PRESSE-SCHAU: Artikel aus der „WELT“ – „Die mörderischen Schwestern von Sabine H.“
Die mörderischen Schwestern der Sabine H.
Medea, Evchen und Gretchen: Kindstötungen haben Schriftsteller seit der Antike immer wieder fasziniert
von Hendrik Werner
Das Bedrohliche und Unfaßbare, das von einer Mutter ausgeht, die ihre Kinder tötet, liegt in einem psychologischen Paradox begründet: in der Rücknahme einer zuvor selbst hervorgebrachten Schöpfung, in der Negation des eigenen Fleisches und Blutes. Das daraus resultierende dramatische Potential des „Infantizids“ hat zu allen Zeiten Mythen und Kunstwerke inspiriert, besonders literarische. Mutmaßlich zuallererst in Gestalt der sagenhaften Lilith, deren hebräischer Name „die Nächtliche“ bedeutet. In der jüdischen Mythologie wird sie als letzter Engel der zehn unheiligen Sephiroth beschrieben, als eine nachtaktive Dämonin, die Männern nachstellt, von ihnen hundertfach Kinder empfängt, um diese nach der Geburt zu töten.
Am wirkungsmächtigsten ist allerdings der Medea-Mythos, den Euripides um 430 vor unserer Zeit in ein Drama umwidmete, das in der Folge Schriftsteller von Seneca bis Anouilh, von Corneille bis Hanns Henny Jahn, von Grillparzer bis Heiner Müller zu Adaptionen mit unterschiedlichen psychologischen und historischen Akzenten inspirierte. Am nachhaltigsten hat sich Christa Wolf von der antiken Vorlage entfernt, in welcher Medea aus Rache zur Kindesmörderin wird, nachdem Jason sie verraten und verlassen hat. In dem Roman „Medea. Stimmen“ rehabilitiert Wolf die Figur nicht nur als Inbegriff eines Opfers des Patriarchats, sondern schreibt zudem den Kern der Überlieferung um: Nicht Medea ist es hier, die Hand an ihre Kinder legt. Vielmehr wollen die Korinther ihr, der ungeliebten Fremden, ein Verbrechen anhängen, um sich ihrer zu entledigen.
Fast ebenso nachhaltig für die Literatur, zumal für die Stürmer und Dränger, ist ein realer Fall, jener der Kindesmörderin Susanna Margareta Brandt, die 1772 in Frankfurt am Main öffentlich hingerichtet wurde. Sie hatte ihr ungewünschtes Kind heimlich geboren, es gewürgt und geschlagen und den Leichnam in einer Scheune versteckt. In den Kreisen junger Frankfurter Juristen wurde das Todesurteil als reaktionär angesehen (wie übrigens auch von Immanuel Kant, der 1797 in der „Metaphysik der Sitten“ dafür plädiert, daß unverheiratete Kindesmörderinnen straffrei ausgehen). Gleich zwei von ihnen, Heinrich Leopold Wagner in dem Trauerspiel „Die Kindermörderin“ (1776) und Johann Wolfgang von Goethe zunächst im „Urfaust“ (1772-1775), dann in „Faust. Der Tragödie erster Teil“ (1808) nehmen den Topos auf. Während Wagners Bearbeitung beschreibt, wie Evchen, ein bürgerliches Mädchen, durch Standesunterschiede und aristokratische Intrigen zur Tötung ihres unehelichen Kindes getrieben wird, scheint es in Goethes Adaption allererst der überkommene Tugendkanon der Gesellschaft zu sein, der Gretchen zur Mörderin an ihrem unehelichen Kind werden läßt. Auch Jakob Michael Reinhold Lenz‘ Drama „Die Soldaten“ (1776) sowie Balladen Gottfried August Bürgers („Die Pfarrerstochter von Taubenhain“, 1782) und Friedrich Schillers („Die Kindermörderin“, 1782) verarbeiten das historisch verbürgte Verhängnis der Susanna Margareta Brandt und ihres Kindes.
Das deutsche Märchen spielt zwar mit Andeutungen von Kindstötung, läßt es aber nicht zum Äußersten kommen. Nicht in „Hänsel und Gretel“, wo die -notabene – liebenden Eltern ihre Kinder zwar aussetzen, ihren möglichen Tod also billigend in Kauf nehmen, nicht aber selbst Hand an sie legen (das bleibt der letztlich glücklosen Hexe vorbehalten). Und auch nicht in der kruden Mär „Von dem Machandelbaum“, in dem eine gleichfalls liebende Mutter die fahrlässige Tötung ihres Sohnes durch dessen Schwester vertuschen will, indem sie die Leiche in Stücke hackt, sie in einen Topf tut und „in Sauer kocht“. Was an der Mutter grausam scheint, soll, der Liebe zu beiden Kindern geschuldet, eine andere Grausamkeit verdecken.
In jüngerer Zeit waren es hierzulande vor allem zwei Romane, deren drastische Tötungsszenarien verstören. In Elfriede Jelineks „Lust“ (1989) greift die Mutter zur „Plastiktüte, legt sie dem Kind über den Kopf und hält sie unten ganz fest zu, damit der Atem des Kindes darin in Ruhe zerbrechen kann“. Michael Kumpfmüller schließlich rekonstruiert in „Durst“ den Fall der Daniela J., die im Juni 1999 ihre beiden Kinder verdursten ließ – übrigens in Frankfurt an der Oder.