PRESSE-SCHAU: Claude Lévi-Strauss ist tot.

PRESSE-SCHAU: welt-online.de
Nachruf

Claude Lévi-Strauss – Der Wilde unter den Denkern

(1) Von Wolf Lepenies 3. November 2009, 19:00 Uhr

Er trennte „kalte“ und „heiße“ Gesellschaften voneinander, „primitive“ Völker gab es für ihn nicht. Der verstorbene Claude Lévi-Strauss galt als einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts. Er war davon überzeugt war, dass sich im Vergleich der Kulturen die Unterschiede ähneln, nicht die Ähnlichkeiten.

Der Franzose Claude Lévi-Strauss war einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts. Er starb im Alter von 100 Jahren.

Claude Lévi-Strauss wurde sechs Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs geboren. 1939 kehrte er von einer Expedition in das Amazonasgebiet Zentralbrasiliens nach Frankreich zurück, um dort seinen Militärdienst abzuleisten. Auf der Flucht vor dem Vichy-Regime kam Lévi-Strauss im Frühjahr 1941 nach New York – einer seiner Mitpassagiere war der Surréalist André Breton.

Leben

Claude Lévi-Strauss

Geboren am 28. November 1908 als Sohn französischer Eltern in Brüssel. Er studierte in Paris Jura und Philosophie, wurde 1935 als Soziologie-Professor nach São Paulo berufen und unternahm Expeditionen ins Amazonasgebiet, wo er das „wilde Denken“ der „Naturvölker“ erforschte. 1941 Flucht von Frankreich in die USA. Ab 1949 in Paris Museumsdirektor und Professor bis 1982.

Lévi-Strauss folgte einer Einladung der Rockefeller Foundation; er lehrte an der New School for Social Research, einem intellektuellen Zentrum der europäischen Emigration in den Vereinigten Staaten. Die Fakultät verlangte von ihm, seinen Namen abzukürzen. Lévi-Strauss – das waren Jeans, die Studenten würden darüber lachen. Claude L.-Strauss blieb sechs Jahre in New York. Als er 1947 nach Paris zurückkehrte, trug er das Manuskript eines ethnologischen Hauptwerkes mit sich: „Les structures élémentaires de la parenté“

Mit Skepsis blickte Claude Lévi-Strauss, wie er nunmehr wieder hieß, auf Gesellschaften, die an die Geschichte glauben und vom Fortschritt träumen. Seine Sympathie galt dem Urmenschen, nicht der Spätkultur. Zugleich war der Ethnologe Lévi-Strauss ein Aufklärer, der davon überzeugt war, dass sich im Vergleich der Kulturen die Unterschiede ähneln, nicht die Ähnlichkeiten.

Das Denken der „Wilden“ besaß für ihn eine besondere Rationalität und die Exotik fand er im Zentrum der Moderne. Ein Vorbild für Lévi-Strauss war der Indianer, der gleichgültig vor den Wolkenkratzern von Manhattan stand und den tosenden Verkehr kaum zur Kenntnis nahm: „Seine intellektuelle Neugier galt allein den Zwergen, den Riesen und den bärtigen Frauen, die damals auf dem Times Square zur Schau gestellt wurden, den Automaten, die Fertiggerichte ausspuckten, und den Messingkugeln, welche die Treppengeländer zierten.“

Als 1949 „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ in Frankreich erschien, der Fanfarenstoß des Strukturalismus, besorgte Simone de Beauvoir sich die Druckfahnen des Buches, um es bei Erscheinen sofort in den „Temps Modernes“ rezensieren zu können. Lévi-Strauss galt als ein Brückenbauer: er setzte die Tradition der französischen Durkheim-Schule fort und verband sie mit den Ergebnissen der amerikanischen Soziologie. Dabei schien er von metaphysischen Neigungen wie von einem ahistorischen Vertrauen in die Empirie gleich weit entfernt.

mehr Bilder

Große Denker

Die wichtigsten Philosophen

Karl Marx

Der Philosoph mit der größten Wirkung

Aus dem Interesse aber wurde Missfallen: Die Existentialisten sahen sich auf einmal einer Philosophie ohne Subjekt gegenüber. Sartre nannte die Bevorzugung der Strukturen einen logischen Skandal. So kam durch einen frechen Theoretiker des Unveränderlichen Bewegung in die französische Geistespolitik.

Im Pariser Intellektuellenkonzert wetteiferten stets die ersten Geigen miteinander – ob sie nun Louis Althusser, Roland Barthes, Jacques Lacan, Michel Foucault, Jacques Derrida oder Pierre Bourdieu hießen. Was immer sie aber seit den fünfziger Jahren auch spielten, im Hintergrund hörte man stets den basso continuo des Strukturalismus, den Claude Lévi-Strauss komponiert hatte.

