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SPIEGEL ONLINE – 07. Oktober 2003, 5:54
URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,268513,00.html
SPD-Rebellen
„Unglaublich, wie die abgehalftert werden“
Von Horst von Buttlar
Manfred Coppik leidet mit den SPD-Rebellen. Einst hatte er selbst gegen Kanzler Helmut Schmidt aufbegehrt – und dessen Sturz 1982 erlebt. Er weiß von dem Druck, den Beschimpfungen, den Drohungen, denen nun etwa der SPD-Abgeordnete Klaus Barthel ausgesetzt ist – und vom Berufsrisiko Machtverlust.
DDP
SPD-Abweichler Klaus Barthel: „Das war heftig, so was zu hören“
Es gibt Tage, da will Manfred Coppik am liebsten zum Hörer greifen. Der ehemalige SPD-Politiker, der Anfang der achtziger Jahre gegen Helmut Schmidt aufbegehrte, sitzt in seiner Kanzlei in Frankfurt – doch mit seinen Gedanken ist er derzeit oft in Berlin, bei der Gruppe von SPD-Abgeordneten, die in diesen Tagen gegen Gerhard Schröders Agenda 2010 Sturm läuft. „Ich weiß, wie schwer die Situation ist“, sagt Coppik, „man steht im Grunde loyal zu der Partei, doch wird als derjenige hingestellt, der dem Laden großen Schaden zufügt.“ Ein Anruf, dachte er, kann vielleicht gut tun. Doch dann zögerte er. „Ich weiß nicht, ob es hilft, wenn ich jetzt hier aus der Versenkung auftauche.“
Dabei sind es gerade solche Anrufe, die Leute wie Klaus Barthel durch den Tag tragen. „Anders würde ich das gar nicht aushalten“, sagt er. Klaus Barthel ist SPD-Bundestagsabgeordneter, einer der sechs so genannten „Abweichler“, die derzeit unter Dauerfeuer stehen. Er ist kein Rebell, schon gar kein Rädelsführer. Seine Stimme ist leise und unaufgeregt. Seit 1994 sitzt er im Bundestag, in der letzen Wahlperiode leitete er noch den leicht staubigen Unterausschuss für Telekommunikation und Post. Jetzt sieht er sein Foto mit fünf anderen Gesichtern in der Zeitung, gibt im Fernsehen Interviews. Sein Name taucht auf, wenn Politiker über die Sprengung von Rot-Grün orakeln. Eigentlich müsste ihm das Spektakel um seine Person gefallen.
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Es gibt keine Gruppe von Verschwörern
Doch Barthel inszeniert sich nicht. „Die Diskussion wird sehr stark auf Personen zugeschnitten“, meint er, „es gibt aber keine abgekapselte Gruppe, die sich jeden Tag trifft und Pläne ausheckt.“ Es geht Barthel um die Reformpolitik der Regierung Schröder und um etwas Grundsätzliches. „Die zentrale Frage ist: Wie geht man mit Menschen und deren Meinungen um.“ Die Abweichler in der SPD wurden angefeindet, gemaßregelt und von Fraktionschef Müntefering als „feige und kleinkariert“ beschimpft.
DPA
Herbert Wehner im Bundestag: „Das Ende wird schauerlich sein“
„Als ob es feige wäre, nicht mit der Mehrheit abzustimmen“, schimpft Politik-Veteran Coppik in Frankfurt. Gerade der menschliche Umgang in der SPD lässt seinen Puls höher schlagen. „Es ist unglaublich, wie die hier abgehalftert werden“, ereifert er sich.
Auch 1982, bevor Helmut Schmidt im Oktober mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gestürzt wurde, ging es um große Themen: Nato-Doppelbeschluss, Haushaltsdefizit, Arbeitsmarktreformen. Gerade die Sozialpolitik der sozial-liberalen Koalition schnitt Kernfragen an, um die es Coppik damals und Barthel heute geht. Doch Coppik, der schon vor Helmut Schmidts Sturz die SPD verließ, wendet ein: „Wenn ich das jetzt in der Zeitung lese, da war das 1982 wesentlich humaner.“ Das ist erstaunlich – denn damals peitschte noch der knorrige Herbert Wehner der Fraktion Disziplin ein. Gegen ihn persönlich sei es jedoch nie gegangen, erinnert sich Coppik, auch wenn andere Abweichler wie Karl-Heinz Hansen, der aus der Partei flog, zuweilen anderes berichtet haben.
