Autorin ist May Chidiac eine der beliebtesten Fernsehjournalisten im Libanon. Als 2005 eine Bombe in ihrem Wagen detonierte, verlor sie einen Arm und ein Bein, aber nicht ihren Mut. Anstatt sich zu verstecken, bat sie um eine Talkshow zur Primetime. Jetzt hat May Chidiac ihre Erfahrungen in einem Buch festgehalten.
Quelle: welt-online
May Chidiac wird ständig bewacht. Weil sie unbequeme Fragen stellt, steht ihr Name auf einer Todesliste
Die letzte Operation liegt drei Wochen zurück. Es war die 28. in weniger als drei Jahren, eine von den leichteren. May Chidiac weiß nicht, wie viele ihr noch bevorstehen oder wann endlich die letzte kommt. Nur frei von Schmerzen, das weiß sie, wird sie nie mehr sein. So wie sie auch ihre Freiheit nicht zurückbekommt. Sie wird ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen sein. Und sie wird noch lange, vielleicht für immer, in einem Zustand leben, den man früher vogelfrei nannte. „Die Sicherheitsleute haben mir verboten, mich aus dem Fenster zu lehnen. Da mein Haus oberhalb von Beirut liegt, habe ich einen fantastischen Blick auf die Stadt. Aber ich kann ihn nicht mehr genießen. Man hat einen hohen Bretterzaun vor meinem Garten errichtet, um jeden Mordversuch von den Nachbarhäusern aus zu vereiteln.“ May Chidiac ist eine der bekanntesten Journalistinnen des Libanon. Wenn sich die arabische Christin in der Öffentlichkeit zeigt, applaudieren die Menschen spontan. Man könnte die 44-Jährige auch die Anne Will des Nahen Ostens nennen, doch das trifft es nicht wirklich. Anne Will muss nicht um ihr Leben fürchten, wenn sie unbequeme Fragen stellt. May Chidiac stellt Fragen, die vor allem für Syrien unbequem sind, den großen Nachbarn des Libanon, der seinen Einfluss auf das kleine Land am Mittelmeer nicht verlieren will. Dafür, so ist sie überzeugt, landete sie auf jener Todesliste, auf der auch der libanesische Premierminister Rafik al-Hariri stand. Am 14. Februar 2005 wurde er mit 1800 Kilogramm TNT in die Luft gesprengt. Al-Hariri kämpfte gegen den Einfluss Syriens auf den Libanon. Er zahlte mit dem Leben dafür. May Chidiac mit ihrer linken Hand und ihrem linken Bein. „Meine Geschichte ist die des Libanon. Man reißt ihm Gliedmaßen aus. Man foltert ihn, und er lebt weiter, nachdem man die Stücke seines Körpers mit dem, was man gerade zur Verfügung hat, wieder zusammengeklebt hat.“
May Chidiac will allen ihre Geschichte erzählen
Die zierliche Frau sitzt in einer Suite im „Regent“-Hotel in Berlin. Im Flur steht ihr elektrischer Rollstuhl, ihre Arm- und Beinprothese hält sie unterhalb des Tisches. Die rechte Hand liegt darauf. Die Finger sind zart, die Nägel glänzen dunkelrot. Das letzte Mal, als May Chidiac ihre linke Hand sah, glich sie dieser rechten: Unversehrt war sie, ohne einen Kratzer, mit perfekt manikürten Nägeln. Doch sie hing nur noch an einem Fetzen Fleisch vom zertrümmerten Arm herab. Die Ärzte konnten die Hand nicht retten.
