Im fremden Garten..(flo)11/08

Novemberskizzen aus 2005, in Nikolassee.
Beinah selbstverständlich hatte ich nach einer Weile, versunken in den Anblick des Hauses, die Klinke der Gartenpforte nach unten gedrückt, sie gab nach, das Türchen ließ sich öffnen. Ich war dem schmalen Pfad gefolgt, die kleinen alten Steinstufen hoch, links und rechts die vermoderten, zerknickten und vertrockneten Gräser und Gewächse des Novembers .

Ich fühlte mich seltsam.

Flüchtig warf ich einen Blick auf den Wintergarten.

Er wirkte aus der Nähe heruntergekommen.

Verwittert.

Mein Blick wanderte prüfend in die obere Etage.

Verwelkte Blumen hingen über einen Balkon, der winzig war, aber ich sah den Sommer, ich sah, wie die Blumen und Pflanzen diesen Balkon beinah zuwucherten, wie sie wuchsen, wie sie blühten.

Dahinter erdachte ich mir einen versponnen Raum, in dem ja – was ? Ich stellte mir nicht vor, was in diesem Raum stattfand. Wer in diesem Raum lebte.

Ich dachte an Menschen, aber nicht konkret.

Ich dachte eher an das Zimmer.

Den Raum.

Wie er wohl geschnitten war, ausschauen mochte, ob er gemütlich er war oder karg.

Wie er eingerichtet war. Ob sich dort jemand wohlgefühlt hatte.

Vorsichtig, um nicht auszurutschen, auf dem Boden, er war glitschig von den herabgefallenen Blättern einer Haselnußhecke, die den Pfad zum Nachbargründstück hin mannshoch abgrenzte, ging ich den Pfad hoch, entlang an der fensterlosen Hauswand.

Dann hatte ich das Ende der Hauswand erreicht.

Ich blieb stehen.

Was sollte ich sagen, wenn jemand hinterm Haus war, im Garten?

Schwerlich konnte ich sagen: „Ich wollte Sie gerne kennenlernen!“

„Das Haus hat mich so angezogen.“

Und sie hätten sicher wissen wollen, warum.

Ich hätte sagen können, es wirkt so verlassen, so traurig irgendwie, so melancholisch und doch so schön, gleichzeitig, mit seinen Schnörkeln, nicht übertrieben, dem alten, klassischen Wintergarten, mit seinen weniger klassischen Vorhängen, hinter den Scheiben, innen, die ältlich wirken, und auch, als wären sie lange nicht mehr abgenommen worden.

Nein, ich hätte einen Teil der Wahrheit gesagt.

Gefragt, ob ich das Haus fotografieren dürfe.

Oder ein paar Ausschnitte.

Den Wintergarten zum Beispiel.

Früher hätte ich gesagt: „Ich fotografiere so gerne alte Häuser, alte Türen, alte Fenster…!“

Aber heute sagte ich das nicht mehr.

Weil es auch nicht mehr stimmt.

Und weil ich sie nicht mehr verkläre.

Ich hätte sagen können, ich möchte diese ganz eigene Atmosphäre versuchen, einzufangen, die dieses Haus umgibt, für mich jedenfalls, und diese Bilder für mich behalten. Diese Fotos.

Nur für mich allein. Nicht ausstellen. Nicht zerreden lassen. Nicht zerblicken lassen.

Genau jetzt, Anfang November.

Ein Tag wie heute – blauer Himmel, strahlendblauer Himmel, wie man so sagt,

keine einzige Wolke, und die fallenden Blätter…noch sind nicht alle Bäume kahl..

die Farben noch nicht verblichen…dieses intensive Gelb und dieses Karminrot der Ahornblätter….diese Gräser, die der Farbe von Korn ähneln, wenn es geregnet hat.

Und würde das die Besitzer oder Bewohner dieses Hauses interessieren?

Oder würden sie mich als einen ungebetenen Gast, als einen ungehörigen Eindringling schimpfend wegjagen.?

Nein, das glaubte ich nicht.

Ich hatte meinen schönen zimtfarbenen Mantel an, mit einem Kragen, der von dunkelbraunem Samt eingefasst war.

Es war ein langer, schmalgeschnittener und dennoch bequemer Mantel, mit zwei Knopfreihen, zwei tiefen Taschen und einer Gehfalte im Rücken.

Ich hatte diesen Mantel vor zwei Tagen in einem Second-Hand-Laden erstanden.

