„…kulturelle Erfahrungen nur meist außerhalb der Familie“ – (das wesentlicheste Zitat aus der Studie, meint fem). Quelle der Zusammenfassung ist n-tv.de
UNICEF-Studie
Zur Lage der Kinder in Deutschland
Donnerstag, 15. Februar 2007
Veraltete Rezepte
Kindheit als Problem
Deutschland bietet Kindern nach einer neuen UNICEF-Studie nur mittelmäßige Zukunftschancen. Bei einem Vergleich der Lebensumstände von Kindern in 21 Industrieländern rangiert die Bundesrepublik lediglich auf Platz 11. Als kinderfreundlichstes Land führen die Niederlande die Tabelle an, gefolgt von Schweden, Dänemark und Finnland. Besonders schlecht schnitten Großbritannien, die USA, Österreich und Ungarn ab.
Teil der Gesamtstudie ist eine Untersuchung, die sich ausschließlich mit der Lage von Kindern in Deutschland beschäftigt. Und dabei zeigt sich: Deutschland ist groß und die Situation von Kindern regional sehr unterschiedlich. Diese Studie ist besser als der internationale Rundumschlag geeignet, deutschen Politiker ins Stammbuch zu schreiben, was sich wirklich ändern muss.
Rezepte von Anno Dunnemals
Hans Bertram, Professor für Mikrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität, stellt zunächst einmal fest, „dass in der öffentlichen Debatte um Kinder und Familien die Sorge und Befürchtung vor möglichen Problemen und Verlusten im Mittelpunkt stehen und dass die Lösungsvorschläge sich nur wenig von denen von vor 30 und 40 Jahren unterscheiden.“
Kinder und Jugendliche von heute leben jedoch in einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft und nicht mehr in einer Industriegesellschaft. Trotzdem folgt der Alltag der Heranwachsenden noch immer Mustern, die im 19. Jahrhundert konzipiert wurden. Nach wie vor liegt die Erziehung bis zum sechsten Lebensjahr in der Regel allein bei den Eltern, das heißt vor allem in den Händen der Mutter. Danach ist die Vormittagsschule die Regel, „weil das gemeinsame Mittagessen wieder Zuhause eingenommen werden soll“.
Nur kosten soll es nix
Lediglich der Rechtsanspruch der 3- bis 6-jährigen Kinder auf einen Kindergartenplatz für drei (!) Vormittagsstunden wird in der Studie als gewisser Fortschritt angesehen. In einer Zeit, in der häufig beide Eltern zur ökonomischen Sicherung der Familie beitragen müssen und wesentliche kulturelle Erfahrungen nur noch außerhalb der Familie gemacht werden können, wirkt sich dieser Traditionalismus verheerend aus. Wenn man dann sieht, dass andere Länder ein Prozent ihres BIP in den vorschulischen Bereich investieren und Deutschland nur 0,4 Prozent, liegt der Ruf nach sofortigen politischen Entscheidungen nahe.
Erfolgreiche Länder bringen zusätzlich zu den finanziellen Transferleistungen an Familien noch erhebliche Summen in die Entwicklung einer Infrastruktur für Kinder ein. Gut ausgestattete Krippen, Kindergärten, Schulen, Bibliotheken und Freizeitzentren mit gut ausgebildeten Erzieherinnen und Lehrern sind keine Konkurrenz zur Familie, sondern ein wichtiger Baustein für eine schöne Kindheit. Viele Defizite für Kinder in Deutschland sind trotzdem nicht so sehr „Ergebnis mangelnder Mittel, sondern Ergebnis mangelnder Kooperation zwischen unterschiedlich zuständigen Bürokratien auf Bundes- und Landesebene“.
Policy-Mix für Kinder
Was in der rigorosen Trennung von Kindergarten und Familie beginnt, setzt sich nämlich in der Trennung von Kindergarten und Schule oder Bildungs- und Gesundheitssystem fort. Zum Wohl eines Kindes gehört jedoch ein ganzer Komplex aus „kindlicher Gesundheit, materieller Sicherheit, Sicherheit in der Lebensumwelt, in der das Kind aufwächst, seine Bildung und Erziehung und verlässliche und stabile Beziehungen zur eigenen Familie, zu den Freunden und in der Nachbarschaft“. Wo diese Teile zusammengefügt betrachtet und angegangen werden, verbessern sich nicht nur die Lebensbedingungen von Kindern, sondern auch die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Denn nur wenn Kinder ihre Fähigkeiten und ihre sozialen Kompetenzen entsprechend ihrer Potenziale entwickeln konnten, können „sie später als Jugendliche und junge Erwachsene auch in Forschung, Wissenschaft und Ökonomie erfolgreich sein“.