Sie beschreibt darin den 25.September 2005, als auch sie, ein halbes Jahr nach dem Attentat auf al-Hariri, in die Luft gesprengt werden sollte. Und sie schreibt über ihr Leben seitdem. Das Schreiben war keine Therapie, eher eine Qual, „weil ich alles noch einmal durchleben musste“. Eine Qual scheint auch die Reise nach Deutschland zu sein, wo sie ihr Buch derzeit vorstellt. Ihr Körper kann nicht mehr so, wie sie will. Zwischen den Interviews fordert er lange Pausen. Dabei will sie möglichst vielen Menschen ihre Geschichte erzählen, die auch die Geschichte ihres Landes ist. „Wir sind für die Demokratie bestimmt, und das ist gut so. Das zu akzeptieren fällt unseren diktatorischen Nachbarn schwer. Bei uns kann kein Maulkorb verhängt werden. Man kann uns Arme und Beine amputieren. Man kann uns töten, das ändert nichts. Unsere Kinder treten unsere Nachfolge an.“ May Chidiac erlebte das Ende ihrer Kindheit im libanesischen Bürgerkrieg. 18 religiöse Gruppierungen leben in dem kleinen Land nördlich von Israel, bis zum Ausbruch des Krieges war der Libanon ein Modell für das tolerante Zusammenleben dieser Gruppen. Doch 1975 brachen Konflikte zwischen ihnen offen auf, geschürt durch Interessen anderer Staaten, die in einen erbitterten Bürgerkrieg ausarteten. 15 Jahre währte dieser Krieg.
Sie war die erste Frau, auf die ein Anschlag verübt wurde
Mitte der 80er-Jahre wurde May Chidiac Journalistin. Mit ihrem Kameramann stand sie oft an vorderster Front, bedroht von Heckenschützen und Bomben. Ein Leben in Gefahr, das war ihre Normalität. Und doch wollte sie dieses Land nie verlassen. Wenn May Chidiac vom Libanon erzählt, klingt es, als rede sie von einem geliebten Menschen. Sie schwärmt vom warmen Klima, von der Herzlichkeit der Menschen, dem Leben, das wie ein Urlaub ohne Ende sei. Doch Ende der 80er-Jahre, nach dem Bürgerkrieg, besetzten syrische Truppen den Libanon. Es folgte eine Zeit der Entspannung und des Wiederaufbaus. Innerhalb von 15 Jahren schien der Libanon wieder zu dem zu werden, was er vor dem Bürgerkrieg war. Doch der Schein trog. Das zeigte die Ermordung al-Hariris, der den Abzug Syriens aus seinem Land forderte. „Ich konnte meine Wut nicht verbergen und neutrale Worte benutzen, um die Schuldigen zu benennen und zu berichten, was fast alle Libanesen unablässig wiederholten.“ Sechs Stunden berichtete May Chidiac live über den Tod des beliebten Premiers und die spontanen Demonstrationen gegen Syrien. Offen sympathisierte sie mit den Demonstranten. Angst hatte sie keine. Denn noch nie war im Libanon eine Frau angegriffen worden. Das sollte sich ein halbes Jahr später ändern. Der 25. September 2005 ist ein milder Herbsttag. May Chidiac hat ihre Morgenshow auf dem christlichen Privatsender LBC gerade beendet. Sie ist sehr weit gegangen, hat mit ihren Gästen über die jüngsten Attentate gesprochen und über die Rolle des syrischen Regimes. Nach der Sendung fährt sie in die kleine Wallfahrtskirche des heiligen Charbel. May Chidiac ist gläubig, sehr sogar. Das Wunder, dass sie die 400 Kilo TNT, die unter ihrem Fahrersitz hochgehen, überlebt, verdankt sie in gewisser Weise diesem Glauben. Denn nur weil sie die Kerzen, die sie aus der Kirche mitgebracht hat, auf den Rücksitz legen will und sich daher nach hinten umdreht, trifft sie die Explosion nicht mit voller Wucht. „Beweg dich, Mädchen. Das ist nicht möglich, das ist nicht real. All das, was du fühlst, existiert nicht … Ich krieche zu der Stelle, wo die Explosion die hintere Wagentür weggerissen hat. Ich spüre, wie die Flammen mich verschlingen. Ich habe solche Angst zu verbrennen, dass ich weiterkrieche. Womit krieche ich? Es ist so wenig von meinem Körper übrig.“
