Schickt die Politiker, schickt die Attentäter, schickt die Strippenzieher heim.
Lasst Autoren Frieden schaffen.
Der Beitrag von Thomas Delekat – in der WELT vom 19. September 2003,
hat jetzt den THEODOR-WOLFF-PREIS gewonnen.
Gruss an alle Selbstmordattentäter, Politiker, Scharfmacher, Heuchler, Uneinsichtigen – bitte täglich einmal lesen, als Dauerpflicht.
Wenn Ihr WEINT,
beim LESEN, dann WEINT und vielleicht verändert das Euren Geist….lieber Gott, beschütze diesen Autor, auf dass er in der Lage ist, solche Texte zu schreiben, noch – immer!!
Wie fühlt man sich, nachdem man so einen Text geschrieben hat?
Völlig aufgelöst?
FEM hofft, dass dieser friedensnobelpreisträchtige Beitrag
als Buch oder in einem Buch erscheint.
Hier der preisgekrönte Beitrag,
den wir der welt-online entnommen haben. DANKE!
„Daddy! I love you“
Yossi Mendellevich hörte am Telefon, wie eine Bombe seinen Sohn zerriss.
Besuche bei zwei Familien, die ihre Söhne verloren. Am selben Tag, zur selben Zeit – der eine war ein Opfer, der andere der Attentäter
von Thomas Delekat
Haifa, 5. März, 14.12 Uhr: Der Computeringenieur Jossi Mendellevich ruft Yuval an, seinen 13-jährigen Sohn. „Alles in Ordnung, Daddy, ich sitze im Bus“, sagt Yuval. Die Bustüren öffnen sich, Mahmud steigt zu, er trägt einen Sprenggürtel um die Hüfte. Jossi macht einen Witz. Yuval kichert. Jossi hört, wie Yuvals Stimme, sein Körper, sein Handy zerreißt. Jossi steht in Yuvals Zimmer und sieht sich Leichen an. Er betrachtet die Zeitungsfotos vom Linienbus Nummer 37, das Wrack, das Blut und die Porträtgalerie mit allen 18 Opfern, darüber die Schlagzeilen. Es ist heiß, die Zeitungsseiten fächeln beim Blättern ein bisschen Luft durch Yuvals verlassenes Zimmer. Jossi betrachtet die Bilder genau, alles will er wissen. Er schont sich nicht. Erst wenn er alles weiß, überwindet er den Tod. Das glaubt Jossi.
Jossi kann von einem kleinen Foto die Augen nicht lassen, er ist
ganz hingerissen davon. Das Bild zeigt ein verrußtes Stück vom Bus und eine Hand. Sie hängt aus einem leeren Fenster, ein Totenzettel dreht sich am Wurzelgelenk. Es ist Yuvals Hand, Jossi weiß es durch die Ärmelbündchen. Yuvals Jacke, Yuvals Hand. Die Hand liegt still, sie hält in einer Geste inne, und zufällig ist es Gottes Fingerzeig, derselbe, den Adam empfängt auf Michelangelos Schöpfungsbild in der Sixtinischen Kapelle. Gottes gestreckter Zeigefinger, Yuvals Hand, genau so. Nur ohne Lebensfunken. An Yuvals Mittelfinger sind zwei Glieder abgerissen. Blut tropft aus dem Stumpf, es trieft und kleckert eine Spur über den Totenzettel. Jossi weint in die aufgeschlagene Zeitung.
Jossi hört Yuvals Stimme, das helle, heisere Timbre, dieses
stimmbrüchige Jungenkrächzen. Yuvals Bettdecke liegt noch da, wohin er sie beiseite warf an seinem letzten Morgen. Daneben Grishams „Der Klient“, und es markiert ein Lesezeichen den kurzen Moment zwischen Müdigkeit und Schlaf während Yuvals letzter Nacht. Jossi streckt die Hände aus. Das Laken und die Decke, sind sie kalt? Yuvals Schlafwärme, die Bettschwere, Yuvals Geruch! Seine Sweatshirts im Schrank, seine Turnschuhe unterm Bett. Die Schreibtischlampe brennt. Jossi hofft. Das Zimmer atmet wie immer, es lebt noch eine Weile weiter.
Ariel Scharon, der Ministerpräsident, rief an. Jossi fuhr hin zu ihm
und sagte, man müsste was mit den Bushaltestellen tun, und Scharon tat was. Jetzt sitzt Jossi in seinem Ford und fährt mal wieder Geisterbahn, er fährt wieder die breite, vierspurige Moriahstraße entlang. „Da drüben, Yuvals Schule“, sagt Jossi. Ein Mann mit Schnellfeuerwaffe schiebt an der Bushaltestelle Dienst. Es ist wieder Mittwoch, es ist wieder genau die Strecke, die Stelle, und es ist wieder genau dieselbe Zeit. Yuval war zu spät an seinem letzten Tag, sagt Jossi. Er hatte in der Schule nachgesessen. Er klebte sein Löwenkostüm fürs Schulfest zusammen, und dann nahm er den nächsten Bus.
Der grüne 37er fährt heran, Yuval rein, in der Mitte die freie Bank mit
Fensterplatz. Yuval fährt eine Station und noch eine. Die Tür geht auf, Mahmud kommt herein, Yuval sieht ihn nicht, er ist ganz Ohr, er telefoniert mit Jossi, und der erzählt ihm gerade einen Witz. Yuval kichert. Mahmud drückt auf den Auslöser.
Jossi gibt Gas. Er bricht brachial durch die Polizeiabsperrung, er
rast über die menschenleere Moriahstraße, den Hügel hinunter, die Senke hindurch, die nächste Steigung wieder hinauf. Auf der Kuppe sieht er das Trümmerfeld. Jossi riecht den Tod, diesen süßlichen Geruch nach verwesendem Fleisch, dieser muffige, erstickende Gestank schwelenden Mülls. Jossi sieht nur Grau. Alles ist grau, das Grün der entlaubten Büsche auf dem Mittelstreifen, die weißen Häuserfassaden mit den zersprengten Fenstern, der kahle Rohrrahmen des Busses, grau die Straße, bedeckt vom dreckigen Gemisch aus Gliedmaßen, Fetzen von irgendwas, von Taschen, Kleidung, vom Wrack, den Glassplittern der Bushaltestelle. Alles grau, alles grau. Kurz bevor das Funknetz zusammenbrach, rief Yuvals Mutter an, sie sagte: „Jossi! Eben kam im Radio, der 129er ist hochgegangen. NICHT DER 37ER! Also mach dir keine Sorgen, Jossi. ER WAR NICHT DRIN!!“ Jossi stößt die Autotür auf. Hinter der Stirn, in den Schläfen pocht ein weißes, hartglitzerndes Rauschen. Gleich fällt er um, Panik, Schwindel, Herzkasper. Jossi rennt zum Wrack, er brüllt „Yuval, Yuval“, und da schnappen sie ihn schon. Sie schleifen Jossi weg, weg von der Hand, die er nicht gesehen hat, Yuvals lebloser Geste aus dem leeren Busfensterrahmen, Yuvals tropfender Hand unter dem weggesprengten Busdach, unter dem freien, blauen Himmel über dem Grau.