Bahnhof Zoo, nachts

Nachdem der live-Text von Samstagnacht (4.auf. 5. April 03) 25 mal gelesen wurde, findet er jetzt hier Ruhe und Platz und gute Luft. Ihr dürft ihn aber trotzdem immer wieder lesen. Er ist halt – gut..!
Samstagmorgen in Berlin.
FEM lässt Euch den Nachttext noch.
Wir wollen einen Verein KINDER DES IRAK gründen.
Gerade hören wir, daß die USA einem beherzten Chirurgen die Aktion „Ich will Kinder retten!“ verweigert wurde.
Auch das ROTE KREUZ scheint eifersüchtig.
Wir, eine Gruppe gleichgesinnter Menschen, gestern Abend, wir berichten nachher ausführlicher –
möchten „nicht warten“,
„bis der Krieg vorbei“.
Wir sind DREI : ein NDR-Journalist,
eine international arbeitende Fotografin,
und FEMINISSIMA, die dann eine ihrer vielen Rubriken – für KINDER DES IRAK zur Verfügung stellt.

Wir berichten später mehr.
Zu gestern.
Zu heute.
Und zu Morgen.
Außerdem, das nebenbei –
Will FEMINISSIMA einen FILM über Berlin drehen.
Sehr neu.
Das Thema spielt keine Rolle,
der Ort auch nicht – oder doch?

Die tausendste Wiederholung ist doch keine.
Jeder blickt, fühlt anders.

Das die short-news vor dem Frühstück.
Hi – guten Morgen, wie geht es Euch denn so?

Hier noch der Text von der Nacht.
Mit der Überschrift aus der Headline-List:
„Nachts am Bahnhof-Zoo-nach-Vernissage-der-Gleichgesinnten“.

Hallo – ! Lieb gegrüßt alle – !
Morgen davon mehr.
Fühlt Euch angesprochen!
Auf jeden Fall!

Kurz vor Mitternacht in die U-Bahn am Kottbusser Platz in Kreuzberg eingestiegen.
Kaum Platz frei.
Alle auf dem Weg zu Events.
Danke, komme gerade von zwei Events.
Auch getrunken für guten Zweck,
zu viele Promille jetzt und zu wenig Euro, jetzt.
Kein Problem.
Nein, nein.
So viele Eindrücke.
Jetzt ja nur noch heim.
Und das alles wirken lassen.
Und am Samstag drüber schreiben.

Bahnhof Zoo.
Umsteigen überflüssig.
Weil schon am Wittenbergplatz.
In die so beruhigende U-Bahn 2 nach Ruhleben.
Wenn da der Halt Bahnhof Zoo nicht wäre.
Eine Sekunde Zögern, dann noch Rausspringen.
Drei irgendwie Uniformierte auf dem belebten U-Bahn-Steig und ein Hund, der an Hannibal-Lecter aus dem Film,
wie hieß er noch,
na, Ihr wißt schon,
erinnerte.
Wegen seines Maulkorbs.
Der war großräumig und aus Gitter.

FEM konnte nicht umhin -mußte aussteigen, rausspringen,
und sich locker-beiläufig-angelegentlich der Truppe mit dem so verbarrikadierten Hund nähern.

Die Hundeführerin war eine Frau.

„Leidet der Hund denn nicht, sicher ne Hündin, so wie det Tier aussieht?“
fragte Eure FEM, naiv, wie sie nun-mal-so-ist.

moment – mal saven. Falls Ihr gerade eingeschaltet habt, und die Zigarrette, ja, sorry, anzünden.

Bleibt doch bitte, gleich zurück!
(Uhrenvergleich: genau 0:41 Uhr Sommerzeit Berlin).

Schon um 0:49 Uhr wieder hier zurück.
Zigarrette nicht angezündet.

Noch ehe die Frau mit dem Hund, einem graumelierten Schäferhundmischling, leicht angefettet, antworten kann –

springt ein Typ sie fast an,
brüllt ihr ins Gesicht –
„Und jetzt hab ich die Bahn verpasst!
Weil die Arschlöcher mich so gefilzt-kontrolliert-habn!
Scheiß BVG !“
Die Frau mit dem Hund und ihre zwei Begleiter sagen nichts.
Der Mann brüllt immer weiter.
Dann stößt er noch einen Fluch aus und verzieht sich.

„Ja, der Hund ist gefährlich,“ antwortet jetzt die Frau lässig.
„Nervosität und so, bei dem Lärm und Krach hier, oder?“
nickt FEM solidarisch und weiß eigentlich auch nicht,
was sie will und was sie erwarten will.

Kein Nachdenken, erst recht der psychoanalytischen Art, keine Zeit –
denn der nächste Frustrierte brüllt die drei Menschen an, weil sie ne Uniform tragen und den Hund mit dem unübersehbaren Metall-Beißhemmer vor den Lefzen.

„Scheiße“ ist das Wort, daß in der Wortkaskade irgendwie immer-wieder.

Wieder sagen die Uniformierten nichts.
Und der Hund auch nichts.
Kann der überhaupt mit Maulkorb bellen?

„Wo krieg ich denn hier Zigarretten?“
fragt FEM jetzt mal.
Um nicht zu blöd nur herumzustehen.

Geradeaus, dann links und dann…ja danke!
Aber FEM sieht direkt halblinks geradeaus eine Art Laden-Büdchen –
also nicht nötig hoch in den Haupt-Hauptbahnhof Zoo zu steigen – .

Reisebedarf und so, steht auf der Überschrift, nee, der, wie heißt das noch?
na, Ihr wißt ja schon,vor allem die, die auch auf der Vernissage waren.

