faz.net: Beton schwebt über den Gräbern.
Dokumentationszentrum Bergen-Belsen
Beton schwebt über den Gräbern
Von Robert von Lucius
Im Dokumentationszentrum Bergen-Belsen
Nichts soll ablenken von der Botschaft und der Stimmung. Ein knapp zweihundert Meter langes Gebäude aus Beton wirkt massiv, sollte man glauben. Das neue Dokumentationszentrum des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen aber schwebt trotz seiner Ausmaße und seines Bestimmungszwecks – als Ort, der das historische Gedächtnis und die Erinnerung an siebzigtausend Ermordete speichert und wiedergibt. Ein langer, von hohen Betonmauern umgebener Gang vom Zentrum zum Gelände des ehemaligen KZ trägt bei zur Besinnung und dem Gefühl der Bedrängnis, aber auch zum Ausblick: Er führt in eine spätherbstliche Heide, unter deren Boden ermordete jüdische, sowjetische und polnische Gefangene ruhen.
Dies sei das wichtigste neue Bauwerk Niedersachsens seit Jahren, glaubt der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann, der seit fünf Jahren den Bau betrieb, dessen Kosten von dreizehn Millionen Euro Bund und Land je zur Hälfte trugen. Zur Eröffnung am Sonntag kamen nicht nur Politiker aus Bund und Land und Vertreter jüdischer Verbände, sondern auch mehr als hundert Überlebende. Trotz der hohen Opferzahl gab es hier mehr Überlebende als anderswo, zu annähernd zweitausend hat die Gedenkstätte Kontakt.
Einmalige Geschichte
Knapp zweihundert Meter langer Betonbau
Das beruht auf der insofern einmaligen Geschichte des Lagers: Es wurde 1935 ausgebaut zum damals größten Truppenübungsplatz des Deutschen Reiches. Daraus wurde 1941 ein Lager für sowjetische und polnische Kriegsgefangene und italienische Internierte und erst 1943 ein KZ. Nach 1945 boten die nahen Kasernen fünf Jahre lang zwölftausend überlebenden Juden als „Displaced Persons“ Unterkunft: Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 fanden sie eine neue Heimstatt. Mehr als tausend Juden haben so Bergen-Belsen als Geburtsort in ihrem Pass eingetragen. Aus dem Ort des Todes wurde so ein Ort des Neubeginns jüdischen Lebens in Deutschland – und ein Ort der Hoffnung. Schon im Oktober 1945 kam der spätere erste Ministerpräsident Israels, David Ben Gurion, zu Besuch nach Bergen-Belsen, und bald darauf wurden dort ein jüdisches Gymnasium, eine Zeitung und eine Theatergruppe gegründet.
Anders als Auschwitz war Bergen-Belsen nicht als Vernichtungslager konzipiert. Ein Teil der jüdischen Häftlinge wurde als Geiseln gehalten für geplante Austausche mit deutschen Gefangenen oder zum Menschenhandel gegen Devisen. Diese „Austauschjuden“, unter ihnen viele Kinder, wurden etwas besser behandelt und ernährt als in anderen Lagern. Zwanzigtausend der Toten waren Kriegsgefangene, mehr als fünfzigtausend KZ-Insassen. Die hohe Totenzahl beruht nicht zuletzt auf einer Fleckfieberepidemie in den letzten Monaten vor der kampflosen Übergabe an die Briten am 15. April 1945 – sie befreiten 55.000 Überlebende.
„Sterbelager“ für Todkranke
Personalkarten sowjetischer Kriegsgefangener
Zudem diente Bergen-Belsen im letzten Kriegsjahr als „Sterbelager“ für todkranke Häftlinge anderer Konzentrationslager wie Mittelbau-Dora. Dass allein im März 1945 in Bergen-Belsen achtzehntausend Menschen starben, ein Viertel der gesamten Opferzahl, beruht schließlich darauf, dass Ende 1944 das Lager einen neuen Kommandanten und Wächter erhielt, die aus Auschwitz kamen. Unter den Toten war Anne Frank, deren Tagebuch dazu beitrug, dass weit mehr amerikanischen Schülern Bergen-Belsen bekannt sein dürfte als das nahe Hannover. Unter den jährlich knapp zweihunderttausend Besuchern der Gedenkstätte schon vor ihrer Neugestaltung sind viele Ausländer.
