…aus Mord soll nur Totschlag werden.
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Fall Dennis
Was grausam ist
Als Mörder waren sie schon verurteilt – aber nun wird die Strafe für Dennis’ Eltern neu verhandelt.
Von Sandra Dassler, Cottbus
24.08.2007 17:00 Uhr Von Sandra Dassler, Cottbus
Die beiden Totschläger stehen am Fuße des Cottbuser Gerichtsbergs: Falk B., 40, Bierbauch, Schnauz- und Kinnbart, raucht eine Zigarette nach der anderen. Seine Frau Angelika, 46, blickt suchend die Straße hinunter.
Falk und Angelika B. warten auf ihre Verteidiger, denn an diesem Freitagmorgen müssen sie erneut auf der Anklagebank des Cottbuser Landgerichts Platz nehmen. Im Februar des vergangenen Jahres hatte die 1. Große Strafkammer Falk und Angelika B. zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Wegen Mordes an ihrem Sohn Dennis, den sie über Monate, ja Jahre hinweg, hatten verhungern lassen.
Als der Sechsjährige kurz vor Weihnachten 2001 starb, wog er nur noch fünf Kilo. Angelika B. versteckte ihn zunächst imBettkasten, dann in ihrer Tiefkühltruhe. Zweieinhalb Jahre lang lag Dennis dort – unbemerkt vom Ehemann, weiteren sieben Kindern und den Mitarbeitern des Cottbuser Jugendamtes, die die Familie betreuten. Erst im Juni 2004 wurde die Kinderleiche entdeckt.
Der Fall hat damals bundesweit Entsetzen ausgelöst. Aber fast ebenso viel Empörung entstand, als der Bundesgerichtshof das Urteil im März aufhob. Zwar bestätigten die Leipziger Richter die Schuld der Eltern – werteten die Tat aber nicht als Mord durch unterlassene Hilfeleistung, sondern als Totschlag. Begründung: Das Mordmerkmal der Grausamkeit sei nicht gegeben, da der Junge am Ende so entkräftet gewesen sei, dass er möglicherweise gar keinen Hunger mehr signalisiert hatte. Es lasse sich nicht ausschließen, dass die Eltern aus Gedanken- und Hilflosigkeit untätig geblieben waren.
Nun muss also in Cottbus das Strafmaß neu festgelegt werden. Allerdings stehen auf Totschlag nur fünf bis 15 Jahre.
„Ich war damals total überfordert“, sagt Angelika B., während sie mit ihrem Mann auf die Verteidiger wartet: „Ich hätte es zugeben sollen, um Hilfe bitten.“ Sie erzählt auch von der Therapie, die sie gemacht hat. Sie hört gar nicht mehr auf zu sprechen. Berichtet von den „regelmäßigen“ Besuchen bei den vier kleineren Kindern, die sich nun in der Obhut des Cottbuser Jugendamtes befinden, und dass sie mit den volljährigen Kindern noch immer in der Wohnung lebt, in der die Leiche von Dennis lag. Das Ehepaar ist auf freiem Fuß geblieben, weil die Richter keine Fluchtgefahr sahen und das Urteil noch nicht rechtskräftig ist.
Weil die Verteidiger zu Prozessbeginn immer noch nicht da sind, gehen Falk und Angelika B. schließlich allein den Berg zum Gericht hinauf. Sofort stürzen sich Fotografen auf sie. Angelika B. hinkt ein wenig, Folge einer Hüftverletzung, die sie sich bei einem Selbstmordversuch zugezogen hat. Im Gericht erzählt sie dann wieder von ihrer Reue.
Einem groß gewachsenen Mann in der dritten Reihe des Saals schwellen die Zornesadern auf der geröteten Stirn: „Das ist doch alles nur Show“, sagt Gottfried Lindner. „Kalkül, um das Strafmaß runterzutreiben.“ Lindner ist Kriminalist. Er hat Dennis damals in der Kühltruhe gefunden – das Schlimmste, was ihm je widerfahren sei. Wie viele seiner Kollegen, die Angelika B. vernommen haben, meint er: „Die ist nicht dumm. Wie hätte sie sonst so lang die Sozialarbeiter, die Schuldirektorin und alle Verwandte über den Verbleib von Dennis täuschen können?“
Nicht nur in Cottbus haben sie lange darüber diskutiert, dass die Leipziger Richter das Mordmerkmal der Grausamkeit nicht erkennen konnten. Staatsanwalt Tobias Pinder, der die B.s wegen Mordes angeklagt hat, versucht eine Erklärung: „Es ist ein Unterschied zwischen dem juristischen Tatbestand der Grausamkeit und dem, was man landläufig darunter versteht.“ Pinder hatte in der ersten Verhandlung für Aufsehen gesorgt, weil er die Kühltruhe, in der Dennis lag, in den Saal holte. Verwesungsgeruch drang heraus. Pinder hat die Schelte ausgehalten. Es sage viel aus, wenn ein sechsjähriges Kind in einer Truhe verstaut werden könne, die nur 52 Zentimeter breit und tief und 86 Zentimeter hoch sei, sagte er damals.
Der Staatsanwalt bleibt auch in der Revisionsverhandlung gelassen. Nimmt zur Kenntnis, dass der Verteidiger von Falk B. den Antrag stellt, noch einmal Schulrat und Schuldirektorin vorzuladen.
Wenn die Behördenvertreter ihrer Pflicht nachgekommen wären, hätte es keinen Fall Dennis gegeben, sagt der. Bei der Schuleingangsuntersuchung 2001 „hätte der Arzt zweifelsfrei feststellen können, dass Dennis völlig unterernährt war. Schließlich starb der Junge erst im Dezember 2001.“ Weiter argumentiert er: Ein Staat, der die Eltern mit aller Härte bestrafe, obwohl er selbst in Gestalt seiner Behörden schlimmste Fehler begangen habe, werde unglaubwürdig. „Vielleicht haben die Eltern von Dennis ja sogar darauf gewartet, dass jemand an ihrer Tür klingelt und nach Dennis fragt!“ Im Zuschauersaal entsteht unwilliges Gemurmel. Viele Prozessbeobachter haben auch schon die erste Verhandlung verfolgt und wissen, wie oft Angelika B. die Behörden mit Ausreden auszutricksen versuchte.
Staatsanwalt Pinder sagt, die Mitschuld der Behörden sei bereits zur Genüge festgestellt worden. Der Richter will trotzdem in Ruhe über den Antrag entscheiden. Er vertagt den Prozess.
Angelika und Falk B. verlassen den Gerichtssaal ohne Eile. Auf dem Weg in die Stadt begegnen sie jenem Richter, der sie im Februar 2006 wegen Mordes verurteilt hatte. Der hatte gesagt: „Bei allem Versagen der Ämter – die Hauptschuld für den Tod des kleinen Dennis tragen die Menschen, auf die er existenziell angewiesen war. Seine Eltern.“