Die Familien der beiden Tänzerinnen dürfen nicht wissen, dass diese in der Folkloretruppe tanzen. Nach der Show ziehen die Mädchen einen Minirock an und setzen eine Baseballmütze auf.
Die algerischen Frauen gelten als besonders mutig: Sie demonstrierten gegen Fundamentalisten oder Generäle, und selbst während der schlimmsten Jahre des Terrors übten sie trotz aller Einschüchterungen weiter ihren Beruf aus. Sie machen nur acht Prozent der aktiven Bevölkerung aus, aber da ist die informelle Wirtschaft nicht eingerechnet, und es wird geschätzt, dass eine halbe Million Frauen schwarzarbeiten. 15 Prozent der Firmen in Textil, Immobilien, Dienstleistungsbereich und im Handel werden von Frauen geleitet. In den Straßen von Algier beeindrucken die Polizistinnen, die souverän den Verkehr regeln! Was die Sicherheit angeht, hat sich die Lage in Algerien in den letzten Jahren beruhigt. Nach den Massakern und Attentate der 90er Jahre, einem Bürgerkrieg zwischen Armee und Fundamentalisten, der 200 000 Tote forderten, leben die Menschen wieder, gehen wieder aus. Es gibt Pilotinnen und Ministerinnen, aber das sind natürlich die Ausnahmen. Die Algerierinnen leben zwischen Tradition und Moderne, und in dem muslimischen Land tragen sie bisweilen auch schwer am Einfluß der Religion, die zum Beispiel bis zu vier Ehefrauen erlaubt! Wie leben die Algerierinnen heute?
Wenn die algerischen Frauen durch einen schnellen Zungenschlag ihre Juju-Töne von sich geben, erreicht die Stimmung Höhepunkte, auf Festen, Konzerten oder wie hier auf dem Festival des Saharatourismus in Biskra. Die 180 000 Einwohner-Stadt liegt etwa 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier, an der Pforte zur Saharawüste. Hier unterrichtet die 25jährige Salima an der Universität Englisch. Aber während des Tourismusfestivals kümmert sich die junge Frau mit dem tugendhaften Kopftuch begeistert um die ausländischen Gäste. Als Salima Kind war, kamen Touristen nach Biskra, doch seit dem Terrorjahrzehnt in den 90er Jahren sind Ausländer eine Seltenheit. Wie alle jungen Algerier dürstet es Salima danach, die Welt und ihre Menschen kennenzulernen. Gerne hätte sie in Frankreich studiert:
„Ich bin die älteste zu Hause, und meine Mutter wollte nicht, daß ich weggehe. Mein Bruder lebt bereits in Paris, sie will nicht, daß wir beide außer Haus sind. Ich will meine Familie nicht für immer im Stich lassen. Aber wir haben Zeit, wir haben Lust und den Willen, wir warten.“ Salima lebt bei ihrer Familie, wie alle ledigen Algerierinnen und Algerier. Auch Kadija, die weit über 30 sein dürfte. Die Schwarze stammt aus El Oued, einem anderen Ort im Süden. Sie zeigt im touristischen Dorf die selbst gewebten Kissen und Schals, die sie mit sieben anderen Frauen herstellt. Für 1500 Dinar, etwas mehr als 15 Euro, verkauft Kadija die reine Schafswolle mit Berbermotiven. Die anderen Frauen sprechen nur arabisch. Kadija kann ein bißchen französisch, läßt sich aber von Salima helfen:
„Es gibt immer mehr Ledige in Algerien, die Zahl der Kinder geht zurück“, erklärt Salima. Kadija lacht, als Salima ausführt: „Sie sucht noch den idealen Partner, sie hat ihn noch nicht gefunden. Es gibt genügend Männer, aber auch sie haben Gründe, ledig zu bleiben: kein Geld, keine feste Arbeit… Es sind vor allem materielle Gründe, sonst würde jeder heiraten wollen.
Früher oder später brauchen wir einen Ehemann. Wann, wird die Zukunft zeigen.“
Durch die spätere Heirat geht auch die Zahl der Kinder zurück. Im Schnitt bekommt eine Algerierin heute 3,3 Kinder – die Generation ihrer Mütter bekamen noch sieben! Wie die 76jährige Frau, die an einem Webstuhl sitzt. Die Tätowierungen hat man ihr mit 14 auf Stirn und Wangen gemacht hat.
„Mit diesen Zeichen unterscheiden sich die Frauen von den Männer. Früher machten sie das nicht, um schön zu sein, sondern als Symbol, anders zu sein.“ Diese Frau war nicht in der Schule, sie kann nicht lesen und nicht schreiben, wie 40 Prozent der Algerierinnen, vor allem die alten auf dem Land. Schon in der Hauptstadt sind nur noch ein Fünftel der Frauen Analphabetinnen. Wie sieht die Großmutter am Webstuhl das Leben der Mädchen heute?
„Mein Leben war sehr hart. Ich habe alles selbst gemacht: das Getreide verarbeitet, die Teppiche, alles von Hand. Wir hatten kein Gas, keinen Strom, alles von Hand. Zu Kolonialzeiten kannten wir die Misere, aber heute ist es besser. Mein Leben war sehr hart, viel härter als heute.“
Während des Algerienkrieges schmuggelten die Frauen Waffen, nahmen aktiv teil am Kampf für die Unabhängigkeit ihres Landes. Auch die 84jährige Madame Ait Gana war eine Moujaheddine, eine „Kämpferin für die Unabhängigkeit.“ Ait Ganas Ehemann wurde während des Algerienkriegs gefoltert und ermordet, als sie mit ihrem 3. Kind schwanger war. Mit ihren eigenen Händen und einem Messer tötete sie denjenigen, der ihren Ehemann an die Franzosen verraten hatte. Heute lebt die Großmutter bei Tochter und Enkel in Algier. Die Frau redet in der Berbersprache Amazight.