So komplex wie die Sicht auf das Leben von Kindern sein sollte, müsste auch eine Politik sein, die dem Rechnung trägt. „Einige der Spitzenländer …, wie die nordeuropäischen Länder, haben viel früher begonnen, Politik für Familien und Kinder als einen Policy-Mix zu begreifen. Unterschiedliche Maßnahmen zur ökonomischen Entwicklung, zur Infrastruktur wie zur Neuorganisation der Aufgabenteilung zwischen Familie und Institutionen für Kinder wurden hier zusammengebracht, offenbar zum Wohl der Kinder.“ Einige Untersuchungen vermuten sogar eine Verbindung zu steigenden Geburtenraten in diesen Ländern. Ein Nebeneffekt, den Deutschland sicher gut brauchen könnte.
Gemeinsam vor Ort
Die Familie allein scheitert an den Herausforderungen der Zukunft ebenso wie die Schule allein oder der „Staat“. Auch ist die Nation für viele Problemlagen zu groß gedacht, denn Familien leben in Dörfern oder Städten, und in diesem regionalen Rahmen müssen auch die entsprechenden politischen Entscheidungen fallen. Kombinationen aus freiwilligem Engagement und professioneller Unterstützung machen Angebote für Familien attraktiver und führen nebenher auch zu einer viel größeren Identifizierung mit der unmittelbaren Lebensumwelt. Kommunen, die den Wegzug von jungen Familien klagend oder klaglos hinnehmen, verpassen jedes Mal eine Chance.
Mehr als Kostenfaktoren
Hinzu kommt die Forderung nach einer völlig anderen Sicht auf Kinder. Wo Familien, Lehrer und letztlich die Gesellschaft nur Kostenfaktoren und künftige Beitragszahler wahrnimmt, fühlen sich kleine Menschen zu Recht wenig gesehen und erwarten auch von sich selbst nicht unbedingt Großtaten. Wo aber Kinder, ob mit deutschen oder Migranteneltern, als künftige Eliten mit Entdeckerkraft und Wissensdurst angesehen werden, trauen sie sich ganz andere Biographien zu und verwirklichen diese Träume dann auch eher.
Verpasste Chancen
Selbst relativ banale Bereiche wie der der Kindergesundheit offenbaren in Deutschland erschreckende Defizite. Deutsche Kinder sind beim Rauchen Spitzenreiter und beim Alkoholkonsum in der Spitzengruppe. Die Säuglingssterblichkeit liegt in einigen Bundesländern beinahe auf dem Niveau des äußersten Endes im Nationenvergleich. „Mit großer Selbstverständlichkeit werden die steigenden Gesundheitskosten mit dem medizinischen Fortschritt und dem steigenden Lebensalter der Bevölkerung begründet.“ Kinder spielen in der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens aber offenbar nur eine Nebenrolle. Auch dies ließe sich ändern.
Die deutsche Debatte um das Wohlbefinden von Kindern hat sich in den letzten Jahren stark auf den schulischen Erfolg und auf die ökonomische Situation von Kindern und Familien konzentriert. Doch nicht jedes Kind, das in relativer Einkommensarmut aufwächst, hat das Gefühl, nicht am Wohlstand unserer Gesellschaft partizipieren zu können. Eine verlässliche Umwelt für Kinder heißt letztlich auch, dass Kinder das Gefühl haben, dass sich nicht nur die Eltern, sondern auch die Nachbarschaft, die Verwandtschaft und die Umwelt für die Kinder interessieren, und das gilt insbesondere für benachteiligte Kinder. „Ohne solche Angebote wird in unserer Gesellschaft auf Dauer das Sozialkapital, das ebenso wichtig ist wie das ökonomische Kapital, knapp werden.“
Solveig Bach