Dabei sah Lévi-Strauss sich selbst nicht als einen Revolutionär, sondern als den Bewahrer einer Tradition. Deutlich zeigte sich dies an einem Zahlenspiel, das er sehr ernst nahm. 1958 beschloss das Collège de France, einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie einzurichten und besetzte ihn mit Lévi-Strauss.

Dies geschah genau fünfzig Jahre, nachdem James Frazer seine Antrittsvorlesung am ersten Lehrstuhl für Sozialanthropologie in Liverpool gehalten hatte und einhundert Jahre nach der Geburt von Franz Boas und Emile Durkheim, den Meistern eines Faches, dem Lévi-Strauss revolutionäre Impulse geben sollte.

Für ihn lag die Zukunft der Sozialwissenschaften in einer Modellanalyse menschlichen Verhaltens. Das Vorbild dafür lieferte die Linguistik, genauer gesagt die Phonologie. Sie analysiert die Sprache als eine Struktur von Gegensätzen, in der die einzelnen Teile nur durch das Verhältnis zu anderen Teilen ihre Bedeutung gewinnen. Diese Analyse lässt sich mathematisieren, und diese Exaktheit erklärt ihre Attraktivität für die Ethnologie.

Klassiker

Traurige Tropen

1955 erschien das Buch „Traurige Tropen“ mit dem berühmten ersten Satz: „Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende“. Lévi-Strauss beschrieb Sitten und Riten der Amazonas-Indianer und legte Denkstrukturen dar. Der Anthropologe verbindet dies mit der Kritik der Ausbeutung von Landschaft und Menschen.

Lévi-Strauss war dabei von Roman Jakobson beeinflusst, den er in New York kennen gelernt hatte. Nun richtete sich der linguistische Blick auf ein riesiges Untersuchungsfeld. Alle menschlichen Verhaltensweisen wurden für Lévi-Strauss zu Zeichen in einem Kommunikationssystem.

Kultur ist Syntax. In den Verwandtschaftssystemen werden die Frauen getauscht wie in der Sprache die Informationen und in den ökonomischen Beziehungen die Güter und Dienstleistungen. Alle Formen des Tausches lassen sich miteinander kombinieren.

Ist das Prinzip dieser Kombinationen erst einmal erkannt, kann beispielsweise die Familienorganisation eines Stammes aus anderen Daten logisch erschlossen werden, bevor der Ethnologe ein Mitglied dieses Stammes überhaupt zu Gesicht bekommen hat.

Der Strukturalismus war für Lévi-Strauss ein Versuch, „zwischen dem Sinnlichen und dem Ideellen“ Brücken zu schlagen. Während andere sich dabei von ihrer Intuition leiten ließen, glaubte Lévi-Strauss auf dem Boden einer Theorie zu stehen, die fest in der Wirklichkeit alles Lebendigen verankert war.

Der binäre Code beispielsweise, der den Siegeszug des Computers erst möglich machte, findet sich in der Natur: In der zirpenden Kommunikation der Grillen ist er voll entwickelt. Und die Stereochemie reduziert die uns unendlich erscheinende Skala der Gerüche auf sieben, aus denen in vielfältigen Kombinationen der „Geruch der Rose, der Nelke, der Birne oder des Fisches“ entstehen.

Mit den „Elementaren Strukturen“ hatte Lévi-Strauss sein Gesellenstück geliefert. 1955 schilderte „Traurige Tropen“ den Weg des Ethnologen als Bildungsroman: Bei den Indianern am Amazonas hatte Lévi-Strauss seine pädagogische Provinz gefunden.

Der erste Band der „Strukturalen Anthropologie“ (1958) formulierte das Arbeitsprogramm eines Meisters. Vier Jahre später zeigte Lévi-Strauss im „Wilden Denken“, welche polemische Kraft in einer Theorie steckte, die sich der zeitlosen Mathematik mehr verpflichtet fühlte als einer aktuellen Ideologie.

Weiterführende Links

Philosoph Claude Lévi-Strauss gestorben

Mythen & Tropen! 100 Jahre Claude Lévi-Strauss

Luhmann lesen ist wie Techno zu hören

Der schlimme Fluch des Hauses Wittgenstein

Was wirklich von Karl Marx übrig bleibt

Die Coolness der Geisteswissenschaften

„Ich verabscheue Reisen“ – Claude Lévi-Strauss

Die traurigen Tropen liegen jetzt in Berlin

Die Romantik gab’s nicht nur in Deutschland Die vier Bände der „Mythologica“ schließlich, von 1964 bis 1971 erschienen, waren der titanische Versuch, der Welt der Mythen eine durchlaufende Struktur zu geben. Es war bezeichnend, dass Victor Hugo, der Verfasser der „Légende des Siècles“, zu den Motto-Gebern der vier großen Bände zählte. Die Publikationen, die danach folgten, bildeten Variationen zu einem Thema, das in seinen Grundzügen ausgearbeitet war.