Sogar die berühmte Donnerszene in Wehners Büro sei reine Legende, sagt Coppik. Der Fraktionschef habe minutenlang eisig geschwiegen, dann leise vom langsamen Tod mancher Politiker gezischelt und schließlich getobt, wird berichtet. Coppik erinnert sich anders: „Wehner hat mich recht freundlich empfangen und sich meine Kritik angehört.“ Erst danach wehte ein leichter Eiswind: „Nach meiner Erfahrung – aber ich will meine nicht mit deiner im Konkurrenz setzen“, habe Wehner mit schneidender Stimme gesagt, „wird das Ende schauerlich sein.“
DPA
Sturz von Helmut Schmidt 1982: Im Umgangston humaner
Auch Barthel ist noch so loyal, seinen Fraktionschef zu verteidigen. Abgesehen von den Verbalattacken sei es nun mal Münteferings Aufgabe, für Disziplin zu sorgen: „Als Fraktionsvorsitzender würde ich genau so handeln.“ Barthel, der Postexperte der SPD, ist kein Aufrührer. Nur in kleinen Gesten sieht man den Druck dieser Tage, wenn er die Augen zusammenkneift und hinter der Kaffeetasse, die auf seinen Schreibtisch steht, zu versinken scheint. In seinem Büro jedenfalls knistert es. Mitarbeiter berichten von Anfeindungen anderer Angestellter in der Kantine. Es gab Tobsuchtsanfälle auf dem Flur. Die Angst vor dem Machtverlust hat auf die untere Ebene übergegriffen – hier herrscht die pure Angst, den Job zu verlieren.
Barthel zeigt diesen Druck nicht, sogar seine Mitarbeiter scheint er abzuschirmen. „Nicht Schröder oder Müntefering“ sagt er, „machen mir Angst, sondern die Frage: Wie weit kann ich gehen und was muss ich tun?“ Abends, vor dem Einschlafen, kommen dann plötzlich Zweifel, dass man einen Riesenfehler macht. Vorletzte Woche, nach der Abstimmung über die Gesundheitsreform, forderten einige ihn auf, das Mandat abzugeben: „Das war heftig, so was zu hören“, sagt er, „da herrschte Eiszeit.“ Doch schon im Nachsatz wird die Spaltung relativiert: „Das waren spontane Ausbrüche aus einer gewissen Sorge heraus.“ Nein, er würde nicht geschnitten. Nein, er habe keine Probleme, über den Flur zu gehen. Die Zweifel, so Barthel, gingen ja in der Fraktion über die sechs Parlamentarier hinaus. Die Anspannung sei enorm.
Die Angst geht um, dass Rot-Grün verschwindet
Spielt Barthel sich also als Sozialheld auf, wie Müntefering den SPD-Rebellen vorwirft? Bisweilen scheint der bayerische Abgeordnete aus dem Wahlkreis Starnberg dem Medienrummel selbst hinterher zu stolpern. Er zögert noch, das Podest zu mögen, auf das ihn die Medien gestellt haben. Er spricht von „medialer Inszenierung“ und wirkt sogar authentisch. Barthel wiegelt die Aufregung ab, weicht aus ins Grundsätzliche: „Was mich tief verunsichert, ist, dass ich immer mehr erlebe, wie sich die Leute aus der Politik ausklinken“, sagt er. Er wirkt nicht so abgebrüht, als dass solche Aussagen kalkuliert sind.
AP
Kanzler Gerhard Schröder, Fraktionschef Franz Müntefering: Angst vor Machtverlust
Bereits im Juni 2001 gehörte Barthel zu der Gruppe von SPD-Politikern, die sich gegen einen Bundeswehr-Einsatz in Mazedonien aussprachen. Doch sein Name fiel nur am Rande, um dann nach der Entscheidung in den Hinterbänken der SPD zu verschwinden. Im Frühjahr tauchte er im Schlepptau von Ottmar Schreiner wieder auf, als es um das Mitgliederbegehren gegen Schröders Agenda 2010 ging. Inzwischen droht der Kanzler beinahe jede Woche mit Rücktritt. Die Angst geht um, dass Rot-Grün insgesamt verschwinden wird: „Die Befürchtungen und Drohungen werden der Sache nicht gerecht“, sagt Barthel lapidar. Dann räumt er ein: „Das Thema beschäftigt mich rund um die Uhr.“
Die Angst vor dem Machtverlust, sie taucht immer wieder auf. Doch Barthels Vorgänger Coppik bezeichnet die scheinbar logische Verbindung zwischen Abweichlertum und Machtverlust als „absurd“. Coppik ist überzeugt: „Auch 1982 waren es nicht die Abweichler, sondern die falsche Politik, die uns in die Opposition befördert hat.“ Bis zum 17. Oktober hat Barthel Zeit, sich zu überlegen, ob er für oder gegen die Arbeitsmarktreformen stimmt. Spielraum für Verhandlungen, so der ungewollte Rebell, sei jedenfalls da: „Meine Tür ist und bleibt offen“. Und wenn er oder gar die Koalition scheitert? „Das ist Berufsrisiko“, sagt er tapfer, „Ich bin 1994 aufrecht gekommen und gehe aufrecht wieder raus – aber nicht freiwillig.“