Der vielleicht schönste, eindrucksvollste, bewegendste Artikel von Reinhard Mohr in spiegel-online: über einen Dokumentarfilm, der heute am PODSDAMER PLATZ in BERLIN PREMIERE hat: den schönsten, eindrucksvollsten, bewegendsten Film über einen Sommer, der wie für die Ewigkeit gemacht war…der Sommer 2006…kurz: „Die WM!“
03. Oktober 2006
WORTMANNS WM-FILM
„Das ist unser Spiel! Das ist unser Spiel!“
Von Reinhard Mohr
Man hat es fast schon vergessen: Vor drei Monaten sorgte die deutsche Nationalelf bei der Fußball-WM für ein anderes, euphorisches Deutschlandgefühl. Sönke Wortmanns „Deutschland – ein Sommermärchen“ holt die Emotionen zurück. Und zeigt einen Klinsmann, wie man ihn noch nie gesehen hat.
Na toll. Jetzt haben wir wieder Gesundheitsreform rund um die Uhr. Merkel-Chaos. Münte-Falten. Pofalla-Näseln. Kurt-Beck-Speck. Niemand blickt mehr durch. Nicht einmal Professor Rürup. Auch egal. Derweil setzen die islamistischen Terroristen ihren Kofferbomben-Dschihad fort, und die ihm vorauseilende Angst macht weder vor dem Papst noch vor Mozart-Opern halt. Dazu gibt’s Wahlerfolge der Neonazis und tonnenweise weiteres Gammelfleisch, und, natürlich, Günter Grass, die alte Zwiebelhaut. Nicht zu vergessen das „Eva-Prinzip“. Und kein Ulrich Wickert mehr, der wenigstens eine „geruhsame Nacht“ wünscht.
Kinowelt
Das Deutschlandgefühl im Herbst 2006, ein grimmiges Wintermärchen: „Ein feuchter Wind, ein kahles Land/ Die Chaise wackelt im Schlamme“ klagte schon Heinrich Heine in der holprigen Kutsche. Hinter Paderborn wurde es auch nicht besser. Besser? War es tatsächlich mal irgendwo und irgendwann besser bei uns? So richtig schön? Klasse, geil, cool, wunderbar, traumhaft, locker, leicht?
Ja doch.
Wer’s partout nicht glauben will, kann ab Donnerstag ins Kino gehen. Denn jetzt gibt es mit Sönke Wortmanns „Deutschland – ein Sommermärchen“ den offiziellen Film zur fast schon vergessenen Wirklichkeit. Gerade mal drei Monate ist es her. Nur zur Erinnerung: „Wir stehen regelrecht unter Schock“, zitierte André Heller damals viele internationale Beobachter. „Die Deutschen sind uns plötzlich sympathisch!“
Oh Schreck, wie konnte es so weit kommen? So fragte nicht nur das deutsche Feuilleton, das sogleich eine Patriotismusdebatte eröffnete – über den ausufernden schwarzrotgoldenen Flaggenschmuck, das massenhafte Mitsingen der Nationalhymne und jenes merkwürdige Phänomen, dass nun auch junge Frauen die Abseitsregel erklären konnten.
Heimvideo für die Ewigkeit
Sönke Wortmanns 108-minütiger Dokumentarfilm über die deutsche Fußballnationalmannschaft vor und während der WM, der heute, am „Tag der deutschen Einheit“, am Potsdamer Platz in Berlin Premiere feiert, ist zunächst ein selten intimer Blick hinter die medialen Kulissen der Klinsi-Kicker, die unbedingt Weltmeister werden wollten. Fußballdeutschland privat. Eine Art Heimvideo für die Ewigkeit.
Zugleich aber ist Wortmanns Film eine Innenaufnahme deutscher Seelenzustände im Sommer 2006, das Protokoll einer Veränderung, die Skizze einer neuen Generation, das bewegte und bewegende Album eines anderen Lebensgefühls in Deutschland. Und damit auch eine Antwort auf die Frage, warum die Deutschen plötzlich so sympathisch wirkten und was es mit dem seltsamen „Partyotismus“ auf sich hatte.