Das Dokumentationszentrum will diese Geschichte sichtbar machen, klar gegliedert in Bauabschnitte: Mal sind die Räume hoch, mal die Decken niedrig. Nichts wirkt überfrachtet. Erinnerungsstücke sind nicht nur an den Wänden, sondern auch in gläsernen Vitrinen im Boden eingelassen. Erinnerungen Überlebender werden gezeigt in Filmen, Bildern, Dokumenten, Büchern – eingängig auch für junge Menschen. Die Texte sind kurz gehalten, nüchtern und eindringlich. An die nächste und übernächste Generation will sich das Dokumentationszentrum wenden, so die Absicht Busemanns wie auch der überlebenden Opfer. Zur Aufklärung zählen die Ausstellungsmacher den Hinweis, dass zwar alliierte Spruchkammern SS-Leute des Lagers verurteilten; die deutsche Justiz aber nur in einigen Fällen ermittelt; zu einer Anklage kam es nicht. Nur wenige der KZ-Wärter wurden bestraft.
Kiefern über den Fundamenten
Gläserne Vitrinen im Boden
Leicht war die Suche nach Dokumenten und Belegen nicht. Viele wurden erst in den vergangenen Jahren gefunden durch Grabungen auf dem sandigen Gelände oder durch die Öffnung der Archive in Osteuropa. Davor wurden alle Erinnerungen gleich mehrfach zerstört. Beim Abzug vernichtete die SS alle Dokumente. Aus Furcht vor der Fleckfieberepidemie brannten die Briten bei ihrem Einzug mit Flammenwerfern die Baracken ab. Und ein halbes Jahr später störten sich die Briten nicht daran, dass die neuen deutschen Amtsträger alle verbleibenden Bauten abrissen und das Mobiliar an die Dorfbevölkerung versteigerten. Dann wurde Sand auf die Fundamente geschüttet und der Kiefernwald angepflanzt, der jetzt von Landschaftsarchitekten in einer geplanten Neugestaltung behutsam wieder gerodet wird.
Die Architekten wollten „den Weg“ in den Mittelpunkt des Bauwerks stellen: den Weg hinein, hindurch, hinaus. Michael Zimmermann vom Braunschweiger Architekturbüro KSP Engel und Zimmermann spricht von einem emanzipierten Bauwerk, das sich nicht verschämt hinter der Botschaft verstecken müsse – es ist selber Teil der Botschaft. Das beginnt schon mit einem massiven Betonbalken, der scheinbar ohne Träger über dem Eingang schwebt und so ein Element der Verunsicherung darstellt. Boden, Wand und Decken sind alle „authentisch“ aus monochromem Sichtbeton. Details sollen nicht ablenken. Auch die Vitrinen – auf der linken Gebäudeseite zeigen sie individuelle Schicksale, an der rechten Wand historische Einordnungen – sind karg gestaltet.
Ein Gebäude als Teil der Botschaft
Innerhalb des achtzehn Meter breiten, teils zweigeschossigen Baus ergeben sich ständig neue Blickwinkel auch nach außen – auf einen Obelisken, mit dem eine frühere Generation an die Opfer erinnern wollte, und auf die Heide und den Kiefernwald, unter denen sich Schreckliches verbarg. Das bündelt sich an der Stirn des Gebäudes: Hier öffnet sich an allen drei Seiten eine Glasfront, die just dort beginnt, wo einst das Lager anfing. Dort schwebt das Gebäude zwei Meter über dem Boden – ein Fundament zu graben verbot sich, um nicht den jüdischen Friedhof zu stören, der hier beginnt. So bleibt der Blick auf das Lagergelände und auf das verdeckte Gräberfeld, der eine visuelle Verbindung schaffen soll in die Vergangenheit.
Text: F.A.Z., 29.10.2007, Nr. 251 / Seite 36
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