Ein vielschichtiger, informativer Text von Titel, Thesen, Temperamente, hr, vom Februar 2007 zu dem ARD-Zweiteiler, den wir uns erspart haben:
Archiv: Deutsche auf der FluchtEin Fernsehfilm bricht ein Tabu
Sendeanstalt und Sendedatum: HR, Sonntag, 25. Februar 2007
Bildunterschrift: Szene aus „Die Flucht“ © ARD Degeto/Conny Klein
Was der Politik schwer fällt zu bewerten, versucht jetzt die Fiktion. Mit dem ARD-Zweiteiler „Die Flucht“ soll eines der emotionalsten und umstrittensten Ereignisse der Nachkriegszeit in den Fokus gerückt werden: Flucht und Vertreibung.
In dem Spielfilm erzählt Regisseur Kai Wessel die Geschichte der Ostpreussin Lena Gräfin von Mahlenberg (Maria Furtwängler), die im Januar 1945 mit ihrem Gutspersonal vor der herannahenden russischen Armee fliehen muss.
Mit dem Versuch, diesen Teil der Geschichte zu erzählen, wagt sich Kai Wessel an ein heikles Kapitel. Denn Deutsche waren nicht nur Täter, sondern auch Opfer.
Doch auch wenn das Leid der Zivilbevölkerung außer Frage steht, so warnen Historiker wie Hans-Ulrich Wehler eindringlich davor, aus der neuen Opferdebatte Kapital schlagen zu wollen – oder sogar einen „Opfermythos“ zu schaffen.
ttt über den ARD-Zweiteiler „Die Flucht“ und den Versuch einer politischen Einordnung von Flucht und Vertreibung
Text des Beitrags von Stefanie Appel
Bildunterschrift: Extreme Bedingungen: Szene aus „Die Flucht“ © ARD Degeto
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Der Kriegswinter 1944/45 – Flüchtlingströme aus Ostpreußen drängen in unzähligen Trecks Richtung Westen. Filmszenen, mit großem Aufwand nachgestellt. Die Flucht über das zugefrorene Frische Haff gehört zu den dramatischsten Kapiteln der Geschichte von Flucht und Vertreibung. Hunderttausende verlieren unterwegs durch Hunger, Kälte und Gewalt ihr Leben. Gedreht wurden diese Filmszenen in Litauen, in der Hauptrolle Maria Furtwängler, im baltischen Winter. Die Drehbedingungen waren hart, die aber immer noch leichter zu ertragen als die grausamen Fakten.
Bildunterschrift: Maria Furtwängler im Interview mit ttt (Bild: hr)
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Maria Furtwängler: „Säuglinge sind reihenweise erfroren, wurden nur abgelegt am Wegrand. Da das so eine historische Dimension hat, reißt man sich sofort wieder am Riemen, denkt: Hör auf zu schwächeln, lächerlich!“
„Die Flucht“ erzählt vor allem von einer Gräfin in Ostpreussen, die ein bisschen an die Gräfin Dönhoff erinnert. Als die Rote Armee anrückt muss sie ihre Heimat verlassen, wie Millionen andere Deutsche. Zum ersten Mal traut sich das deutsche Fernsehen diese Schicksale als Spielfilm zu inszenieren – darf man das?
Bildunterschrift: Drehbuchautorin Gabriela Sperl im Interview mit ttt (Bild: hr)
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Drehbuchautorin Gabriela Sperl: „Ich denke, wenn man das einfach mal offen, einfach den Menschen zeigt und sagt: schaut, was da passiert ist, und das eine Leid bedingt das andere, dann kann man vielleicht diese Blockade lösen der Aufrechnung.“
Ist solch eine Blockade nicht längst gelöst?
Deutsches Leiden in Film und Fernsehen.
Und mit Starbesetzung, auch Angela Winkler ist dabei, als ostpreussische Adelige. Was früher heikel war, scheint heute kein Problem mehr. Seit einigen Jahren sind die Deutschen als Opfer zum Spitzenthema avanciert.
