Einer der stimmungsbild-reichsten Artikel am Tag danach…nach dem Aus für die deutsche Mannschaft in der WM-Zielgerade…Daher in die preisgekrönt-Rubrik: SUPISSIMA.
OVB-online (Oberbayrische Volkspresse)
Mitgefühl aus vier Kontinenten
Dortmund/Berlin – Der Tag danach ist unwirklich schön. Keine Wolke über Berlin, um acht Uhr morgens ist es schon so sonnig, dass ein „Nüscht wie raus nach Wannsee“-Gefühl aufkommen könnte. Doch das alles passt nicht zu diesem 5. Juli 2006. Es fahren noch Autos mit Deutschland-Fahnen links und rechts an den Türen, doch es scheint, als flatterte das nationale Emblem auf halbmast. Und auf den Wangen der Mädchen verblassen die Schwarz-rot-gold-Tattoos.
Vielleicht wirkt das auch nur so, weil die Wangen fahl geworden sind. Berlin ist heiß und traurig, ganz Deutschland ist traurig.
„Aus, aus, aus, das Spiel ist aus, Deutschland wird Weltmeister“ – das war der Ausruf von Hörfunkreporter Herbert Zimmermann am 4. Juli 1954 gewesen; der Satz zum 3:2-Finalsieg bei der Fußball-WM über Ungarn, oft bezeichnet als die eigentliche Geburtsstunde der Bundesrepublik.
119. Minute: Der Traum ist aus
Der Berliner „Tagesspiegel“ lehnte sich 52 Jahre und einen Tag später an das legendäre Zitat an: „119. Minute: Der Traum ist aus“, titelte das Blatt gestern zum Ende im Halbfinale gegen Italien. 0:2. Das zweite Gegentor war egal, das erste reichte aus als Schlag. Mehr Wucht, mehr Brutalität ging nicht. Man konnte es auch der entrückten Jubelmiene des italienischen Schützen Fabio Grosso ansehen, welche unglaubliche Geschichte der Fußball da mal wieder geschrieben hatte.
Zunächst hatte Bundestrainer Jürgen Klinsmann an das Ziel Weltmeisterschaft geglaubt, dann die Mannschaft, am Ende das ganze Land. In einer Minute, eine halbe Stunde vor Mitternacht am Dienstagabend, war der Traum zerstört. Deutschland einig Tränenland. Auf den Rängen wurde geheult – und in der Kabine.
Michael Ballack, dem Kapitän der Mannschaft, sagt man oft Gefühlskälte nach und Geschäftstüchtigkeit als Hauptmotiv seines fußballerischen Wirkens – doch auch Ballack hat geheult. Zuerst auf dem Feld des Dortmunder Stadions, er hat dagegen angekämpft, den Unterkiefer vorgereckt, als könnte er die Tränenkanäle dadurch so weit strecken, dass es das Wasser nicht nach draußen schafft. Danach musste er durch die Mixed Zone, in der die Reporter auf Statements warten. Ballack konnte noch über die Entstehung des italienischen Tores reden, über ein paar spieltechnische Dinge, doch als es um die Emotionen ging, musste er abbrechen – die Tränen waren wieder da.
Bundespräsident Horst Köhler und Bundeskanzlerin Angela Merkel waren in der Kabine in Dortmund gewesen, hatten jedem die Hand gegeben – die Spieler ließen die Prozedur an sich vorbeirauschen. „Im Flugzeug wurde kaum gesprochen, auch im Hotel in Berlin nicht, wo wir um drei Uhr nachts ankamen“, erzählte Manager Oliver Bierhoff am Mittwoch in der DFB-Pressekonferenz. „Um vier, halb fünf haben wir dann angefangen, über das Spiel zu diskutieren, um fünf sind aber alle ins Bett gegangen.“
Zur Pressekonferenz kommt kein Spieler. Bierhoff ist da, seine Stimme droht einige Male auszubrechen, er sagt: „Wir haben wunderbare Wochen erlebt mit der Mannschaft“ und „Man merkt die Einmaligkeit des Ereignisses.“ Das ist vorbei. Jetzt ist da: „Leere.“ Nur DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder steht unerschüttert da, der Fels in der Trauerbrandung: „Ich habe mir das Spiel heute Morgen nochmals angesehen“, sagt er und analysiert die entscheidenden Passagen durch: „Die Abgeklärtheit hat uns gefehlt.“
Man sieht der jungen Klinsmannschaft das aber nach, denn sie hat höhere Zielsetzungen verwirklicht. Sie hat, so Mayer-Vorfelder, „fröhlichen Nationalismus“ geschaffen. „Die Leute hier in Berlin sagen mir, solch eine Stimmung haben sie nur bei der Wiedervereinigung erlebt.“
Woran kann man sich festhalten im freien Fall der Gefühle? DFB-Mediendirektor Harald Stenger hat die E-Mails mit Glückwünschen und tröstenden Inhalten gezählt, die in den ersten zwölf Stunden nach der Halbfinal-Niederlage eingetroffen sind in Verbandszentrale und Berliner WM-Quartier: „2100 aus vier Kontinenten.“ Er listet auf, wo man Freunde hat, wo es Mitgefühl gibt: „USA, Kanada, Australien, England, Frankreich, Italien, Niederlande, Slowakei, Rumänien, Schweiz, Österreich, China, Vietnam, Iran, Taiwan.“
Kurios und doch auch ergreifend, dass Mails aus Italien dabei waren, aus dem Land des Bezwingers. Das deutsch-italienische Fußball-Verhältnis gilt als kompliziert, und man hat es in der Nacht auf den 5. Juli spüren können, wie die Niederlage die deutsche Fan-Seele peinigte.
Es ist bunter Nach-Spiel-Trubel am überlaufenen Dortmunder Hauptbahnhof, ein Bürger in Pantoffeln reklamiert laut, „dass wir nur einen Fehler gemacht haben – und den haben die Maccaroni ausgenutzt.“ Es ist ein klein wenig die alte Wut der frühen 70er-Jahre.
„Wir sind nicht ausgeschieden, die WM geht noch weiter“, erinnert DFB-Manager Oliver Bierhoff daran, dass man am Samstag in Stuttgart das Spiel um Platz drei zu bestreiten hat. Am Mittwoch wollte sich damit noch niemand auseinandersetzen, am Nachmittag hat sich die sportliche Leitung mühsam zu einer Organisationsbesprechung gezwungen: Soll man am Freitag das Berliner Quartier auflösen, in Stuttgart auseinander gehen oder doch noch einmal zurückkehren ins lieb gewonnene Schlosshotel Grunewald, in dem man sich die Titelfeier schon ausgemalt hatte? Soll man noch einen Tag dranhängen, einfach so, das letzte Stück Stimmung festhalten?
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Das Beispiel bleibt
GÜNTER KLEIN
05.07.2006 20:13 Uhr