Mit seiner Panasonic-Handkamera, einer sogenannten „Digicam“, hat Wortmann, das Plazet von DFB und Fifa in der Tasche, insgesamt zwei Jahre lang auf den Zufall, den Augenblick, die Stimmung gewartet. Er durfte in die Mannschaftskabine und aufs Zimmer der Spieler, zum Training und an die Massagebank, in die WM-Stadien und in den Teambus. Sein zweiter Kameramann Frank Griebe übernahm die Außenaufnahmen, jubelnde Fans und Stadionszenen. Etwa 100 Stunden gedrehtes Material kam so zusammen, das von Schnittprofis erst massiv, dann fein und feiner eingedampft wurde.
Als es noch fünf Stunden waren, „begann es spannend zu werden“, sagt Wortmann, dessen Spielfilmdebüt „Allein unter Frauen“ 1991 den Reigen der „Beziehungsfilme“ in den neunziger Jahren einleitete. Berühmt und erfolgreich wurde er 1994 mit dem Zeitgeist-Epos „Der bewegte Mann“, das sechseinhalb Millionen Zuschauer anzog. Zuletzt brachte er „Das Wunder von Bern“ (2003) in die Kinos, eine dramatische Reminiszenz an den legendären Gewinn der Fußballweltmeisterschaft von 1954.
Effiziente Amerikanisierung
Am Anfang seines neuen Films ist Stille. Totenstille. Leere Gesichter. Nichts als Schweigen und Niedergeschlagenheit in der Mannschaftskabine nach dem 0:2 gegen Italien im Halbfinale. In letzter Sekunde hatten Totti & Co. den Traum vom WM-Finale zerstört. Das ganze Land war plötzlich in eine merkwürdige Stille und Gedämpftheit verfallen, in Traurigkeit und Enttäuschung, die jedoch keineswegs in Aggressivität umschlugen. Nur zum „Italiener“, mit Verlaub, mochte man erstmal nicht mehr gehen. Die Nahrungsaufnahme zwischen Pizza und Pasta wurde massenhaft verweigert.
Rückblende. Trainingslager auf Sardinien sieben Wochen zuvor. Die „Spielerfrauen“, die wie eine Modelschule auf Klassenausflug wirken, posieren in der Sonne, während Poldi und Schweini Bowling spielen, in Aldiletten herumalbern und zwischendurch von den amerikanischen Fitnessprofis im Kraftraum hart rangenommen werden. Dabei absolvieren sie gymnastische Übungen, über die „Ente“ Lippens, „Katsche“ Schwarzenbeck und „Stan“ Libuda nur den Kopf geschüttelt hätten.
Diese Art von Amerikanisierung der Verhältnisse lässt man sich freilich gerne gefallen: Effektiv, erfolgreich und elegant zugleich. „Deutsche Tugenden“, erklärt der damalige Co-Trainer Jogi Löw, „die sind doch sowieso nur noch die Grundlage“. Mit ihnen allein könne man heute keinen Blumentopf mehr gewinnen. Und so arbeiten nicht nur die kalifornischen Fitnessexperten, sondern auch Manager Oliver Bierhoff und der deutsche Psychologe Dr. Hans-Dieter Hermann, die Physiotherapeuten und Mannschaftsärzte, der Zeugwart, der – italienische! – Koch, der Dolmetscher, der Busfahrer und – last, but not least – der „Scout“ Urs Siegenthaler, der jeden Grashalm auf Costa Rica persönlich kennt, gemeinsam am großen Projekt WM 2006.
