wolf