Gut.
Drinnen wollten drei fette junge Typen lauter kleine Süßigkeiten.
Die ältere Frau und der ältere Mann, sicher ihr Beschützer,
wechseln einen blitzartigen Augenblitz.
Nein, es heißt anders.
„Sie wechseln einen Blick“.
Genau.
Freundlich bleibt die Frau.
Sehr, sehr, sehr freundlich.

Die drei gehen wieder.
„Was los hier,heute Abend, oder?“
fragt FEM naiv-angelegentlich.

„Neee, wie immer!
Die sind hier immer krass drauf!
Egal, ob am Tag oder nachts!“
„Wirklich?“ echot Eure Fem völlig-ungläubig-naiv.

„Ja, hier lässt jeder seinen Frust ab. Scheiß-Pflaster!“„Ist doch ne tolle Stadt, oder?“
flötet FEM.

„Scheiß-Pflaster!“
so die Wiederholung.
FEM murmelt –
„Bin neu hier, finde es toll hier!“

Der Mann brummt was von „blind-oder-wie?“

Na, FEM bezahlt die Zigarretten, denkt an den Aushang in Kreuzberg, was alles amerikanische Produkte sind, die man nicht mehr kaufen soll („auch Penatencreme, wer hätte-das-ja-jemals-gedacht-und einiges aus diesen Bereichen und auch Milka. Wieso Milka? Ist das nicht noch ?
Na , egal)

MAL SAVEN, mombi und einen Schluck frische Luft! Bleibt bloß dran!

Ja, 1:11 Uhr Sommerzeit und schon wieder zurück.
Es tut gut, Mineralwasser im Haus zu haben.
Eineinhalb-Liter-für-35-Cent.
Revolutionär!

Gut.
FEM steckt die Zigarretten ein.
In dem Laden-Büdchen irgendwo unter der Erde im Bahn-Gewimmel der U-Bahnen und nickt freundlich-solidarisch und geht .

Zurück zum Bahnsteig der U-Bahn-Linie 2
Die mit dem Hund, die sind weg.

Irgendwie wirkt es leerer.

5 in der Erde festverankerte Plastikstühle.
Das Leuchtschild sagt, die nächste U-2 kommt in 4 Minuten.
Dein Auge fällt, irgendwie zwangsläufig, auf die Plastikstühle.
Vielleicht, weil du Dich setzen wolltest.
Du setzt Dich auch.
Und siehst drei Sitze weiter entfernt von Dir erst die Plastiktüten, dann den dazugehörigen Menschen.

Du siehst eigentlich erst einmal nur die Hände.
Die aus einer der drei überquellenden Plastiktüten etwas herausholen.
Papier.
So etwas wie Schriftstücke.

Die Hände versuchen, das Papier, das aussieht, wie ein offizielles Papier, auseinanderzufalten.
Die Hände falten das Papier auseinander.

Dein Blick wandert nun automatisch die Hände hoch bis zum Kopf.
Du siehst, dass Du den Kopf nicht siehst.
Der Kopf und auch das Gesicht sind nicht sichtbar.
Die Mütze und das Haar und der so tief herabgezogene Kopf –
dieser Mensch ist unsichtbar.

Du siehst wieder die Hände, die das Schriftstück-Papier wieder in eine der drei Plastiktüten zurückdrängen.

Dann siehst Du, wie der Kopf der unsichtbaren Person noch tiefer hängt.
Fast auf den Knien.

Und Du siehst, wie eine Hand an der dunklen Hose zupft,
als wolle sie eine Fluse entfernen.

Und in der Sekunde weißt Du – DAS ist eine Frau.
Einfach weiblich.

Und Du kannst nicht mehr Dich bremsen –
du weißt irgendwo in Deinem Innern, daß Du viel riskierst,
aber, Du kannst nicht mehr innehalten,
nur Deine eigenen Hände sind so vorsichtig, als wüßten sie –
sie berühren die fremde Person zart-sacht an deren Schulter.

Und das Befürchtete geschieht:

Der Mensch richtet sich auf, will um sich schlagen, formuliert – „Lass mich in Ruh!“

Und sieht hoch.
Dir in die Augen.
Und Du in diese Augen.

Und Du blickst in helle gute Augen unter silberweißem Haar,
und Du weißt, die Frau, sie kann Deine Großmutter sein.

Und Du sagst, entschuldigend,
denn sie hat ja nicht gebettelt, nicht, ganz und gar nicht –
bitte, bitte, DARF ich Ihnen ein paar kleine Euros schenken, bitte?“
Und sie sagt –
weder betrunken noch benommen – „nicht mehr als 2 Euro! Das wäre sonst zu viel!“

„Wieso?“ fragst Du schnell,
„dafür gibt es ja noch kein Essen, nicht mal ein belegtes Brötchen, hier am Bahnhof?“
Und du setzt hinzu, ohne es zu merken –
„Wo, wo schlafen Sie denn?
Müssen Sie hier auf der Bank die Nacht verbringen?“
Und die alte Frau beruhigt Dich…
„Ich habe einen Platz! Ja. Wirklich. Wirklich!“
Sie läßt sich von Dir vorsichtig umarmen und Du weißt, daß Du all die Bilder aus den Krimis vor Dir siehst,
in denen die Unberührbaren nicht ohne diese dünnen Gummihandschuhe berührt, angefasst werden.

Die Frau lächelt Dich an.

Und Du fragst Dich,
nach der ja wirklich, ja wirklich so fabelhaften Vernissage, deren Erlös für einen wirklich nein, wirklich nötigen und guten Zweck –

und Du fragst Dich – was ist los, was ist passiert, daß diese Frau,
mit diesen hellen, klaren Augen, und diesem guten Gesicht –
mit ihrer Habe, drei überquellenden Plastiktüten, nachts am Bahnhof Zoo sitzt, am Bahnsteig der U-Bahnlinie 2 .