„Deutschland – ein Sommermärchen“: Deutsch, aber glücklich
Das alles aber wäre nichts ohne die schwäbische Klinsi-Power, ohne den großen Motivator, der die Jungs auf die einmalige Chance einschwört, die „nie wieder kommen wird, für keinen von uns!“ Wohl noch nie hat man den sanften Blonden so gesehen wie in Wortmanns Film: Den Oberkörper in ständiger Bewegung, sich teils tänzelnd, teils markig um die eigene Achse drehend richtet, besser: schreit er seine Kabinenpredigten kurz vor dem Spiel an die Mannschaft, die mit hochgezogenen Augenbrauen und hoch gerollten Stutzen auf den Bänken sitzt: „Da brennt der Baum! Das ist unser Spiel. Das ist unser Spiel! Das lassen wir uns von niemand nehmen! Schon gar nicht von Polen!“
Vieles spielt sich im Bett ab
Stopp! Keine politisch korrekte Angst hier: Das hätte er auch über Uruguay gesagt. Und weiter geht’s, sei der Gegner nun Schweden, Argentinien oder Italien: „Die stehen mit dem Rücken zur Wand! Und wir, wir drücken die durch die Wand! Die haben Muffe vor Euch! Muffe, sag‘ ich! Denen müssen wir auf die Fresse geben! Heute sind sie fällig! Die hau’n wir weg!“
Wenige Minuten vor dem Italien-Spiel zeigt sich Torsten Frings als gelehriger Klinsi-Schüler: „Wir gehen jetzt raus und hau’n die Scheiße weg!“, vergattert er die Mannschaft. Es ist diese konkrete Poesie, deretwegen wir den Fußball lieben, und Sönke Wortmanns Sommermärchen liefert einige Strophen zum großen Gesang.
Vieles spielt sich im Bett ab, dem bevorzugten Ort für Gespräche mit den Spielern, abseits der Partyzelte, Bankettsäle und Lounge-Landschaften im Schlosshotel Grunewald. Vieles ist spontan, freiwillige oder eher unfreiwillige Situationskomik – ob bei Oliver Neuvilles Problemen mit der Urinprobe, Kloses rasanter Frisurveränderung oder beim Hotel-Besuch der Bundeskanzlerin, den Bastian Schweinsteiger, der Mannschaftsclown, feixend für ein politisches Statement direkt in die Kamera nutzt: „Steuersätze runter!“ Hier und da ist der Mannschafts-Junior auch mit der „Schweinicam“ in Aktion.
Taktik hin, Wade her
Doch Taktikbesprechung hin, Ballacks Wade her – all das ist kein Heldenepos, keine nationale Oper, kein kitschiges Rührstück, auch keine verlogene Doku-Soap à la „Elf-Freunde-müsst-Ihr-sein“. Wortmanns Film ist schon eher ein Kammerspiel, anrührend und bewegend, doch überwiegend unprätentiös und ohne saftig schmelzenden, schon gar nicht patriotischen Klangteppich.
Der Soundtrack ist pointiert und wirkungsvoll, aber angenehm nüchtern und zurückhaltend. Die entscheidenden Spiel- und Torszenen werden nur wie optische Stichworte zitiert, die der Chronologie der Ereignisse folgen. Gegen Ende freilich, nach der überwundenen Schockstarre des verlorenen Halbfinales, kommt das Crescendo, braust der Jubel auf, eine kleine deutsche Apotheose: „Marmorstein und Eisen bricht…!“ singt die Mannschaft nach dem Sieg über Portugal in Stuttgart wie entfesselt, und auch der smarte Oliver Bierhoff legt nun alle Zurückhaltung ab.
In ganz Deutschland wurde der dritte Platz – fast – wie der WM-Titel gefeiert, und das war schon die halbe Antwort auf die Frage, die Sönke Wortmanns Film vervollständigt: Effizienz und Lockerheit, Entschlossenheit und Leichtigkeit, Selbstbewusstsein und Selbstironie – das geht zusammen in Deutschland. Und ohne es darauf anzulegen, zeigen die Klinsi-Jungs, dass ihnen alles martialische Gehabe fremd ist. Sympathisch fremd.
Wie nebenbei dokumentiert der Film durch seine eigene Dramaturgie und Tonlage, dass es im Sommer 2006 da eine historische Zäsur gegeben hat, die auch die 28. Gesundheitsreform nicht mehr ungeschehen machen kann: Deutsch, aber glücklich. Mehr als ein Sommermärchen.