Fachethnologen haben die Stimmigkeit der Mythen-Deutungen von Lévi-Strauss in Zweifel gezogen. Der ästhetische Reiz seiner Bücher wurde dadurch nicht geringer. Sie verselbständigten sich ihrem Autor gegenüber in einer Weise, die das Kennzeichen des Kunstwerkes ausmacht. Lévi-Strauss selbst hat seine „Schubladenmythen“ mit der literarischen Gattung des Fortsetzungsromans verglichen.

Er hatte mit den „Traurigen Tropen“ keinesfalls Abschied von der Literatur genommen. Der Ethno-Romancier wurde zum Kriminalautor der Mythenwelt. Die Analysen, mit denen die verborgenen Beziehungen zwischen Mythen aufgedeckt wurden, die beim ersten Verhör angeblich nichts miteinander zu tun hatten, gewannen die kalte Strenge eines lückenlosen Indizienbeweises. Kapitelüberschriften lauteten: „Das Geheimnis der zerstückelten Frau“ und „Am Ort des Verbrechens“.

Seiner eigenen binären Logik folgend, trennte Claude Lévi-Strauss „kalte“ und „heiße“ Gesellschaften voneinander, die sich durch ihre Tempi voneinander unterschieden: Jagten sich in diesen die Ereignisse, so fehlten sie in jenen fast völlig. Im „Wilden Denken“ analysierte Lévi-Strauss die Gesellschaften mit stationärer Geschichte. Sie waren alles andere als „primitiv“.

Claude Lévi-Strauss ist ein Mitgründer der Philosophie des Strukturalismus. 1962 erschien sein einflussreicher Essay „Wildes Denken“. Ab 1964 erschienen in vier Bänden die „Mythologica“ mit so tollen Titeln wie „Das Rohe und das Ungekochte“.

Mit komplexen analytischen Fähigkeiten ausgestattet, war für ihre Mitglieder die „Bastelei“ (bricolage) charakteristisch, ein tastendes, Umwege machendes, experimentierendes Handeln, das sich mit den Gegenständen einer engen Welt zufrieden geben musste und nur mit ihnen rechnen konnte. Es entstand eine kaleidoskopartige Logik, die sich Abwechslung durch das Neu-Arrangement der immer gleichen Teile verschaffte.

Nirgends zeigte sich deutlicher als hier die Wahlverwandtschaft zwischen dem Ethnologen und seinem Gegenstand. Der dritte Band der „Mythologica“ trägt den Titel „Der Ursprung der Tischsitten“. Es handelt sich, von Lévi-Strauss selbst ironisch so genannt, um eine „kulinarische Ethnologie“, die Delikatessen bereithält, die den Gourmet im Leser entzücken.

Liest man sie heute wieder, merkt man, wie viele Autoren die Rezepte von Lévi-Strauss nachgekocht haben. Wenn er etwa im Anschluss an Brillat-Savarin erklärt, warum Professoren kein Suppenfleisch essen, sind die Habitus-Analysen Pierre Bourdieus vorweggenommen. Lévi-Strauss, dieser scharfsichtige Beobachter, beherrschte auch die Kunst des Augenzwinkerns.

„Das Rohe und das Gekochte“, der erste Band der „Mythologica“, ist der Musik gewidmet. Die Tetralogie des Claude Lévi-Strauss endet ebenso wie die Richard Wagners in einer Götterdämmerung, in welcher das Universum, die Natur und der Mensch, „die im Lauf von Tausenden, Millionen, Milliarden von Jahren alles in allem nichts anderes getan haben, als nach Art eines weiten mythologischen Systems die Hilfsmittel ihrer Kombinatorik zu entfalten“, sich zurückbilden und „in der Evidenz ihrer Hinfälligkeit ins Nichts zurücksinken.“

Themen

Claude Lévi-Strauss Mythen Anthropologie Danken Philosophie Traurige Tropen Paris Am 28. November 2008 feierte Frankreich den 100. Geburtstag eines intellektuellen Nationalhelden. Im Juni 2009 verlieh ihm die Smithsonian Institution in Washington ihre Ehremedaille. Claude Lévi-Strauss ist in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November gestorben.