Ich hatte ihn sofort anbehalten.

Er kleidete mich gut und wärmte mich.

Meinen Haaren hatte ich etwas mehr Zeit gewidmet als üblich.

Denn ich hatte am früheren Nachmittag in dieser Villengegend eine Wohnung besichtigt.

Aber das Haus war Teil einer Siedlung gewesen.

Ich haßte Siedlungen aller Art.

Mein rotbraunes Haar wirkte weniger unfrisiert als sonst.

Die Locken hatte ich mit einer Art Schal im Nacken zusammengebunden.

Sie fielen mir vorne in die Stirn, so dass ich dennoch nicht streng aussah.

Ich sah seriös aus, bürgerlich, könnte man sagen.

Wahrscheinlich hätten die Hausbesitzer oder Hausbewohner gedacht, ich käme, um vielleicht nach dem Weg zu fragen.

Nach einer Hausnummer.

Ich war jetzt aus dem Versteck der Hauswand hervorgetreten.

Ich spürte, ohne sagen zu können, warum,ich war allein auf diesem fremden Grundstück.

In diesem fremden Garten. Hinter einem fremden Haus.

Der oder die Bewohner waren nicht da.

Dennoch drückte ich auf die Klingel..

Sie war ein kleiner runder Knopf, in die Steinwand eingelassen.

Ich hörte einen entfernten Ton.

Keine Reaktion..

Langsam ließ ich meine Augen schweifen.

Der Garten hinter dem Haus wirkte vergilbt.

Oder sahen Gärten im November so aus?

Hatte ich schon vergessen, wie Herbstgärten aussehen, kurz vor Ausbruch des Winters?

Ein aufgeweichtes Wiesengrundstück mit Bäumen, hier und da.

Ein von der Witterung ausgewaschenes Rosenspalier aus Holz in Rundbogenform vor einer kleinen quadratischen Steinterrasse. Zwischen deren vom Zahn der Zeit abgeschliffenen, ehemals Waschbetonplatten, lustlos zerknickte Halme von ungesunder gelber Farbe sprießten.

Die Terrasse befand sich quasi gegenüber der Haustür, vom Haus nur durch jenen Pfad getrennt, über den ich gekommen war, der sich offenbar um das ganze Haus schlängelte.

Auf der obersten, von drei länglichen ausgeretenen Steintreppen, direkt vor der Haustür, lag eine schwarze kleine Gartenschere, daneben ein schmales hohes Glas und eine Flasche Mineralwasser.

Gerade so, als ob jemand noch bis vor wenigen Minuten auf dieser Stufe gesessen und in den Garten geblickt hätte, nach getaner Gartenbarbeit, und ein Glas Mineralwasser dabei getrunken hätte..

Und bedächtig die leere Flasche wieder zugeschraubt hätte.

Allerdings hatte er die Sachen nicht mehr ins Haus gebracht.

Sondern war weggegangen.

Sie faszinierten mich, diese drei Gegenstände auf der Treppe, wie zu einem Stillleben drapiert.

Und mir Geschichten über eine unbekannte Person erzählten.

Ich war mir sicher, dass der Besitzer ein alter Mann war.

So wie ich auch wußte, spürte, nein, man sah es, dass dieses Haus kein gemietetes war.

Sondern Eigentum.

Ja, ich war überzeugt davon, dass es sich bei dem Bewohner des Hauses um einen Mann handelte.

Doch was mochte er im Garten getan haben?

Oder sollte er noch die allerletzten Rosen abgeschnitten haben?

Vielleicht hatte der jetzt so zerbrechlich wirkende Rosenstock, der sich nur noch mit ein paar Zweigen, wie dünne, kahle Arme, um das Rosenspalier rankte – noch ein paar Rosen getragen?

Helle, fast weiße, champagnerfarbene Rosen…vom Regen und vom November…weggespült, nein, es hatte länger nicht geregnet, oder? Sie könnten daher ohne Risse vom Regen gewesen sein, die Rosen, die champagnerfarben, die pudrig-hochzeitskleidfarbenen Novemberrosen.

Und wem hätte er sie gebracht?

Einer Freundin?

Oder – und hier dachte ich, jetzt sollte ich endlich gehen – waren sie für ein Grab?

Ich wußte, ich war allein in diesem fremden Garten.

Der oder die Bewohner waren nicht da.

Ich drückte ich auf die Klingel..

Ich hörte einen entfernten Ton.

Aber es reagierte niemand.