Ein enger Freund wurde durch Anschläge getötet
Zehn Monate wird May Chidiac immer wieder operiert. Nicht nur ihre linke Hand, auch der linke Unterarm wird amputiert und das linke Bein weit oberhalb des Knies, in die Wirbelsäule wird ihr ein Stück Metall gesetzt, das linke Trommelfell ist zerstört. Und doch bittet sie ihren Chef, nachdem sie aus dem Koma erwacht, ihr eine politische Talkshow zur Primetime am Abend zu geben. In Frankreich macht sie eine Rehabilitation. Sie kämpft um die ersten Schritte und Griffe mit den Prothesen. Und sie trauert. May Chidiac ist eitel. Ihr Make-up sitzt perfekt. Ungeschminkt würde sie nie vor die Tür treten. Sie liebt figurbetonte Kleider, trägt gern tiefe Ausschnitte. Sie lacht viel und dankt Gott, dass er ihr Gesicht verschonte. Nach zehn Monaten kehrt sie in ihre Heimat zurück. Doch am Tag darauf beginnt wieder ein Krieg. Die schiitische Hisbollah im Süden des Landes hat zwei israelische Soldaten entführt und sieben getötet. Israel antwortet mit der Bombardierung des Flughafens von Beirut. „Ich befinde mich erneut inmitten dieser Zerstörung, wie alle Libanesen, die davon träumen, friedlich auf ihrem Stückchen Land zu leben. Die Welt ist verrückt. Die Welt hat den Kopf verloren.“ May Chidiac bekommt dennoch ihre Show. „Unerschrocken“ wird zur Primetime ausgestrahlt. Sie lässt über den Krieg und seine Hintermänner diskutieren. Es ist alles wie immer. Nur dass sie jetzt keinen Schritt mehr ohne Bodyguards tun kann. Ende 2006 wird Pierre Gemayel ermordet, der libanesische Industrieminister, mit dem sie eng befreundet ist. Zum ersten Mal verliert sie ihren Lebensmut. „Warum nicht ich? Niemand antwortet. Es gibt nichts zu antworten.“
May Chidiac wurde zur Botschafterin ihres Landes
Noch immer schießen May Chidiac Tränen in die Augen, wenn sie von dieser Zeit erzählt. „Es ist eine schwere Last, weiterleben zu müssen“, sagt sie. Ohne ihre Familie und enge Freunde, die sie die Sippe nennt, hätte sie es nicht geschafft. Die Sippe war stets bei ihr, im Krankenhaus, in Frankreich, und auch jetzt lässt sie sie fast nie allein. Die Sippe will, dass sie lebt. Doch es ist auch mit ihnen schwer genug. Die Lage in ihrem Land ist noch immer instabil, das Parlament aufgelöst, das Amt des Präsidenten seit November nicht besetzt. Die Regierungsmehrheit und die prosyrische Opposition können sich nicht auf eine nötige Verfassungsänderung einigen. Seit die Israelis einen Anführer der Hisbollah gezielt töteten, ist die Angst vor einem neuen Krieg groß. May Chidiac ist zu einer Botschafterin ihres Landes geworden. Sie hat Preise entgegengenommen und Reden gehalten. Und sie wird nicht müde, an den Westen zu appellieren, Syrien nicht zu trauen. Sie glaubt noch immer, dass ein friedliches Zusammenleben aller Religionen im Libanon möglich ist. „Aber ich sehe auch, dass es immer, immer schwieriger wird.“ May Chidiac trägt gern helle Farben, am liebsten Rosa, weil sie das Leben mag und das Schwarz der Trauernden in ihrer Jugend so sehr hasste. Und auch, weil es eine kindliche Farbe ist. „Manche sagen, ich sei sehr feminin, andere, ich sei tough oder eisern. Aber tief in mir drin bin ich noch immer das Kind, das ich einmal war. Vielleicht kann ja nur noch ein Kind an eine friedliche Lösung im Libanon glauben.“