„Heute sind die jungen Mädchen ausgebildet und kultiviert, aber sie haben nicht mehr dieselbe Kultur. Sie hatten damals einen Sinn für Ehre. Heute ziehen sich die Mädchen nackt aus, haben fremde Werte angenommen und ihre Kultur und Religion beiseite gelassen. Das ist nicht meine Welt, nicht meine Auffassung von der algerischen Frau.“
„Das ist eine Frauenangelegenheit“, sagt Djamel, ihr Enkel. Seine Freundin, die Journalistin Fella, übersetzt die Worte der Grossmutter: „Sie sagte, zu ihrer Zeit sah eine Frau ihren Ehemann nicht vor der Hochzeit. Heute sei das Gegenteil der Fall. Die junge Frau sieht ihren künftigen Mann, und wenn sie einmal verheiratet sind, lassen sie sich scheiden.“
Zwischen der 84jährigen Großmutter und der 38jährigen Fella liegen nicht nur Generationen, sondern Welten. Denn heute trainieren die algerischen Fußballerinnen in Shorts in den Stadien! Fella trug während der Jahre des Terrors, als die Fundamentalisten Frauen ohne Schleier bedrohten, weiterhin einen Minirock. Die Bärtigen wollten die Frauen auch wieder an den Herd schicken. Doch das Gesundheits- und Erziehungswesen würde zusammenbrechen, denn da belegen die Frauen 80 Prozent der Arbeitsplätze. Auch als Ende der 80er Jahre eine private Presse entstand, drängten Frauen in den Journalismus. Wie Fella: Sie sei eine Rebellin, meint die Algerierin.
„Mit 38 ledig zu sein, wird in Algerien schlecht angesehen. Selbst in Algier. Man glaubt, die Hauptstadt ist kosmopolitisch, aber die Mentalitäten sind nicht so. Die Hochzeit ist für uns eine Institution, für den Mann wie für die Frau, und Leute möchten, daß alle in diesen Rahmen leben. Ich erkenne mich darin nicht,. Wenn ich eines Tages heirate, dann weil ich die Person gefunden habe, mit der ich mich verstehe. Zumal eine geschiedene Frau auch nicht gerade gut angesehen ist!
Die jungen Algerier sind Männer, die eine gewisse sexuelle Freiheit haben wollen. Solange er ledig ist, nimmt er alle Mädchen, die er kriegen kann. Aber wenn er heiraten will, möchte er eine Jungfrau! Für mich ist das ein Widerspruch. Du willst alle Mädchen haben, und wer soll dann als Jungfrau übrig bleiben, wenn du heiraten willst? Das ist die Frage.“
Daß Präsident Bouteflika endlich ein Wahlversprechen wahr gemacht hat und das Familiengesetz, der „code de la famille“, reformierte, geht Fella nicht weit genug. Denn nun kann eine Frau zwar ohne die Erlaubnis ihres Vaters oder eines Vormunds heiraten, doch die Polygamie ist weiterhin erlaubt:
„Die Polygamie bleibt, aber die ersten Ehefrauen müssen einverstanden sein. Man spricht von vier Frauen. Das Problem ist die Interpretation und die Umsetzung. Ein anderer Artikel besagt, daß im Scheidungsfall ein Junge Anspruch auf Unterhalt hat bis 12 Jahre. Aber mit 12 ist er noch ein Kind. Diesen Gesetzesartikel müßte man ändern. Denn wenn der Vater nicht mehr Unterhalt bezahlt und die Mutter mit einem anderen Mann lebt, könnte der das Kind mit 12 vor die Tür setzen. Der Unterhalt für Mädchen geht entweder bis zur Volljährigkeit oder bis zur Heirat. Und mit 18 will sie jeder verheiraten, weil sie dann wieder eine Belastung wird. Diese Artikel müßte man ändern, denn sie sind am schädlichsten.“
Auch Salima und Kadija in Biskra begrüßen das Gesetz, das im letzten Jahr endlich verabschiedet wurde.
„Klar interessiert uns das sehr, denn das gibt den Frauen mehr Rechte als früher. Es gibt Fälle von Scheidungen, wo die Frauen gar nichts haben, keine Wohnung, keine Pension für die Kinder. Das hat sich nun geändert. Das ist heute besser.“ Kadija pflichtet bei. Salima bleibt dennoch skeptisch: „Die Idee des Gesetzes gefällt uns, wie es umgesetzt wird, wissen wir noch nicht.“
Im Falle einer Scheidung behalten Frau und Kinder künftig die Wohnung. Damit dürfte es weniger Bettlerinnen geben, die, manchmal mit Kleinkindern, in der Straße leben. Diese verhüllen sich aus Scham, tragen Schleier oder den Haik, das traditionelle helle Tuch, das die Frauen über Kopf und Schultern schlagen. In Algier ist die Mehrheit der Frauen westlich gekleidet, aber ältere Frauen sieht man ab und zu mit dem Haik, und junge Mädchen immer öfter mit dem Kopftuch. Ob mit Kopftuch oder im Minirock: In Algerien kümmern sich nach wie vor die Frauen um Haus und Kinder, kochen für Mann und Gäste. Und sie haben dabei auch noch ein Lächeln auf den Lippen!
Weitere Infos über Algerien: www.martinazimmermann.blogspot.com