Bildunterschrift: Angela Winkler als Sophie Gräfin von Gernstorff © ARD Degeto
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Rückblick:
2002 erscheint „Der Brand“, ein Buch über die im Bombenkrieg getöteten deutschen Zivilisten. Ein Besteller. Genau wie der Roman über die toten Flüchtlinge der „Wilhelm Gustloff“, geschrieben von Günter Grass. Demnächst kommt dazu ein Spielfilm. Eine Serie über Flucht und Vertreibung im „Spiegel“ erreicht Millionen Leser. Und dann im letzten Jahr „Dresden“, großes Gefühlsfernsehen. Ein Quotenschlager. Die Geschichten der deutschen Opfer haben offensichtlich Konjunktur.
Bildunterschrift: Mahnt zur Vorsicht: der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler (Bild: hr)
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Hans-Ulrich Wehler: „Wenn man da nicht aufpasst, dann landet man in einem neuen Opferkult. Dann ist auf einmal Auschwitz, der Vernichtungskrieg gegen die Russen vergessen, dann strahlt sozusagen nur noch das deutsche Opfer“.
Das sagt der Altmeister der deutschen Sozialgeschichte. Unlängst forderte Hans-Ulrich Wehler, solche Themen gehören ausschließlich in die Hände von Wissenschaftern und mahnt zur Vorsicht: „Sehr ist darauf zu achten,“ sagt Wehler, „wer den Krieg in diesen Formen – auch des Bombenkriegs und der Vertreibung oder was man euphemistisch die Umsiedlung nennt, den Bevölkerungstransfer – wer das ausgelöst hat. Und das sind nun mal nicht die Engländer, die Polen, die Russen. Das ist die deutsche Politik. Das ist eine Leidensgeschichte, die schaukelt sich hoch, zunächst einmal ganz auf Kosten der Polen, der Holländer, der Engländer und dann erreicht sie eigentlich erst seit 1941 die deutschen Städte und dann nochmal zwei Jahre später die Vertriebenen.“
Vorgeschichte und Hintergründe der Vertreibung sichtbar machen, das tut dieser Film nicht, wohl aber sucht er geschichtspolitisch korrekt den richtigen Ton. Zeigt die Vergewaltigung deutscher Frauen durch Russen, aber auch die brutale Exekution von Zwangsarbeitern durch die deutsche Wehrmacht.
Produzentin und Drehbuchautorin Gabriela Sperl hat zwei Jahre lang die einschlägige Literatur durchforstet. Und adelige Zeitzeugen befragt. Und so ist ein zentrales Thema des Films auch die untergegangene Welt des ostpreussischen Adels. „Eine Elite, die versagte, weil sie kooperierte“, sagt die Produzentin.
Bildunterschrift: Szene aus „Die Flucht“ © ARD Degeto
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Und doch gibt Maria Furtwängler die Lena von Mahlenberg als ostpreussische Inkarnation von Tugendhaftigkeit, eine heroische Gestalt, die sich auch mal mit der SS anlegt.
Hans-Ulrich Wehler: „Fürsorge für das, was man ‚unsere Leute‘ nannte, unsere Landarbeiter, unsere Bauern, die noch immer von uns abhängig sind, wenn sie im Einzugsbereich des Ritterguts lebten, die ist selbstverständlich da. Aber man soll das auch nicht übertreiben, also diese heroische Verklärung, zu der auch die Gräfin Dönhoff –die ja eine imponierende Frau war, keine Frage – geneigt hat, dass man sozusagen glauben konnte, der ostpreussische Adel bestand nur aus Widerstandskämpfern und Tapferen auf der Flucht, das muss realistisch zurückgeschnitten werden. Aber was ganz falsch ist, ist die Darstellung, als wenn die Flüchtlingstrecks überwiegend von Adeligen angeführt worden wären. Ostdeutschland ist ein Bauernland und noch nicht einmal die Hälfte des Landbesitzes ist in der Hand des Adels, schon gar nicht mehr zu dieser Zeit. Und wer aufbricht, das sind die mutigen Dorfschulzen.“
Hier in dem Film ist es nicht so. Trotzdem: auch wenn er eine wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht ersetzt, er kommt sicherlich einem Bedürfnis entgegen – dem Leiden vieler Deutscher Ausdruck zu verleihen.
Dieser Text gibt den Fernsehbeitrag vom 25.02.2007 wieder. Eventuelle spätere Veränderungen des Sachverhaltes sind nicht berücksichtigt.
Externe Links
wikipedia.de:
Hans-Ulrich Wehler