Meist „naturwissenschaftlich“, Nutzen-abstinent und ohne Innovationskraft: zum aktuellen Befinden der Bildungsforschung – Uni Augsburg:
Meist „naturwissenschaftlich“,
Nutzen-abstinent und ohne Innovationskraft:
zum aktuellen Befinden der Bildungsforschung
Klaus P. Prem, Presse – Öffentlichkeitsarbeit – Information
Universität Augsburg
16.04.2008
Es werden kontinuierlich naturwissenschaftlich orientierte Studien angehäuft und innerhalb der eigenen Zirkel disseminiert. Interaktion und Rückkoppelungen zur Praxis bleiben unterentwickelt. Anwendernutzen und Innovationspotential werden meist vertagt: Das ist die Quintessenz einer äußerst kritischen Diagnose des aktuellen Befindens der Lehr-, Lern- und Bildungsforschung, die ein jetzt bei Pabst Science Publishers erschienener Aufsatzband vorträgt. Herausgeber dieses „Der Nutzen wird vertagt … Bildungswissenschaften im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Profilbildung und praktischem Mehrwert“ betitelten Bandes sind die Augsburger Medienpädagogin und E-Learning-Expertin Prof. Dr. Gabi Reinmann und der Grundschulpädagoge Prof. Dr. Joachim Kahlert von der LMU München.
Europäische Harmonisierung der Hochschullehre, Exzellenzinitiativen, Forschungscluster und eine an Kennziffern orientierte Steuerung der wissenschaftlichen Entwicklung wirken auf Lehre und Forschung der Universitäten ein. Wie die Analysen des Bandes „Der Nutzen wird vertagt …“ zeigen, wird die Wissenschaftsentwicklung insbesondere in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften durch die unkritische Übernahme entsprechender Steuerungspraktiken auf einen riskanten Weg gelenkt. Dieser Weg diene der Profilbildung, heißt es, faktisch jedoch erweist er sich zunehmend als Legitimationsfiktion, die es noch dazu erschwert, dem Bedarf an praktisch bedeutsamen Innovationen in Schule, Hochschule sowie Aus- und Weiterbildung gerecht zu werden.
„Warum trotz einer nachweisbaren Innovationskrise eine naturwissenschaftlich motivierte Monokultur um sich greift, ist eine nach wie vor unbeantwortete Frage“, stellt Reinmann fest und vermutet: „Wir haben es mit einem fiktiven Markt zu tun, auf dem die Naturwissenschaften einen hohen Wert und von daher Definitionsmacht über wissenschaftliche Standards erhalten haben.“ Da in diesem Markt die Endkunden, die Lehrerinnen und Lehrer also, keinen Einfluss auf die Forschungsförderung hätten, werde deren Bedarf weitgehend ignoriert.
Die öffentliche Meinung außerhalb der Bildungspraxis verstärke diesen Trend und realisiere kaum, „dass gerade die naturwissenschaftliche Monokultur Bildungsinnovationen verhindert. Vielmehr“, so Reinmann, „akzeptiert und befürwortet die Öffentlichkeit gegenwärtig eher diejenigen Strategien, die die höchste Komplexitätsreduktion versprechen.“ Bildungsforschung, die sich nicht ausschließlich am naturwissenschaftlichen Ideal orientiere, sondern statt dessen Reflexion, ein „Sowohl als auch“ und/oder ein „Kommt darauf an“ verkünde, sei für die breite Öffentlichkeit unverständlich und unattraktiv.
„Zahlen hingegen“, meint Reinmann, „suggerieren klare Befunde, also die begehrten ‚hard facts‘, und mitunter Empfehlungen, die sich scheinbar zwingend aus diesen ergeben. Für Vertreter der quantitativen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Forschung ist es daher ein Leichtes, die Öffentlichkeit und über diesen Weg auch die Förderpolitik davon zu überzeugen, dass sie es sind, die endlich Ordnung in das Didaktik- und Erziehungschaos bringen.“
Neben einer Einführung von Reinmann und Kahlert umfasst der Band zehn Beiträge:
o Joachim Kahlert: Was kommt nach der Erkenntnis? Zum schwierigen Verhältnis pädagogischer Disziplinen zu der Erwartung, sich nützlich zu machen
o Ewald Kiel: Epistemologie pädagogischen Handelns
o Rolf Arnold: Wem nutzt Erwachsenenbildung was? Anmerkungen aus dem Kontext der Erwachsenenpädagogik
o Dieter Euler: Berufsbildungsforschung zwischen Wissenschaft und Machenschaft
o Dominik Petko/Titus Guldimann: Forschung und Entwicklung an Pädagogischen Hochschulen der Schweiz
o Robin Stark/Heinz Mandl/Petra Herzmann: Ein integrativer Forschungsansatz zur Überbrückung der Kluft zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung
o Cort-Denis Hachmeister: Perspektive der Hochschulevaluation
o Ulrich Fahrner/Antony Unwin: Adaptive Verfahren zur Analyse und Verbesserung realer Lehr-Lern-Systeme
o Theo Hug/Norm Friesen/Liam Rourke: Nutzenerwartungen und Wissenswandel – Kritische Betrachtungen im Spannungsfeld von nutzloser Nützlichkeit und nützlicher Nutzlosigkeit am Beispiel der Learning Sciences
o Gabi Reinmann: Innovationskrise in der Bildungsforschung: Von Interessenkämpfen und ungenutzten Chancen einer Hard-to-do-Science
_____________________________
Gabi Reinmann/Joachim Kahlert (Hrsg.): Der Nutzen wird vertagt … Bildungswissenschaften im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Profilbildung und praktischem Mehrwert, Pabst Science Publishers 2008, 228 Seiten, ISBN 978-3-89967-412-5, 20,00 Euro