Cordt Schnibben/SPIEGEL
schrieb:
„Ich kann mich an kein Buch erinnern,
das mich so leiden ließ,
so aufregte,
so aufsog,
so anfüllte.“
Er hat recht.
Unsere Verluste.
Scheinbar tief verkrustet.
Mit jeder
Zeile
bricht sie
wieder auf.
Die verdrängte,
die zugemauerte,
die verbarrikadierte
Trauer.
Georg Diez zeichnet Lebensspuren nach.
Die seiner Mutter.
Die seines Vaters.
Seiner Großmutter.
Seine eigenen.
Und so geschieht es Dir.
Beim Lesen.
Die Spuren Deines Lebens..
die Fäden,
jener Spindel,
die als Symbol für „Leben“ gilt.
Die zerweinten Taschentücher
stapeln sich neben dem Buch.
du kannst es nicht
„in einem Atembzug“ lesen.
Oh – nein – bitte!
Erwartet keine Analyse!
Keine BE-SCHREIB-UNG.
Doch, du kannst „etwas“
beschreiben..
und schon sinkt die Feder wieder aus der Hand –
Diese ungeheure Trauer,
die dich erfasst,
diese nie zuvor gelesen-erlebte Präzision
der Darstellung
einer Verlorenheit,
Hilflosigkeit,
verstohlenen Zärtlichkeit,
des Kindes, wenngleich erwachsen,
als Zuschauer, Teilnehmender
und zugleich Außenstehender,
sich des Lebensglücks des Lebenden
schier Schämenden..
Wenn der Tod „alles einkreist“,
auch das eigene Leben.
Die Sterbende um ihre Demütigung
des Sterbens weiß,
wenn eine „starke Frau lernen muß,
schwach zu sein…“
Die sachte Sprache.
Wie geflüstert.
Um nicht zu erschrecken.
Die Behutsamkeit.
Die Ohnmacht.
Nicht sehen wollen, was du siehst.
Doch sehen wollen,
weil du es weißt.
Nein, als sie punktiert wird,
als ihre Lunge so voller Wasser,
da sitzt er am Ende des Raumes,
er ist da,
aber will ihr die Würde lassen,
dass er nicht zuschaut.
Die Glasklarheit.
Der letzten Bilder.
Das Wissen,
sie, die Mutter,
wird die Isar,
den lebendigen Fluß,
den eher heiteren Fluß,
im nächsten Sommer nicht mehr sehen.
Im Frühjahr schon nicht mehr.
Und auch nicht ihre Terrasse,
den kleinen Garten,
den sie so liebte.
Es sind die zentrierten Momente, wie eingefroren,
wie in die Seele hineinfotografiert.
Darf er ihr die Kissen zurechtrücken.
Er, der Sohn?
Seine Hand, fährt vorsichtig über ihr Haar –
Kinderhaar, dünn und zart.
Er stellt das Mineralwasser,
das besonders schonende,
aus dem Kasten auf einen Hocker,
damit sie sich nicht bücken muß,
die Mutter,
und sie trinkt zu wenig, viel zu wenig,
und isst auch viel zu wenig.
Nicht mal Pudding.
Die Chemo
hat die Geschmacksnerven zerstört.
Das Innere,
ihr Inneres,
wundgemacht.
Du zerbrichst an jeder Zeile.
Und es ist das Leben,
wie das Leben ist:
Der Sohn arbeitet und lebt in Berlin.
Die Mutter stirbt in München.
Sie war vor Ewigkeiten
aus der bürgerlichen,
aber standesgemäßen..
Enge Schwachhausens/Bremen
nach München gezogen.
So weit weg, wie es ging.
Der Sohn und seine Frau
erwarten ihr erstes Kind.
Die sterbende Mutter
kauft die gelben Söckchen,
im Rollstuhl,
vom Sohn geschoben,
in diesem Geschäft für Kindersachen.
In „ihrem“ Viertel, Glockenbachviertel.
Sie weiß,
dass es eine rosa Prinzessin wird,
ihre Enkelin,
ein Mädchen.
Auf jeden Fall.
