Nachtfahrt

NACHTFAHRT : Szenische Geschichte mit Fortsetzung.

Von:fem/kimberly/eingesetzt: 27.1.2003

SZENE 1

KLEINSTADTBAHNHOF/NACHMITTAG/REGINE LÖST HASTIG EINE KARTE AUS DEM AUTOMATEN/WENIGE WARTENDE/

DER ZUG FÄHRT EIN/REGINE STEIGT FAST ZEITGLEICH MIT EINER ANDEREN FRAU EIN/ ENTSCHULDIGEND LÄSST REGINE DER ANDEREN FRAU DEN VORTRITT.

JAHRESZEIT:

Dezember. Kurz vorWeihnachten. Kein Schnee. Der Himmel ist grau. Die Luft wirkt feucht. Beladen. Wie kurz vor Schneefall.
SZENE 2

REGINE UND DIE ANDERE FRAU SETZEN SICH IM FAST LEEREN ABTEIL DES REGIONALZUGS BEINAH WIE VERABREDET GEGENÜBER. DIE ANDERE FRAU LÄCHELT:

ANDERE FRAU, lächelnd:

„Na, wenigstens ist der Zug heute pünktlich!“

REGINE, bemüht um ein Lächeln:

„Ja..“

ANDERE FRAU:

„Fahren Sie weit?“

REGINE:

„Nein.“

– 2 –

ANDERE FRAU:

„Entschuldigen Sie…….“

REGINE:

„Nein – ich bin nur – sonst bin ich auch – also –

REGINE SCHAUT ZUM FENSTER HINAUS, DAMIT DIE FREMDE FRAU DIE TRÄNEN IN IHREN AUGEN NICHT SIEHT:

REGINE:

„Ich muß zu einer Mammographie – “

ANDERE FRAU beugt sich spontan vor –

„Das kenne ich auch….oh…aber selbst wenn…wissen Sie …“

REGINE NICKT, wortlos, unter Tränen.

WISCHT SICH MIT DEM HANDRÜCKEN DIE TRÄNEN AB.

REGINE:

„In der Universitätsstadt soll es ……..soll es eine gute – Ärztin, RÖNTGENÄRZTIN …geben. Mein Gynäkologe …meinte, eine Frau sei sicher besser für mich….falls…..und —– es scheint ziemlich sicher…daß…die rechte Brust…

SCHWEIGEN.

DRAUSSEN WIRD ES DÄMMRIG.

REGINE, bemüht:

„Und wohin fahren Sie?“

ANDERE FRAU :

„Ach, – ziemlich weit…ich arbeite in der Kleinstadt an einer Schule und fahre jetzt über Weihnachten zu meinem Mann – der – wir wohnen weiter weg von hier…ich komme erst spät abends an, wenn die Anschlußzüge klappen…“

3-

REGINE nickt. Und schluckt.

ANDERE FRAU:

„Sie hätten nicht allein fahren sollen. Zu so einem Termin…“

REGINE:

„Ach, darüber hab ich gar nicht nachgedacht. Ich bin nicht so ängstlich, wissen Sie…aber jetzt…

ANDERE FRAU:

„Schade, daß ich so verabredet bin, und so abhängig von den Zügen – ich würde Sie sonst begleiten!“

REGINE lächelt dünn –

„Wirke ich so – einsam…?“

ANDERE FRAU:

„Hatten Sie denn niemand, der mit Ihnen – “

REGINE:

„Nein, eigentlich nicht…“

REGINE RICHTET SICH IN IHREM SITZ GERADE AUF UND SAGT:

„Ich glaube, ich bin völlig unwichtig geworden. Irgendwann…um nicht zu sagen – ÜBERFLÜSSIG…“

ANDERE FRAU:

„Bestimmt NICHT! Man glaubt das manchmal…aber so ist es nicht.

Jeder Mensch ist wichtig. Jeder einzelne.

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REGINE lächelt verloren –

„Mich braucht niemand mehr…die Kinder nicht, der Mann nicht…und arbeitslos bin ich auch……“

REGINE bricht ab – und fährt fort –

„Die Träume – ich weiß nicht, manchmal denke ich, es war all der Übermut…daß ich zu lange dachte, alles geht gut…oder wird wieder gut…und die Zeit verstrich…ohne daß ich mir darüber Gedanken machte..und jetzt…oder –

vielleicht hab ich irgendwann, an einer einzigen wichtigen Lebenskreuzung – den falschen Weg eingeschlagen…und jetzt sitze ich in der Falle…komm nicht wieder raus..“

DER ZUG BEGINNT LAUTSTARK ZU BREMSEN.

REGINE steht auf –

„Entschuldigen Sie – daß ich Sie – und – vielen Dank…Sie waren so…ich glaube, Sie sind eine gute Freundin…schade, daß wir uns nicht früher ….“

REGINE will ihre Jacke zuknöpfen, aber sie ist zugeknöpft.

