Der Tag, an dem Olaf sich an den Flügel setzte

Die hellen Stoff-Jalousien waren herabgelassen. Draußen Sommer.

August.

Das Zimmer hinter den Jalousien wirkte verschwiegen und auf unerklärliche Weise morbid.

Nein, vielleicht eher obszön.

Nein, nicht das Zimmer.

Die Atmosphäre.

Ein Hauch von unbeabsichtigter Obszönität, selbstverständlich.

Denn wir standen in einem fremden Zimmer.

Wir standen in einem Wohnzimmer, dessen Bewohner verreist waren.
Wir blickten in ein Leben, das nicht das unsrige war.

Und auch wir beide, Olaf und ich, kannten uns kaum.

Wir hatte uns auf einer Party irgendwo auf dem Land kennengelernt.

Und eine ganze Nacht lang Tango miteinander getanzt.

Eigentlich kennt man sich dann.

Jedenfalls weiß man dann schon sehr viel voneinander.

Ohne miteinander reden zu müssen.

Ich war allein in diesem Sommer.

Olaf hatte den Portwein auf der Anrichte entdeckt.

„Komm, wir trinken Portwein,“ sagte Olaf.

„Mir ist danach: Portwein am frühen Nachmittag im Sommer, hinter herabgelassenen Jalousien, in einem Haus, das wir nicht kennen, vor einem zauberschneeweißen Flügel…komm, lass uns trinken…bis wir alles vergessen. Der Portwein-Rausch ist der allerbeste..“

Olaf und ich hatten uns ein paar mal verabredet. Fuhren hinaus ans Meer. Liefen herum.

Schwiegen. Sahen den Möwen zu. Legten uns in den Sand. Wir badeten nie. Wir starrten in den Himmel oder blickten hinaus aufs Meer und schwiegen. Manchmal legte Olaf seinen Hand auf meinen Arm, als wolle er etwas sagen. Und wir liefen weiter. Ziellos. Wir ließen uns treiben. Manchmal sprang ich bis zu den Knöcheln in die Brandung, mein Kleid mit der einen Hand raffend, in der anderen Hand meine leichten Segelschuhe…aber ich ließ es bald wieder sein. Diese Gesten waren aufgesetzt. Sie hätten heiter wirken können. Aber sie waren nicht heiter.

Der Port war gut und schwer und süß. Ich spürte ihn sofort in mein Blut übergehen.

Olaf hob sein Glas, sah mich mit seinen hellen Augen an und sagte trocken:

„Auf die Einsamkeit. Es gibt nichts Ehrlicheres!“

Unsere Gläser vibrierten beim Anstoßen.

„Edles Zeug, der Stoff“, bemerkte Olaf lässig.

„Deine Freunde haben einen gediegenen Geschmack.“

„Ja!“ nickte ich. „Ja.“

„Wir trinken die Flasche leer..“ sagte Olaf.

„Ich besorge Ersatz. Wir haben doch heute nichts mehr zu tun.“

„Ja.“ Sagte ich. „Ja. Das ist eine gute Idee.“

Es war aufregend, an einem schwülen, trägen Augustnachmittag hinter herabgelassenen Jalousien in einem fremden Zimmer mit Olaf Portwein zu trinken.

Wir saßen nebeneinander auf der taubenblauen Biedermeiercouch wie von einem Fotografen arrangiert. Olaf blickte mich an. Ich wußte nicht, was er dachte. Ob an das Schiff, das er reparierte oder an mich oder an seine Kinder, die bei seinen verschiedenen Frauen von früher lebten oder an mich, ich wußte es nicht. Es war mir gleichgültig. Ich brauchte nicht zu wissen, was er dachte. Er war da. Einen halben Nachmittag lang. Mein Freund. Mein fremder Freund. Den ich kannte, weil wir Tango miteinander getanzt hatten. Eine Nacht lang.

Ich stand auf, stellte das Portweinglas vorsichtig auf dem Flügel ab und klimperte spielerisch mit einem Finger über die Tasten.

Olaf kam von der Biedermeiercouch herüber zu mir, setzte sich auf den Klavierschemel und legte seine Hände ruhig auf die Tasten den Flügels. Ich lehnte in der Biegung des Flügels und wußte nicht wohin mit meinen Händen. Mein Portweinglas stand etwas zu weit von mir auf der weiten Fläche des Flügels.

Olaf warf mir einen Blick zu und begann zu spielen.

Es überraschte mich eigentlich nicht, daß Olaf Klavier spielen konnte.

Und er begann zu singen…:

„When I lost my Baby….“

Olafs unerwartet warme, weiche, schmachtende Stimme umfing mich…ich spürte jene lange durch die Zeitalter von Rationalität und zusammengepressten Lippen vergessene Sehnsucht jener Herbstnächte meiner Jugend in mir aufsteigen….die frühe Dunkelheit…der modrige Geruch verwelkter Blätter…die langen Spaziergänge….und all die Träume, die Träume und die Hoffnung, doch an jenem Abend vielleicht „Jenem“ zu begegnen, weil ich seinen Weg kannte, „Jenem“, der mein Herz höher schlagen ließ, ohne, daß er davon wußte. Ein Blick von ihm allein genügte, und schwärmerische, idealistische Welten öffneten sich…ach, er hat mich angeschaut…heiß und kalt lief es über die Seele und das Gesicht. Ob er etwas gemerkt hatte?

Zurückgekehrt nach Hause, ins helle Licht der Wohnstube, wurde tadelnd gefragt, wieso ich so spät zurückgekehrt sei….die Antwort war der Versuch, ein entrücktes Lächeln zu verstecken , und die Ausrede, eine Freundin getroffen zu haben.

Olaf sang..von den Blueberry Hills…

Die Gedichte fielen mir ein, von denen der Adressat nie und nimmer geahnt hatte, ebensowenig wie von meinem sehnlichsten Wunsch – ihm zu begegnen. Wir haben uns nie persönlich kennengelernt. Aber ich träumte einen ganzen Winter lang von ihm.

Olaf hatte aufgehört zu spielen.

Er stand auf.

„Ich muß jetzt gehen“, sagte er.

„Ja,“ antwortete ich. „Ja“.

„Ich komme wieder“, sagte Olaf.

„Ich weiß…“ antwortete ich.

„Bis zum Herbst habe ich Dir eine Wiege besorgt“, sagte Olaf.

Ich lächelte. Ja, ich erwartete mein geliebtes, unbekanntes Kind.

Ich hielt mein Glas Port wieder in der Hand.

Ich reichte Olaf meine Wange zum Hauch von einem Kuß hin.

Und Olaf ging und ich blieb allein, mit dem Glas Port in der Hand, hinter herabgelassenen Jalousien, an einem augustschwülen Tag, in einem Raum, der mir fremd war.

Ich stellte das Glas vorsichtig ab und zog meinen Ehering vom Finger. Legte ihn neben das leere Glas.

Olaf würde wiederkommen. Ich wußte es. Mein Mann nicht. Das wußte ich auch.

Von : Florence