Und der Tod wird nach hinten geschoben.
Ihre Enkelin will sie doch noch kennenlernen.
Es ist diese Nähe-Distanz,
die die Sterbenden von den Lebenden trennt,
und die Lebenden von den Sterbenden,
jedesmal einen Atemzug mehr,
und Zeit ist Gott
und Gott ist Zeit.
An Gott hat die Mutter längst nicht mehr geglaubt.
Die Mutter,
früher Kirchenmusikerin,
hat allem abgesagt,
nach der Scheidung vom Mann,
vor 30 Jahren,
er war Pfarrer.
Zaghaft..bricht auf,
was das Leben war…
und in dritter Generation nicht „echt“…
Was die Großmutter so wollte,
Standesbewußtsein,
verweigert die Tochter,
und hat doch einen Pfarrer geheiratet.
Später auf Familientherapeutin umgesattelt.
Von Familie hielt sie nichts.
Nester der Unterdrückung.
Als sie Georgs Vater getroffen hatte,
in der Schweiz,
da war das noch anders…
“ Sie lernte dort meinen Vater kennen,
der so aufgeschlossenwar,
und gewinnend und gut Englisch sprach,
weil er in Amerika studiert hatte,
sie gingen zurück nach Deutschland,
sie schrieben sich,
sie hatte Sehnsucht nach der heilen Familie,
die er,
so dachte sie,
anbieten konnte.
Und sie heirateten.“
Und danach der Satz:
„Wie sich eben aus Täuschungen
ein Leben formt.“
Der Sohn…,
was kann er …für sie tun,
und wie sie kleine Sätze sagt,
und wie sie gegen die Wand starrt.
Und wie sie ihre Sonnenbrille aufhat,
in ihrem Liegestuhl auf der Terrasse,
im kleinen Garten.
Ihre bunten Schals um den Hals.
Wie sie sagt:
„Das war ein schöner Nachmittag.“
Wenn er in der Tür steht,
wieder auf dem Weg zum Flugzeug,
zurück nach Berlin.
Und wie er sagt,
dass die Pflegerin gleich kommt.
Und am Morgen die beste Freundin.
Am Wochenende hat er den Geburtsübungskurs mit seiner Frau,
in Berlin.
Er kann nicht bleiben.
Nein, der Vater,
der seine frühere Frau
seit 30 Jahren nie mehr gesehen hat,
soll
„keinen letzten Blick“
auf die tote Mutter werfen dürfen.
Die Verwandten können sich nehmen,
aus der Wohnung,
was sie möchten.
Er hatte alles richtig machen wollen,
kein Sterben im Krankenhaus.
Die Mutter nahm selbst
die eigene Bettwäsche mit,
früher,
wenn sie verreiste.
Sie sollte nicht im fremden Geruch
eines Krankenhausbettes
sterben.
Und doch war er, der Sohn,
gerade woanders,
als sie starb,
die Mutter.
Er kommt zu spät.
Er ist allein mit der Leiche seiner Mutter in der Wohnung,
setzt sich auf den Boden,
steht auf,
spielt den Song,
der im CD-Player liegt,
„Home“, von Benjamin Biolay und Chiara Mastroianni,
setzt sich wieder auf den Boden,
neben ihrem Bett.
„Ich legte die Hand wieder auf ihre Wange
und ließ sie dort liegen,
ich nahm sie langsam weg und spürte,
wie die Haut etwas an meiner hängen blieb,,
als wolle sie mitkommen,
als wolle sie nicht weggehen“.
Er lässt eine Totenmaske von ihr anfertigen,
vom Maskenbildner der Münchner Kammerspiele.
„Die Frage blieb,
wer ich sein würde,
wenn sie ganz fort war.“
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Kiepenheuer & Witsch,
Köln, 204 Seiten,
16,95 Euro
P.S. Wie kann ein Mensch
so gut schreiben?
Es muß als genialisches Talent
mit in die Wiege
gelegt worden sein.
Diez schreibt als Autor für die SÜDDEUTSCHE.
Mit Stationen zuvor
bei der ZEIT,
der FAS…
Er ist 40 Jahre alt.