REGINE presst ihre grosse Handtasche – an sich – versucht noch ein Lächeln und sagt –

„Auf-Wieder-sehen…“

NOCH WÄHREND REGINE DIE ABTEILTÜR ÖFFNET – DREHT SIE SICH WIEDER UM :

„Man sagt das immer so dahin – „Aufwiedersehen…“

ANDERE FRAU:

„Es wird schon gutgehen. Und selbst wenn es ein Knoten ist…so schnell …so schnell stirbt es sich nicht…denken Sie daran…bitte…und – hier – !“

ANDERE FRAU REICHT REGINE RASCH EINE VISITENKARTE:

„Rufen Sie mich doch einmal an…wie es ausgegangen ist.., versprochen?“

– 5

REGINE NICKT und eilt hastig aus dem Abteil.

SZENE 3

REGINE bleibt noch kurz auf dem Bahnhof der größeren Stadt stehen und winkt der fremden Frau nach. Die fremde Frau winkt zurück.

SZENE 4

BAHNHOFSVORPLATZ. DER TAXISTAND IST LEER.

REGINE stürzt in den Zeitungs-Kiosk-Laden, aufgelöst:

„Ich brauche dringend ein Taxi. Ich habe einen so wichtigen Termin.

Und es ist Freitagnachmittag….ich MUSS diesen Termin….“

VERKÄUFER:

„Ja, wie Sie schon sagten – es ist Freitagnachmittag. Und der letzte vor Weihnachten. Und Weihnachstsmarkt in der Stadt…haben Sie denn kein Handy?“

REGINE:

„Zu Hause liegengelassen…“

VERKÄUFER:

„Es wird schon bald ein Taxi kommen…Bestimmt.

REGINE:

„ACH BITTE – Sie kennen sich hier doch bestimmt aus, ich bin fremd – haben Sie nicht die Nummer der Taxizentrale…?“

VERKÄUFER:

„Wo müssen Sie denn hin?“

REGINE:

„Eine Adresse in der Altstadt – “

VERKÄUFER:

Na gut…weil Sie es sind…

VERKÄUFER ZÜCKT SEIN HANDY :

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„Ja – hier steht eine Dame verzweifelt am Bahnhof…kein Taxi…wie lange dauert es denn noch? Ja? Ach so, ja…gut…Danke.“

VERKÄUFER:

„Sie versuchen es…aber es dauert noch mindestens eine Viertelstunde…“

REGINE – schaut auf ihre Armbanduhr…mit allem Ausdruck von Verzweiflung..

VERKÄUFER , freundlich :

„Na, es wird schon nicht Ihr Lebendavon abhängen, wenn Sie ein paar Minuten zu spät kommen, oder…?“

REGINE lächelt tapfer

„Wer weiß…wissen Sie ich kaufe eine Zeitung……..“

REGINE greift nach einer Frauenzeitschrift. Der Titel:

„WIE IHR FEST NOCH SCHÖNER WIRD“.

REGINE STARRT AUF DEN TITEL UND ROLLT DIE ZEITSCHRIFT ZUSAMMEN.

Sie zahlt.

VERKÄUFER:

„Und viel Erfolg noch. Bei Ihrem wichtigen Termin!!

Wenn es Ihnen draußen zu kalt wird, kommen Sie einfach wieder rein!“

REGINE dankbar:

„Danke, vielen Dank, auch für den Anruf!“

VERKÄUFER, aufgeräumt:

„Ach, für so eine nette Frau wie Sie doch immer…!“

REGINE STARRT IHN KURZ AN…denkt rechtzeitig daran, zu lächeln…sagte noch einmal –

– 7 –

„DANKE!“

und verlässt den Laden.

AUF DEM BAHNHOFSVORPLATZ IST ES ZUGIG.

REGINE HÄLT MIT EINER HAND DEN KRAGEN IHRER JACKE VOR DEM HALS ZUSAMMEN. SIE MURMELT :

„Den Schal hab ich auch vergessen…“

REGINE BETRACHTET DIE ZEITSCHRIFT IN IHRER HAND….rollt sie wieder zusammen und sucht in ihrer Handtasche nach einer Zigarette. Sie findet das Feuerzeug nicht. Sie legt die Zeitschrift auf den Boden, und wühlt in ihrer Handtasche. Vergebens.

In ihrer Nähe stehen zwei ältere Frauen.

REGINE:

„Haben Sie vielleicht Feuer für mich?“

EINE DER FRAUEN:

„NEIN, wir rauchen nicht, tut mir leid…“

SZENE 5

EIN TAXI KOMMT.

REGINE STÜRZT ZUM TAXI.

DIE BEIDEN ANDEREN FRAUEN AUCH.

„Wir hatten dieses Taxi bestellt!“

sagt die eine der beiden Frauen.

REGINE: „ICH AUCH! IM ZEITUNGSKIOSK; DORT !“

KÖNNEN WIR NICHT ZUSAMMENFAHREN???

BITTE! ICH HABE SO EINEN WICHTIGEN TERMIN UND BIN SCHON SO SPÄT…NACHHER IST DIE ÄRZTIN WEG UND ICH BIN UMSONST..“

DIE BEIDEN FRAUEN –

„Oh – Ärztin..dringend?“

REGINE : nickt.

DIE BEIDEN FRAUEN:

„Ja – dann! Wo denn?“

REGINE –

In die Altstadt…

(Fortsetzung folgt. Start am 27. 1.03)