SUPISSIMA – „Politisch unkorrekt, aber notwendig“

Eine SUPISSIMA für den spiegel-online-Artikel vom 5. August 2005 : „Politisch unkorrekt- aber notwendig“ (Schönbohms Attacke), von Claus Christina Malzahn. (Zusammenhang von DDR-„Philosphie“ und den 9-fachen Babymorden in Frankfurt an der Oder).
SCHÖNBOHMS ATTACKE

Politisch unkorrekt – aber notwendig

Von Claus Christian Malzahn

Die Äußerungen des brandenburgischen Innenministers Schönbohm sind politisch ungeschickt gewesen. Doch während der Christdemokrat nach Antworten sucht, begnügen sich seine Kritiker mit billigen Betroffenheitsfloskeln und verschanzen sich hinter ostdeutschen Empfindlichkeiten.

Wer vor fünfzehn Jahren, im letzten Sommer der DDR, prophezeit hätte, dass die Nachfahren der SED in Ostdeutschland die kulturelle und politische Hegemonie gewonnen hätten, der wäre wahrscheinlich als notorischer Pessimist abgestempelt worden. Doch nichts weniger erleben wir im Jahr 2005, anderthalb Jahrzehnte nach Besiegelung der Wiedervereinigung. Ein nachdenklicher Satz des brandenburgischen Innenministers Jörg Schönbohm hat gereicht, um deutlich zu machen: Die Linkspartei führt nicht nur in den Umfragen, sie gibt in der ehemaligen DDR inzwischen auch den Ton der jeweiligen Debatte an.

Das zeigen die hysterischen Distanzierungen von Jörg Schönbohm, der laut darüber nachgedacht hat, warum in Frankfurt Oder neun Säuglinge von ihrer Mutter umgebracht worden sind – und nicht in Frankfurt am Main. Politisch korrekt ist das nicht, schon gar nicht in Wahlkampfzeiten. Politisch notwendig ist es dagegen schon – ob nun Wahlkampf ist oder nicht.

Schönbohm hatte postuliert, dass die Politik der sozialistischen Vermassung und das Konzept der Delegierung von persönlicher Verantwortung, wie sie in der DDR nun einmal 40 Jahre stattgefunden hat, etwas mit den heutigen Problemen in Ostdeutschland und deshalb auch mit einem scheußlichen Verbrechen in Frankfurt/Oder zu tun haben könnte. Der General a.D. wollte mit seiner Bemerkung, die erzwungene Proletarisierung habe im Osten zu einer Erhöhung der Gewaltbereitschaft geführt, eine Debatte lostreten.

Mag sein, dass seine Worte eine Steilvorlage für den politischen Gegner gewesen sind. Schönbohms Bemerkungen sind aber längst nicht so peinlich wie die Attacken seiner Kritiker, die ihm nun unterstellen, er hätte jeden einzelnen ehemaligen DDR-Bürger zu einem Gefühlskrüppel erklärt und wolle 16 Millionen in Beugehaft nehmen. Seine Untat war es, eine Erklärung dafür zu suchen, warum in Frankfurt an der Oder eine Frau offenbar schon in der DDR völlig unbemerkt mit einer in Europa wohl bisher einmaligen Verbrechensserie beginnen konnte.

Wäre die PDS tatsächlich die Partei, für die sie sich ausgibt – nämlich ehrliche Maklerin ostdeutscher Geschichte und Gegenwart – sie hätte diese Debatte als erste begonnen. Stattdessen höhnt sie nun über einen naiven westdeutschen Ex-General, der geglaubt hat, man könne 15 Jahre nach der deutschen Einheit vernünftig über die letzte Diktatur auf deutschem Boden sprechen – und sich dabei im Ton vergriffen hatte.

Dabei haben diejenigen, die nun über Schönbohm herfallen, außer Betroffenheitsfloskeln kaum etwas zur notwendigen Rationalisierung der barbarischen Tat beigetragen. Stattdessen nutzt die Linkspartei – also die PDS also die alte SED minus Egon Krenz und Co. – die Gelegenheit, den missglückten Erklärungsversuch zu Wahlkampfzwecken zu missbrauchen. Und anstatt vielleicht selbst ein intelligentes Argument in die notwendige Debatte um die Verbrechen zu werfen, pfeift die ostdeutsche Spitzenkandidatin Angela Merkel ihren Parteifreund zurück.

Die DDR war ein auf totalitäre Gewalt gegründeter Spitzel- und Polizeistaat, der in dem Moment zusammenbrach, als die Rote Armee – anders, als am 17. Juni – im inneren Krisenfall in den Kasernen blieb. Sie war keine kommode Diktatur, wie Günter Grass das einmal geschrieben hat. Sie war ein „gesellschaftliches Experiment“, das mit Hilfe einer fremden Armee mehr als 40 Jahre lang seine Bürger als sozialistische Manövriermasse betrachtete. Über 1000 Menschen bezahlten das mit ihrem Leben, weil sie von Ost nach West fliehen wollten, mehr als 70 000 landeten allein deshalb im Gefängnis. Das und vieles mehr gerät inzwischen in Vergessenheit. Der PDS ist es tatsächlich gelungen, nach der Wende in Ostdeutschland jene DDR-Identität zu konstituieren, die es vor der Wende, als die DDR noch existierte, kaum gegeben hat. Diese Diktatur der SED, von der die Ostdeutschen sich schließlich selbst befreiten, hat tiefe Spuren hinterlassen. Jede totalitäre Herrschaft verdirbt die guten Sitten, knechtet den freien Willen, verführt den menschlichen Anstand. Dass der Kapitalismus auf seine Weise ebenfalls Seelenunheil anrichtet, spricht nicht dagegen, die Ost-Debatte zu führen.

Die PDS aber rechtfertigt die Existenz der DDR bis heute als legitimes Experiment nach dem Nationalsozialismus. Die Vordenker der PDS behaupten zudem, die „Summe der Repression in der DDR und der heutigen Bundesrepublik“ sei „in etwa gleich“. Auch deshalb wehren sie den Versuch, etwas geschichtlichen Grund in diese nebelhaften Taten zu bringen, mit aller Macht ab.

Die These, dass Ulbrichts und Honeckers brutale Kybernetik auch ihren Anteil am Tod der Säuglinge in Frankfurt an der Oder haben könnte, ist es deshalb Wert, zumindest untersucht zu werden. Vielleicht erklärt sie nicht die Tat, aber doch das beredte Schweigen, das diese Tötungen auch ermöglichte. An die Frage nach den Spätfolgen der „erzwungenen Proletarisierung“ (Schönbohm), dem Konzept der sozialistischen Dörfer (ohne Kirche) und der sozialistischen Stadtlandschaften (ohne urbanen Zufall und Individualität) schließt sich übrigens eine zweite, ebenso unangenehme Frage an. Was bedeutete in der späten DDR ungeborenes Leben?

Als die Täterin in Frankfurt Oder das erste Neugeborene umbrachte, galt in der DDR eine Regelung, die vom damaligen Arbeitgeber ihres Mannes – der Staatssicherheit – im Zweifel organisiert und exekutiert wurde. Jede vietnamesische Vertragsarbeiterin, die beispielsweise in Halle arbeitete und schwanger wurde, hatte die Wahl: Sofortige Abtreibung oder Ausreise. Das war die Realität des realen Sozialismus. Ein westdeutscher Innenminister, der heute versucht, die DDR-Mythen beiseite zu räumen um besser verstehen zu können – der trägt mehr zur Aufklärung bei , als eine Klientel, die nach einem unbegreiflichen Verbrechen nebenan gleich wieder die Jalousien runterlässt.

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